von Polat Karaburan
Nicht wenige Beobachter politischer Entwicklungen in Deutschland und der Türkei diagnostizieren bereits seit Längerem, eine allgegenwärtige Dämonisierung Erdoğans und einseitiger Kampagnenjournalismus bewirkten eine Solidarisierung der Türken mit ihrem Präsidenten weit über die Anhängerschaft der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hinaus.
In der Tat ist über die politischen Lagergrenzen der Türkei hinweg im Laufe der letzten Jahre das Misstrauen gegenüber den politischen und medialen Meinungsführern der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland gestiegen. Insbesondere die etablierten politischen Parteien in Deutschland und die Leitmedien werden von vielen Türken als Instrumente einer „gelenkten Demokratie“ wahrgenommen, die bewusst darauf angelegt sei, bestimmte Einwanderergruppen zu stigmatisieren.
Den Schaden nehme am Ende die Demokratie selbst, die durch die selbsternannten deutschen Monopol-„Demokraten“ diskreditiert und unglaubwürdig gemacht werde. „Es gibt eine Verfassungswirklichkeit in Deutschland, die mit der Verfassung selbst nicht mehr viel zu tun hat“, erklärt beispielsweise der bayerische Landessprecher der neu gegründeten „Allianz Deutscher Demokraten“, Halil Ertem. „Wenn Menschen gleichsam zum Staatsfeind gestempelt werden, nur weil sie sich mit einem demokratisch gewählten Präsidenten solidarisieren und gegen einen Putsch aussprechen, der im Fall des Gelingens einen Flächenbrand bis nach Europa ausgelöst hätte, dann ist hier eine geistige Atmosphäre eingekehrt, die an die Endphase der DDR erinnert. Deutsche Medien sind ein Grund für Erdoğans Popularität unter Deutsch-Türken.“
In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von einem Reaktanz- bzw. Bumerangeffekt. Dieser zeigt sich zum einen häufig dann, wenn die Freiheitserwartung von Menschen dadurch eingeschränkt wird, dass ihnen eine Option, von der sie davon ausgingen, dass sie ihnen offen stehe, genommen wird oder diese Option als bedroht angesehen wird. Dies trifft vor allem dort auf die türkische Einwanderercommunity zu, wo politischer und medialer Druck auf Menschen entfaltet wird, die davon ausgehen, dass die verfassungsmäßig garantierte Meinungsfreiheit auch die Option umfasst, die Entwicklung der Türkei unter der Administration Erdoğan als ganz oder überwiegend positiv zu bewerten.
Tatsächlich jedoch ist es gleichbedeutend mit dem Verlust von Funktionen oder gar Ausschlussmaßnahmen, wenn beispielsweise ein deutschtürkisches Mitglied einer etablierten deutschen politischen Partei sich in dieser Weise äußert. Dies wird nicht nur als Wortbruch hinsichtlich des von der Politik gegebenen Versprechens von Meinungsvielfalt, sondern auch als unzulässige Freiheitseinschränkung wahrgenommen. Nicht wenige Türken meinen, in der allgegenwärtigen Kritik an Erdoğan und der Türkei in den Medien sogar den Ausdruck einer Strategie zu erkennen, um nicht vollständig assimilierte Türken aus dem Land zu mobben.
Zum anderen kann sich ein Reaktanz- oder Bumerangeffekt einstellen, wenn der Empfänger einer Botschaft den Eindruck gewinnt, vonseiten des Senders eindeutigen Beeinflussungsversuchen bezüglich der eigenen Meinungsbildung ausgesetzt zu sein. Besonders bei emotionalen Erscheinungsformen der Beeinflussung, verbunden mit Furchtappellen oder Schuldzuweisungen, ist dabei die Hervorrufung von Reaktanz sehr wahrscheinlich.
