Start Gastbeiträge Religion Der Koran – und das Verständnis

Religion
Der Koran – und das Verständnis

Thomas: "Der Koran hat keinen definierten Beginn eines Handlungsfadens, einer geschichtlichen Abfolge im Sinne einer Chronologie und ist demzufolge auch keinesfalls wie eine Handlungs- geschweige denn Gebrauchsanleitung zu lesen."

(Symbolfoto: pixa)
Teilen

ein Gastbeitrag von Michael Thomas

Vor mehr als zwanzig Jahren fand ich mich plötzlich in der Situation, mir nach Möglichkeit ein umfassendes Verständnis vom Koran anzueignen. Nachdem ein damals wiederum viele Jahre zurückliegender Versuch, die Schrift zu lesen, kläglich gescheitert war, suchte ich einen anderen, neuen, funktionierenden Zugang. Eine überaus gebildete Schwester sprach eine Buchempfehlung als begleitende, zu Beginn einführende Lektüre aus, schenkte mir eine Übersetzung und versorgte mich mit Informationen, Tips und Ratschlägen.

Also ging ich gewissermaßen in Klausur. Besondere, glückliche Umstände ließen sie mich in überaus angenehmer Atmosphäre in Ägypten verleben. Innerhalb von zwei Wochen hatte ich das einführende Buch und den Koran gelesen.

Bis heute würde ich diese Strategie immer jedem empfehlen, der sich mit dem Koran in der Tiefe befassen und ein umfassendes Verständnis entwickeln will – oder muss. Ich gebe zu, es ist anstrengend. Diese Strategie lässt nur kurze Lesepausen und sonstige Unterbrechungen zu; ich will erklären, weshalb dem so ist.

Dem Nichtmuslimen und dem Muslimen, der sich vielleicht mit der Intonation des Korans in seiner originalen, arabischen Sprache, aber nur marginal mit seinem eigentlichen Text befasst hat, ist dessen „Zusammensetzung“ und „Funktion“ wahrscheinlich nicht ganz klar.

Die Schrift liest sich aufgrund ihres Aufbaus und der Anordnung seiner Texte, seiner Suren und Verse, der Ayat, keineswegs wie ein fließendes, womöglich sogar chronologischer Text. Das macht das unvorbereitete Lesen nicht nur verwirrend. Es scheint auf den ersten Blick tatsächlich keine vernünftige Aufeinanderfolge der Suren zu geben, man gewinnt den Eindruck, dass der Gedanke beinahe willkürlich von einem Punkt zu einem völlig anderen springt.

Ohne in allzu detaillierte, wissenschaftliche Spezifika abzutauchen und Nichtmuslime vielleicht damit noch viel mehr zu verwirren, muss man ein völlig anderes Verständnis entwickeln, mit dem der Koran zu lesen ist.

Nichtmuslimen versuche ich die Schrift immer salopp und mit modernen, allgemeinverständlichen Ideen zu charakterisieren. Ich nenne sie eine „nicht hoch, sondern höchstgepackte, komprimierte Datei“, die beim „Entpacken“, also kundigem Lesen, regelrecht in ihrem Volumen explodiert. Man bemerkt, und gerade deshalb ist es wichtig, möglichst ohne Lesepausen vorzugehen, dass alle Verse des Koran ineinandergreifen und keiner von ihnen ohne jeden anderen Bestand haben kann.

Im Gegenteil berührt jeder Vers grundsätzlich immer eine extrem hohe Anzahl ganz anderer Verse, die beim isolierten Lesen scheinbar einen ganz anderen Gedanken verfolgen. Um diese Erkenntnis möglich zu machen, denke ich oft, scheint absichtsvoll keine Sure thematisch in ihre nachfolgende oder vorangegangene zu greifen.

Das menschliche Gedächtnis ist unzuverlässig und lückenhaft; deshalb erzielt man in der Gewinnung dieser Zusammenhänge den größten Erfolg, wenn man die Schrift möglichst in einem Zuge zu lesen versucht. Denn erst dann begreift man, dass die Suren und Verse, die sich beispielsweise scheinbar gegen Juden richten, nur wirklich verstanden werden können, wenn man möglichst viele aller anderen im Hinterkopf hat, die eben diesen Gedanken nicht nur relativieren, sondern in grundsätzlich anderem Licht vervollständigen und ihnen Hintergrund verleihen.

