Erst mal lernst du die Sprache. Dass du dich verständigen kannst, auch wenn es akzentfrei ist, reicht nicht. Ist mir doch egal, ob du aufs Gymnasium gehst oder studierst oder ein Unternehmen mit 50 Mitarbeitern leitest. Du schluderst mit den Präpositionen und lässt die Konjunktive schleifen. Also reiß dich zusammen, das hier ist Deutschland und nicht das Pimmelland deiner Eltern.
Und? Kennst du das Grundgesetz? Schon mal in der Hand gehabt? Schon mal drin geblättert? Oder vielleicht sogar gelesen? Du musst es inhalieren, es schmecken, es fressen. Du musst eins sein mit dem Grundgesetz.
Dass in einigen Bundesländern Deutsche bis zu 30% eine Partei wählen, die das Grundgesetz ablehnt, tut nichts zur Sache. Hier geht es um deine Integration. Du darfst hier keine eigene Meinung haben, die vielleicht einfach nur scheiße ist. Die Deutschen dürfen das, sie sind einzeln als Individuen zu betrachten, du Türke aber nicht.
Iss Schwein! Mehr Schwein! Du musst dich mit Schwein vollstopfen. Gebraten, geschmort, gegart, gegrillt, gekocht, gedünstet, gepökelt. Schwein! Noch mehr Schwein! Nein, nix Gemüse dazu. Schwein! Nur Schwein!
Jetzt sag mindestens drei Gedichte von Goethe auf und stimme zwei Vokalkompositionen weltlicher Kantate von Bach an. Du sollst singen, du Sau! Ach, schaffst du nicht? Wo ist dein Erdogan jetzt, wenn du ihn mal brauchst?
Hast du alles? Wenn ja, dann lass ich mir noch paar Kunststückchen einfallen, die du vollführen musst, um als integriert zu gelten.
So hören sich die Integrationsdebatten immer für mich an
Zur Sache: Ich bin etwas länger hier in Deutschland und gehöre zur 2. Generation. Meine Eltern waren Arbeiter und wir Kinder haben irgendwie die Schule hinter uns gebracht und uns dann um einen Ausbildungsplatz bemüht. Dass ein Türke aufs Gymnasium ging und studiert hat, war zu der Zeit selten. Und wenn, dann haben wir sie bewundert.
In der Öffentlichkeit kamen Türken auch nur vereinzelt vor. Vielleicht mal eine Renan Demirkan, ein Öger oder ein Akif Pirinçci, der einen Weltbestseller schrieb, und das sogar auf Deutsch! Irgendwo war man auch ein wenig stolz. (Deswegen macht mich Pirinçcis späterer Werdegang umso trauriger). Oder wenn ein Bekannter ein kleines Unternehmen gründete. Das waren für uns Ausnahmen. Türken, die es in Deutschland geschafft haben.
Wenn ich mich heute umschaue.
Allein bei Facebook habe ich mindestens zehn türkischstämmige Freunde, die Schauspieler, Comedians oder Buchautoren sind und mit denen ich im ständigen Kontakt bin. Meine Neffen und Nichten studieren fast alle und bei den Kindern in meinem Bekanntenkreis sieht es ähnlich aus.
Es gibt zehntausende türkischstämmige Unternehmer. In meiner Umgebung sind es fast nur Türken, die sich unternehmerisch etwas trauen.
Während Deutschland sich regelmäßig mit Schaum vor dem Mund bei Integrationsdebatten verausgabt, irgendwo stehengeblieben zwischen einem Bild wie vor fünfzig Jahren, das sie von Türken haben und einem Kaya Yanar Sketch, gehen Türken ihren ganz normalen Weg.
Aus den Kindern der Gastarbeiter, die an Hochöfen oder bei der Müllabfuhr geschuftet haben, sind erfolgreiche Regisseure geworden, Unternehmer, Sportler, Vorstände bei Konzernen, Ärzte, Anwälte, Künstler, Ingenieure. Was früher selten war, ist heute ganz normal. Und ich bin immer noch auf jeden einzelnen stolz.
Dass die Türken diese ständigen Kampagnen gegen sich still ertragen und nicht auf die Barrikaden gehen, zeigt doch, wie integriert sie sind.
Deswegen finde ich die inzwischen tausendste Debatte darüber lächerlich. Dumme Kampagnen von Leuten, damit sie ihre Arbeit nicht machen müssen. Rechtsruck in Europa, Altersarmut, Klimawandel, in den Weltmeeren ist inzwischen mehr Plastikmüll als Fische? Scheiß drauf, der Türke hat sich immer noch nicht integriert, weil Özil macht Foto mit Erdogan. Damit ist Deutschland für einige Wochen beschäftigt und stellt solange keine blöden Fragen.
Sahin Karanlik
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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