Nicht nur in der türkischen Einwanderercommunity ist die Meinung weit verbreitet, dass deutschsprachige Medien in besonders hohem Maße auf solche Beeinflussungsstrategien zurückgreifen. Dies zeigte sich nicht nur am Tenor der Berichterstattung zum Ukrainekonflikt, der von „Lügenpresse“-Vorwürfen und einem massiven Vertrauensverlust in die Medien begleitet wurde. Auch der Blick auf die Türkei in deutschen Medien wird bereits seit längerer Zeit in der türkischen Community in Deutschland als einseitig, propagandistisch, unausgewogen und parteiisch wahrgenommen.
Die wahrgenommene Einhelligkeit deutscher Medien in der kritischen Berichterstattung und Kommentierung von Ereignissen in der Türkei, wobei beide selten voneinander getrennt werden, ruft regelmäßig eine diametrale Abwehrreaktion innerhalb der türkischen Community hervor. Dass, wie Studien etwa der Bundeszentrale für politische Bildung zeigen, gleichzeitig auch eine weit überwiegend kritische Berichterstattung hinsichtlich des Islam als der Religion vorherrscht, die von den meisten türkischen Einwanderern praktiziert wird, dürfte die Neigung zur Reaktanz weiter verstärken.
Selbst vom Horizont des Erdoğan-Kritikers kann die Art und Weise, wie die Situation in der Türkei dargestellt wird, indessen nicht als rational erscheinen. Immerhin kann die Gegenreaktion, die mittels der als einengend oder übergriffig empfundenen Beeinflussungsversuche hervorgerufen wird, im Verlauf einer Diskussion sogar dazu führen, dass ein objektiv sachgerechtes und vernünftiges Argument die gegenteilige Position des Gesprächspartners noch verfestigt. Dies ist der Fachwelt zufolge vor allem dann der Fall, wenn diese Position im Wertesystem dessen, der beeinflusst werden soll, von zentraler Bedeutung ist. Bei zahlreichen Türken in Deutschland ist das der Fall. Bei den letzten Wahlen stimmten mindestens 60 Prozent der in Deutschland lebenden türkischen Wahlberechtigten für Erdoğan und die regierende AKP, sodass man objektiv davon ausgehen kann, dass deren politische Ausrichtung mit jener des Mainstreams innerhalb der türkischen Community überwiegend konform geht.
Die permanente Problematisierung dieser Ausrichtung, zusammen mit den Bestrebungen deutscher Politiker und Medien, die seit Jahrzehnten bestehenden türkischen Islamverbände in Deutschland zu Gunsten an der veröffentlichten Meinung in Deutschland ausgerichteter Vertreter eines „deutschen Islam“ auszubooten, lässt in vielen Türken den Eindruck entstehen, mächtige Akteure der deutschen Gesellschaft verfolgten das Ziel, sie „umerziehen“ und ihnen ihre Identität nehmen zu wollen. Die Folge ist eine demonstrative Betonung jener Wertvorstellungen, die vonseiten der öffentlichen Meinung kritisiert werden, etwa der religiösen und nationalistischen. Erdoğan zu verteidigen wird gleichbedeutend damit, seine eigene türkische Identität zu verteidigen – auch bei Türken, die dem Präsidenten politisch bisher nicht nahe standen.
Objektiv gesehen müssten gerade jene Journalisten, die sich selbst als Bannerträger der „Aufklärung“ und „Wissensgesellschaft“ definieren, sich darüber im Klaren sein, dass sie mit erkennbarem Kampagnenjournalismus das genaue Gegenteil ihrer Intention bewirken. Da Türken deutsche Informationsquellen immer stärker als einseitig und bevormundend wahrnehmen, greifen immer mehr von ihnen weiterhin verstärkt auf türkische Informationsquellen oder auf deutschsprachige Alternativmedien zurück, die speziell die türkische Community als Zielpublikum ansprechen.
Auch während der Veranstaltung in Köln bestätigten viele Teilnehmer den Eindruck, dass die politischen und medialen Eliten in Deutschland selbst die besten Sympathiewerber für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan darstellen. Einige Stimmen hat auch NEX24 im Laufe der letzten Tage am Rande der Kundgebung und in den Fußgängerzonen deutscher Städte eingefangen.