Nein, ich laufe hier nicht Gefahr, konkrete Suren und ihre Bezüge isoliert darzulegen – und auch das hat seinen Grund, der nicht ausschließlich nur im Vorgenannten zu finden ist. Mit dem Koran und dem weit verbreiteten Unwissen in dessen Umfeld ist bereits viel Missbrauch getrieben worden. Nicht wirklich viele Menschen, leider auch nicht wirklich viele Muslime, haben beispielsweise mitverfolgt, wie islamische Gelehrte mit dem Unwesen des „Islamischen Staates“ umgegangen sind.

Denn die altehrwürdige und im Islam hochgeschätzte und überaus kompetente Moschee Al-Azhar in Kairo berief damals eine Komission hoch- und höchstrangiger, islamischer Gelehrter zu einer Konferenz ein. Über hundert Gelehrte traten in Kairo zusammen und entwickelten eine „Entgegnung“, die sich unmittelbar an den selbstbehaupteten „Kalifen“ des „Islamischen Staates“ richtete. In vollendet nüchternem und objektivem Stil argumentierte die Konferenz gegen allerlei bizarre, seltsame, befremdliche und schlicht falsche Behauptungen des „Kalifen“, was angeblich Islam sei und benötigte dafür nichts mehr als nur den Koran. Und zwar zur Gänze.

Die Strategie des „Kalifen“ nutzte das Halb- oder gar Unwissen der Menschen über das Wesen des Koran und dessen Inhalt geradezu schamlos und absichtsvoll für seine niederen Zwecke aus. Er setzte darauf, scheinbar eindeutig wirkende Suren aus dem Gesamtwerk herauszureißen und ihnen eine ebenso falsche wie niederträchtige Bedeutung zuzuschreiben. Und da sind wir bei dem Tatbestand des „Auseinanderreißens“. Muslimen wird es allgemein nicht empfohlen, dem Koran einzelne Suren zu entnehmen um damit ein Problem, einen Tatbestand zu erklären. Der Grund liegt im Vorgenannten; keine Sure hat alleingültigen Bestand und kann ohne die Gesamtheit aller anderen betrachtet werden.

Um dies deutlich zu machen, greife ich immer zu einer prägnanten Analogie: nehmen wir an, ein Professor stellt in einem Hörsaal Menschen, die noch nie einen Gorilla gesehen haben, diesen anhand eines einzelnen Armes und eines Zahnes vor. Er deutet auf die immensen Muskeln und die starken Finger und erklärt, dass diese für den Fang und dem Töten von Beute so stark entwickelt seien. Zum Beweis zeigt er einen Zahn, der lang und spitz ist.

Er legt den Hörern auseinander, dass der Gorilla überaus heimtückisch vorgeht und seine Beute, gleich, wie groß diese sei, mit großer Grausamkeit zerfleischt und zerreisst, weil er sich angeblich von nichts anderem ernähren würde als Fleisch.

Genau so ist der „Kalif“ des „Islamischen Staates“ vorgegangen. Er stellte seinen Anhängern anhand herausgerissener Textfetzen ein entsetzliches Zerrbild des Islam vor.

Erst die Gesamtheit der Offenbarung zeigt Islam; der Glaube besteht nicht aus einer Aneinanderreihung isolierter Stückchen, sondern ist ein überaus dicht gewebtes, kompaktes und inhaltsvolles Gesamtwerk. Die Aufgabe, all diese Verbindungen untereinander aufzufinden und für sich zu erkennen, benötigt weit mehr als nur ein kleines Menschenleben, denn die Fülle aller Inhalte direkter und indirekter Natur ist überwältigend.

Nicht umsonst forschten bisher Tausende Menschen über Jahrhunderte daran und füllten zusammen Regalwände über viele Kilometer mit ihren Erkenntnissen und Entdeckungen. Ein Muslim, der sich mit der Schrift in gebührender Art befasst hat, erlangt in seinen Lebenssituationen Sicherheit und Souveränität. Es wird nicht möglich sein, ihn in Extreme zu verführen oder Dinge vollziehen zu lassen, die dem Geist der Schrift letztlich genau entgegenwirken.

Es ist exakt diese Komplexität eines unvorstellbaren Räderwerks, die den Islam sagen lassen können: „Wer immer denkt, die Schrift sei menschengemacht, der komme und verfasse doch eine Sure!“ – denn das ist völlig unmöglich. Kein Mensch wäre in der Lage dazu, eine Sure zu verfassen, die in dieses Räderwerk eingepasst werden und „funktionieren“ könnte.

