Dortmund (nex) –Oliver Wittke war von 1999 bis 2004 Oberbürgermeister von Gelsenkirchen, von 2005 bis 2009 Minister für Bauen und Wohnen im Bundesland Nordrhein-Westfalen, von 2010 bis 2012 Generalsekretär der CDU NRW und sitzt seit 2013 für seine Partei im Bundestag. Mit Nachrichtenexpress sprach der Politiker unter anderem über die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Flüchtlingsdeal mit der Türkei und darüber, inwieweit die Union auch eine Partei für Muslime und türkische Einwanderer ist.
NEX24: Sehr geehrter Herr Wittke, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich im Rahmen ihres jüngsten Türkeibesuchs davon überzeugen können, dass die Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei gut versorgt werden. Gleichzeitig ist die Zahl illegaler Einreisen in den EU-Raum seit Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Türkei und der EU massiv gesunken – wie es die Gegner der offenen Flüchtlingspolitik ja eigentlich gewollt haben. Warum wird trotzdem noch allenthalben gegen die Kanzlerin und ihre Politik gewettert?
Wittke: Um ehrlich zu sein, fällt es mir auch schwer, diese Widerstände und deren Intensität zu verstehen, zumal sich das Abkommen ja offensichtlich als effektiv erwiesen hat und seine Ziele erreicht. Ich stand in dieser Frage hinter der Politik der Kanzlerin und daran hat sich nichts geändert.
Es gibt natürlich zahlreiche Ängste in der Bevölkerung. Die Menschen wollen wissen, was bedeutet das alles für unsere Wirtschaft oder für unsere Kultur. Die Ängste sind aber unbegründet. Wir konnten den verhältnismäßig großen Flüchtlingsansturm im Sommer des Vorjahres bewältigen und haben mit der Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei einen weiteren Schritt gesetzt, um dafür zu sorgen, dass Migrationsbewegungen, die unser Land betreffen, zu keiner Zeit unkontrolliert vonstattengehen.
Es ist aber wichtig, gegenüber den Menschen sachlich zu argumentieren. Die Vorstellung, man könne in Zeiten der Globalisierung einfach das eigene Land abschotten und Menschen an den Grenzen aufhalten, ist einfach nicht realistisch. Es müssen allerdings die Weichenstellungen, die man in der Außenpolitik setzt, mit jenen der Innenpolitik im Einklang sein.
NEX24: Offenbar erregen Vorstellungen wie jene, dass sich die EU finanziell an der Flüchtlingsbetreuung beteiligt, in ähnlicher Weise Ängste wie eine Beschleunigung der EU-Beitrittsverhandlungen. Wer hätte denn davon etwas zu befürchten? Und was wäre die Alternative?
Wittke: Ich höre mir gerne alle Ideen an, aber ich glaube nicht, dass es eine bessere Alternative zur derzeitigen Vorgehensweise gibt, zumindest keine, die realistisch und human ist. Die Flüchtlingspolitik muss allerdings innerhalb Europas und mit der Türkei abgestimmt sein und es muss auch eine faire Kostenbeteiligung geben. Gerade Polen als ein Land, in dem der Begriff „Solidarnosc“ einen besonderen Klang hat, sollte nachvollziehen können, dass auch jetzt Solidarität das Gebot der Stunde ist. „Schotten dicht“ ist nicht wünschenswert und nicht machbar, der Preis, den wir bezahlen würden, wäre die Infragestellung von Freiheit, Wohlstand und offener Gesellschaft.
Auch die Aufrechterhaltung der Beitrittsperspektive für die Türkei sehe ich als absolute Notwendigkeit. Die Türkei ist das einzige demokratische islamische Land.
NEX24: Bis zuletzt hatte es in Teilen der deutschen und auch der europäischen Politik Querschüsse gegen die Visafreiheit gegeben. Einerseits will man keine Flüchtlinge in Deutschland, türkische Touristen offenbar auch nicht. Wird diese wie geplant umgesetzt werden?
Wittke: Trotz vieler Diskussionen, die es zurzeit noch gibt, wird die Visafreiheit umgesetzt werden. Menschen in Not Hilfe zu verweigern, wäre unmenschlich. Und was die Visaregelung anbelangt, würden die Erleichterungen auch Impulse für die Türkei bringen.
NEX24: War die Relativierung vonseiten der Kanzlerin bezüglich ihrer Äußerung zum Böhmermann-Pamphlet gegenüber Premierminister Davutoğlu („bewusst verletzendes“ Gedicht) eine Verbeugung vor der Macht der Medien? Versuchen diese, eine mögliche Wiederwahl zu sabotieren?
Wittke: Die Kanzlerin hat einen Bruch in ihrer Argumentation erkannt. Es ging um die Bewertung, die vorweggenommen wurde. Sie kam zu der Auffassung, dass sie die Position der Privatperson Angela Merkel von der der Kanzlerin besser trennen hätte können.
NEX24: Während der Tatbestand der Beleidigung von Staatsoberhäuptern fremder Staaten abgeschafft werden soll, soll der eigene Bundespräsident tabu bleiben. Gibt es dafür eine sachliche Rechtfertigung oder will sich die Regierung bloß hinsichtlich der Frage nach einer Ermächtigung zur Strafverfolgung selbst aus der Schusslinie bringen?
Wittke: Über diese Fragen wird noch diskutiert werden müssen. Es sollte kein Eindruck erweckt werden, inkonsequent zu sein und mit zweierlei Maß zu messen.
NEX24: Vor zwei Jahren war der russische Präsident Putin noch das einigende Feindbild jener Medien, die jetzt 24/7 gegen die Türkei und ihren Präsidenten agitieren. Ist Kampagnenjournalismus konsensfähiger, wenn es gegen Muslime geht?
Wittke: Es wird jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Verantwortungsvolle Politiker sollten diesen Trend nicht auch noch verstärken.
NEX24: Die AfD scheint den Islamhass für eine lohnende politische Investition zu halten. Immerhin will sie die Forderung nach gezielter Ungleichbehandlung von Muslimen und gesetzgeberischen Schikanen gegen Muslime zu einem zentralen Programmpunkt machen. Ist der Hass gegen Türken und Muslime zu einer Art „erlaubtem Rassismus“ geworden?
Wittke: Nein, so etwas wird es nicht geben. Auch die Kirchen haben da erfreulicherweise sehr deutlich Position bezogen und verwahren sich solchen Ambitionen. Es gilt einmal mehr der Grundsatz: Wehret den Anfängen! Und Kardinal Woelki hat mit seiner Einschätzung völlig Recht: Wer Minarette verbietet, verbietet irgendwann auch Kirchen.
NEX24: Der nunmehrige AKP-Abgeordnete im türkischen Parlament Mustafa Yeneroğlu hat gesagt, er hätte sich für eine politische Karriere in der Türkei entschieden, weil man als türkischer Einwanderer in deutschen Parteien nur dann akzeptiert wird, wenn man einen bestimmten, tendenziösen Blick auf die Türkei und den Islam aufweist. Wie gläubig und wie heimatverbunden darf ein türkischer Einwanderer sein, damit er in der CDU Platz hat?
Wittke: Es gibt viele türkischstämmige CDU-Abgeordnete, auf die das nicht zutrifft. Diese arbeiten in Parlamenten auf allen Ebenen für Deutschland. Türkischstämmige Bürger und gläubige Muslime sind in der CDU höchst willkommen.
NEX24: Herr Wittke, wir bedanken uns für das Gespräch