Ankara (eurasia/nex) – Die Türkei fühlt sich von einer Vielzahl konventioneller Armeen bedroht und will als Reaktion darauf ein größeres Abschreckungspotenzial entwickeln. Diplomaten und Analysten betrachten Ankaras Ambitionen, offensive Raketensysteme zu entwickeln, hingegen mit Vorsicht.
„Es ist aus NATO-Perspektive rätselhaft, dass dieser Alliierte offensive Raketen-Fähigkeiten entwickeln will“, sagte ein NATO-Botschafter, dessen Name nicht genannt wurde, in Ankara gegenüber Defense News. „Die Türkei ist Teil des Sicherheitsschirms. Wir sind uns nicht sicher, ob etwaige türkische Anstrengungen, offensive Raketen in das Waffenarsenal aufzunehmen, strategischen Sinn machen, ungeachtet einer legitimen Wahrnehmung, dass militärische Gefahren in der Region steigen.“
Die Türkei sah sich in letzter Zeit mit konfessionellen Spannungen vonseiten schiitisch dominierter Staaten konfrontiert, vor allem des Iran, des Irak und der syrischen Regierung Baschar al-Assads. Ankara hingegen unterstützt in Syrien und immer stärker im Irak die mehrheitlich sunnitische Opposition.
Ankara hingegen unterstützt in Syrien und immer stärker im Irak die mehrheitlich sunnitische Opposition.
Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges im Jahr 2011 setzte sich die Türkei für den Sturz des syrischen Präsidenten al-Assad ein, dem sie vorwirft, einen blutigen Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu führen. Dieses Ziel hat die Türkei in zahlreiche Dispute mit al-Assad nahestehenden Regierungen – Bagdad und Teheran – geführt, die entlang ihrer südlichen und östlichen Grenzen situiert sind.
In den vergangenen Monaten gesellte sich schließlich neben dem Iran ein weiterer mächtiger Akteur auf die Seite al-Assads. Ende September begann Russland, die al-Assad-Regierung aktiv gegen oppositionelle Elemente militärisch zu unterstützen. Der Abschuss des russischen Bombers vom Typ Su-24 im türkisch-syrischen Grenzgebiet am 24. November durch die türkische Luftwaffe führte dazu, dass Russland begann, fokussiert türkische Interessen und militärische Ableger in Syrien anzugreifen. Zudem erließ Moskau eine Reihe moderater Wirtschaftssanktionen gegen Ankara.
Von nunmehr Russland, Iran, Irak und Syrien eingekreist, befürwortete der Vorsitzende des rüstungsindustriellen Beschaffungsamtes der Türkei, auch Unterstaatssekretariat für Rüstungsindustrie (SSM) genannt, Ismail Demir, die Anschaffung von offensiven Raketen, um das Abschreckungspotenzial der Türkei zu stärken. Demir erklärte:
„Es ist für ein Land schwierig, nur mit defensiven Raketen-Systemen abschreckend zu wirken. Das ist, warum auch offensive Raketensystem entwickelt werden sollten.“
Ein hochrangiger Beschaffungsbeamter bestätigte die Ambitionen der Türkei, offensive Raketensysteme zu bauen.
„Die politische Führung ist entschlossen bezüglich ihrer Entscheidung, wonach die Türkei solche Raketenfähigkeiten besitzen müsse. Wie, zu welchen Kosten und wie früh das umgesetzt wird, sind Fragen, die zu prüfen sind“, sagte die Quelle.
Er gestand, dass die Türkei in jedem Fall in den Anfangsstadien auf ausländisches Know-How setzen müsse. Der Beschaffungsbeamte nannte zwar keine möglichen Staaten, die bereit wären, die Türkei bei einem solchen Programm zu unterstützen, aber auch die „chinesische Option“ wies er nicht zurück.
„Die Idee ist, das System über die Jahre hinweg heimisch zu produzieren“, sagte der türkische Offizielle.
Im November vergangenen Jahres brach die Türkei einen 3,44 Milliarden US-Dollar schweren Vertrag, der bereits 2013 geschlossen wurde, mit dem chinesischen Rüstungshersteller CPMIEC über den Bau des ersten Langstrecken-Raketenabwehrsystems. Stattdessen erklärte Ankara, dass zwei türkische Hersteller Aselsan und Roketsan das „nationale“ Verteidigungssystem entwickeln werden.
Ein EU-Botschafter in Ankara gab an, dass der türkische Schritt hin zur Entwicklung eines offensiven Raketensystems bedenklich sei. Er sagte:
„Solche Ambitionen können die sektiererischen Spannungen in der Region weiter anheizen. Ein Rüstungswettlauf im Raketenbereich zwischen einem NATO-Staat und Iran klingt nicht angenehm, auf keinem Fall.“
In den letzten Jahren startete auch der Iran zahlreiche umstrittene Raketenprogramme.
Auch Experten sollen laut dem türkischen Rüstungsanalysten Burak Ege Bekdil die türkischen Ambitionen mit Skepsis betrachten.
Ein in London ansässiger Türkei-Spezialist kommentierte:
„Ballistische Raketen haben zahlreiche Nachteile, wie mangelnde Präzision. Sie können leicht abgefangen werden. Ihre limitierte Sprengkopflast ist ein weiteres Problem. Im Vergleich kann ein moderner Kampfjet vier- bis fünfmal mehr Bomben tragen und ist eine agile Bereicherung zur Luft für die Armee.“
Der Experte fügte hinzu, dass solche Raketensysteme oft von „Schurkenstaaten“ bevorzugt werden, da diese mit biologischen, chemischen oder nuklearen Sprengköpfen bestückt werden können.
„Die Türkei aber ist kein Schurkenstaat und es ist kurios, dass sie das Offensiv-System entwickeln will“, so der Türkei-Analyst.
Auch wenn Damaskus, Bagdad oder gegebenenfalls auch Teheran von den offensiven Raketenfähigkeiten der Türkei eingeschüchtert werden könnten, bleibt fragwürdig, ob Russland mit seiner breiten Raketenvielfalt und seinen tausenden Atomsprengköpfen von Ankaras System beeindruckt werden kann.
Dennoch darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Gefahr, regional eingekreist zu werden, nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die Umstände im Südosten der Türkei haben wird. Im mehrheitlich kurdisch bewohnten Südosten operiert die sogenannte „Kurdische Arbeiterpartei“, PKK, welche gegenwärtig von türkischen Sicherheitskräften zwar niedergeschlagen wird, aber langfristig eine sicherheitspolitische Herausforderung für Ankara bleibt.
Die syrischen Ableger der PKK, die PYD und ihr militärischer Arm, die YPG, sollen bereits rund um den nordwestlichen kurdischen Kanton Efrin kooperieren. Für die Türkei ergäbe sich bei einer Verhärtung gegenseitiger Feindseligkeiten die unpraktische Lage, dass regionale Widersacher versucht sein könnten, die Türkei im Kernland anzugreifen. Mittels offensiver Raketensystemen ergäbe sich zumindest die Option, den Gegner mittels eines weiteren Instruments zu zwingen, auf Abstand zu bleiben.
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