„Nicht die Türken sind hier das Problem, Deutschland hat ein Problem mit sich selbst. Jeder hier ist dankbar dafür, dass Deutschland vielen die Chance gegeben hat, etwas aus sich zu machen. Aber wir lassen uns auch nicht vorschreiben, wie wir zu denken haben. Wir lassen uns nicht diktieren, dass wir vergessen sollen, wo wir herkommen und wo unsere Wurzeln sind. Wofür denn auch? Die „Werte“, von denen diese Leute reden, sind die reinste Lachnummer. Wäre der Putsch gelungen, hätten sie am nächsten Tag von einer ‚Chance zu einer demokratischen Zukunft‘ geschrieben. Ich wette, ein paar Journalisten hatten ihre Leitartikel schon fertig, in denen sie den Putsch begrüßten“, so Hasan Yanar aus Duisburg
Murat Altinoluk aus Köln nimmt vor allem Anstoß an der Debatte rund um die Demonstration in der Domstadt, die am Sonntag stattfand: „Dieses unwürdige Spektakel mit Videowandverbot und dem Versuch, die Kundgebung selbst verbieten zu lassen, hat auch dem letzten gutgläubigen Türken gezeigt, dass die politische Klasse in Deutschland uns nur als Stimmvieh haben will, das brav sein Kreuz macht alle vier Jahre und dann wieder den Mund hält. So läuft es aber nicht mehr. Keine deutsche Partei ist mehr wählbar, und als erwachsener Mensch lasse ich mich nicht länger von Haustürken wie Cem Özdemir oder Lale Akgün behandeln wie ein Kind, das erst erzogen werden muss. Die Deutschen mögen ihre Politiker als Volkserzieher akzeptieren, ich tue das nicht.“
„Ich bin Kemalist und habe Erdoğan nicht gewählt, aber das türkische Volk hat ihn gewählt und deshalb ist er auch mein Präsident. Oder können die deutschen angeblichen Demokraten keine demokratische Entscheidung akzeptieren?“, fragt wiederum Ali Yildirim aus Castrop-Rauxel.
Tufan Sağlam, der extra aus Berlin angereist ist, betont: „Je mehr sie gegen Erdoğan hetzen, umso mehr unterstütze ich ihn. Selbst sind sie nicht in der Lage, ihre Einwanderer anständig zu behandeln, selbst halten sie sich an keine Zusagen, aber die Türkei und die Türken sollen springen, wenn sie rufen? Wäre hier ein Putsch, würde kein Mensch für diese Politiker auf die Straße gehen. In der Türkei haben die Menschen ihre Ordnung mit ihrem Leben verteidigt. Und hier? In Deutschland demonstriert man nur, wenn man weiß, dass man keinen Gegenwind bekommt. Zum Beispiel gegen 20 besoffene Nazis, gegen Atomkraft oder gegen das TTIP, wenn es die Medien vorher genehmigt haben, dass man dagegen sein darf. Die brauchen mir nichts zu erzählen von Demokratie. Und die brauchen auch nicht zu glauben, ich lass mich von diesen Maulhelden einschüchtern.“
Auch Bülent Ö. aus Neubeckum ist nach Köln gekommen und begründet dies wie folgt: „Ich bin heute hier, weil ich endlich unter Menschen sein möchte, die sich mit mir freuen können darüber, dass unser Land in Sicherheit ist, unsere Verwandten, unsere Städte und Dörfer. Hier in Deutschland habe ich das Gefühl, man empfindet mit den Terroristen und mit der Sekte mehr Mitgefühl als mit den unbewaffneten Menschen, auf die sie geschossen haben. Die haben vor lauter Ideologie ihr Hirn ausgeschaltet.“
Hatice K. aus München machte wiederum deutlich: „Ich hatte für dieses Wochenende eigentlich schon etwas anderes vor. Aber jetzt, wo Politiker und Medien so schön gehetzt haben, musste ich einfach die passende Antwort darauf geben. Man muss ihnen fast dankbar dafür sein, dass sie unser türkisches Volk mit ihrem Gehetze so stark zusammenrücken lassen, das hätte es sicher nicht gegeben, wenn sie fair über die Türkei oder über Erdoğan berichten würden.“
Aber auch immer mehr Deutschen scheinen eine einseitige und agitatorische Berichterstattung bezüglich des türkischen Präsidenten wahrzunehmen:
„Hallo Deutschland! Habt ihr uns Deutsche in der Türkei schon wie Stiefkinder verstoßen, nur weil wir uns von der deutschen Mainstreampresse hier in der Türkei nicht foppen oder manipulieren lassen? Oder was treibt alle Deutschen, die nicht in der Türkei leben, dazu, UNS, die wir vor Ort leben, ständig auch nur die kleinste Ahnung von dem abzusprechen, wie die Türkei wirklich ist?“, schreibt Marina Bütün in einem Kommentar zum Thema.