Wenn wir um all diese Gedanken, Erkenntnisse und Ideen rund um den Koran wissen, können wir auch verstehen, weshalb der Koran nicht „arbeitet“ wie ein gewöhnliches Buch und warum die Schrift mit anderen Werken wie etwa der Bibel nicht zu vergleichen ist.

Der Koran hat keinen definierten Beginn eines Handlungsfadens, einer geschichtlichen Abfolge im Sinne einer Chronologie und ist demzufolge auch keinesfalls wie eine Handlungs- geschweige denn Gebrauchsanleitung zu lesen. Nur die gesamtheitliche Lektüre nebst flankierenden Informationen im Vorfeld erschließen das Werk – und befähigen den Muslim, im Sinne des Islam zu leben, zu fühlen, zu denken und zu handeln.

Es genügt nicht, die arabische Aussprache des Koran zu erlernen, um ihn korrekt intonieren zu können. Ein weiser Imam prägte einmal folgendes Gleichnis: vor langer Zeit war ein Kalif von der Frömmigkeit von einem seiner Diener überaus beeindruckt. Denn dieser kniete beständig vor seinem Thron und sang eine Abfolge von Lobpreisungen, Ehrungen und Schmeicheleien. Sein zweiter Diener ärgerte ihn oft. Manchmal sah er ihn in schlampiger Kleidung und erwischte ihn manchmal beim Stehlen.

Eines Tages unterbrach der Kalif seinen frommen Diener und sagte: „Ich habe Durst.“, doch der Diener hielt nur kurz inne und fuhr dann einfach mit seinen Gesängen zum Lobpreis fort. Der Kalif stutzte, blickte seinen frommen Diener an und wiederholte: „Ich habe Durst.“, doch der tat so, als höre er nichts und sang weiter. Da schlurfte der zweite Diener zufällig an der Türe vorbei, hörte seinen Herrn, eilte in die Küche, füllte einen Kelch mit Wasser und reichte ihn dem Kalifen – wer war der bessere Diener?

Der Leser, der es bis hierhin geschafft hat, möge mir verzeihen, wenn ich ohne konkrete Beispiele und Zitate aus dem Koran geschrieben habe – aber er erkennt zweifelsfrei aus dem Vorstehenden, warum dies so geschehen musste. Er wird aber sicherlich verstanden haben, was den Koran besonders macht, welches Staunen seine Lektüre auslöst und welches Wunderwerk er darstellt.

Nicht umsonst befassten sich außerhalb der muslimischen Gemeinschaft hohe Geister wie etwa Goethe so intensiv mit dem Werk, dass sie große Teile des Inhalts in ihr Leben übernahmen und zum Staunen aller offen vertraten.

Zeugen, die Goethe in seiner letzten Lebensstunde an seinem Sterbebett begleiteten, bemerkten, dass er, zum Sprechen bereits nicht mehr fähig, mit einem Finger ein großes „W“ in die Luft zeichnete. Sie machten sich keinen Reim darauf – aber Muslime verstehen es sofort: das, was im Deutschen wie ein „W“ aussieht, ist die arabische Wendung für Allah….

Zum Schluss empfehle ich noch ein spezielles Buch, dessen Genuss jedem Nichtmuslim die Lektüre des Korans ermöglicht und bereichert. Es heißt „Al-Aqida“ von Amir M. A. Zaidan und bezieht sich eigentlich auf die Glaubenslehre des Islam schlechthin, berührt und erläutert jedoch die Zusammensetzung des Korans mit vielen tiefergehenden Erläuterungen.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


Zum Autor 
Michael Thomas ist Privatier, Fotograf, leidenschaftlich an Ägyptologie und Literatur interessiert, mit der er vor vielen Jahren als Autor regional einige Beachtung fand. Er verfolgt interessiert das Weltgeschehen durch Beobachtung internationaler Presse. Seinen Fokus legt er insbesondere auf die Palästinafrage und auf die islamische Welt.

 


Auch Interessant

– Islam –
Prominenter US-Priester zum Islam konvertiert

Hilarion Heagy bezeichnete seine Entscheidung als „Umkehr zum Islam“ und sagte, es sei „wie eine Heimkehr“.

Prominenter US-Priester zum Islam konvertiert