„Ich lebe in der Türkei. Wenn ich deutschsprachige Berichte über die Türkei lese, habe ich das Gefühl, dass ich mich gar nicht in der Türkei aufhalte, sondern auf der Schattenseite des Mondes“, kommentiert Mahira Hahn auf Facebook.
Gert Leubert fühlt sich teilweise ebenfalls wie im falschen Film: „Ich denke immer, ich bin alt genug und habe genügend Lebenserfahrung, um mir eine eigene Meinung zu bilden und auch kompromisslos dahinter zu stehen. Man muss nur vorurteilslos und mit offenen Augen durch das Land reisen, um zu sehen, welche Leistungen erbracht wurden seit der Zeit der AK Parti. In Deutschland herrscht ein ungesundes Vereinnahmungsdenken. Ein bestimmtes Milieu gibt in den Medien eine bestimmte Meinung oder Haltung vor und geht davon aus, dass andere Menschen von vornherein keine andere Meinung haben könnten, und wenn, dass diese dann aus unlauteren Motiven geäußert werden würde. Nun, ich kenne die Türkei schon zu gut und zu lange, um auf Einschätzungen von Leuten zu vertrauen, die ganz offenbar ihre vorgefertigten Meinungen verkaufen wollen. Ich besuche sehr oft die Türkei, nicht als Reisebüro-Tourist, sondern ich fahre sehr viel privat mit dem PKW durch dieses wunderbare Land.“
Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland, die traditionell als kemalistisch und säkularistisch gilt und politisch der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Türkei nahe steht, hat den Umgang in Politik und Medien mit der Anti-Putsch-Demonstration am Sonntag in Köln als völlig kontraproduktiv kritisiert. Es sei ein „Armutszeugnis“, wie viel Aufmerksamkeit der Demonstration im Vorfeld vonseiten der Medien und der Politik geschenkt worden wäre, erklärte der Sprecher der Gemeinde, Gökay Sofuoğlu, gegenüber der „Passauer Neuen Presse“. Erdoğan habe „sehr vielen Türken hier ein Gefühl der Ehre, des Stolzes gegeben“, sagte auch Sofuoğlu.
Für viele seien Ereignisse wie die Pro-Erdoğan-Kundgebungen auch Ventile für den Frust über Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Der Super-GAU in diesem Zusammenhang wäre die im Vorfeld der Kundgebung vom Wochenende geführte Diskussion übe ein mögliches Verbot der Veranstaltung gewesen. Diese Debatte liefere Erdoğan Anlass, über die Meinungsfreiheit in Deutschland zu lästern, ebenso wie die „populistische“ – und zudem schlichtweg verfassungswidrige – Forderung der CDU, Personen, die für Erdoğan und dessen AKP auf die Straße gehen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen. Stattdessen, so Sofuoğlu, sollte die deutsche Politik „mehr für die Integration und Partizipation tun, damit sich die Menschen mehr in den deutschen Parteien und Einrichtungen engagieren und nicht so stark nach Ankara blicken.“
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