Ein Gastbeitrag von Asif Masimov – Doktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin
Ein Krieg bzw. Konflikt zwischen Nachbarn, Nationen oder überhaupt Menschen ist immer tragisch. In einem Krieg gibt es keine Gewinner. Jede Seite verliert etwas.
In Bezug auf den Bergkarabachkonflikt gibt es auf beiden Seiten zwei ziemlich kontroverse Vorstellungen, die man ausdiskutieren sollte. Ich bin inzwischen vorbelastet und es leid, immer selektive Darstellungen des Konflikts seitens der deutschen Medien zu lesen.
Die Region Bergkarabach im Kontext der Weltordnung
Beginnen wir zuerst einmal damit, die Weltordnungen der Internationalen Beziehungen zu klären. Diese waren: Westfälisches System (1648), Pentarchie (1815), Versailles-Washington-System (1918), das System der Internationalen Beziehungen von Jalta und Potsdam (1945). Vereinzelt wird noch eine weitere neue Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges erwähnt (1991).
Wichtig ist bei diesen Weltordnungen anzusprechen, dass die ersten kaukasischen Republiken ihre Unabhängigkeit erst im Mai 1918 erlangt haben (Georgien am 26. Mai 1918 und Armenien sowie Aserbaidschan am 28. Mai 1918). Davor gab es keine Nationalstaaten namens „Armenien“, „Aserbaidschan“ oder „Georgien“. Die Annektierung dieser drei Kaukasusrepubliken seitens der Rotarmisten war ein neues Kapitel in deren Geschichte. Alle Völker wurden auf einmal „Brüder“ und die „Freundschaft der Völker“ schien funktionsfähig zu sein, bis die Armenier bereits in den 60er Jahren ihre Ansprüche auf Bergkarabach und Nachitschewan gegenüber dem sowjetischen Aserbaidschan erhoben.
Wenn wir nun die Region Bergkarabach innerhalb der kaukasischen Nationalstaaten betrachten, war dieses Gebiet nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ein Teil Aserbaidschans. Die Versuche der armenischen Seite mit allen möglichen Mitteln den Separatismus zu rechtfertigen, verstößt fortwährend gegen das internationale Völkerrecht.
Der armenischen Argumentation zufolge „[haben] Sowjetrepubliken […] deren Unabhängigkeit erlangt, dieses Recht hat auch Bergkarabach in Anspruch genommen“.[1]
Das Völkerrecht hilft uns dennoch die Problematik besser zu verstehen. 1977 wurde die letzte Verfassung[2] der Sowjetunion mit ihren Änderungen angenommen. Uns interessieren in diesem Zusammenhang vor allem Artikel 72 und 86, die unmittelbar Bergkarabach betreffen könnten. Laut Artikel 72 durften sich die Unionsrepubliken von der Sowjetunion abspalten – nur (!) die Unionsrepubliken. Bergkarabach galt damals aber nur als ein autonomes Gebiet. Der zweite Artikel 86 bekräftigte, dass die territoriale Abänderung der Unionsrepubliken ohne deren Zustimmung nicht umformiert werden durfte.[3]
Die Argumentation von armenischer Seite geht weiter: Die Bergkarabach-Armenier haben als Volk das Recht auf Selbstbestimmung. Es gibt aber kein Volk, welches den Namen „Bergkarabach-Armenier“ trägt. Das Volk von Bergkarabach besteht sowohl aus Armeniern als auch aus Aserbaidschanern und weiteren Minderheiten. Es gibt eine Nation von Armeniern, deren Mehrheit bereits das Recht auf Selbstbestimmung in Armenien wahrnimmt. Das Selbstbestimmungsrecht ist darüber hinaus der territorialen Integrität eines Staates untergeordnet. Dieser Punkt wurde auch in der Helsinki Schlussakte berücksichtigt.[4] Man kann die Grenzen nicht einfach willkürlich ziehen, einen Teil der Bevölkerung vertreiben und die Gegenseite vor diese Tatsache stellen. Als Mitglieder der Vereinten Nationen (VN) müssen beide Seiten das Völkerrecht respektieren und dementsprechend deren Politik ausrichten. Sonst hätten die VN die vier Resolutionen in Bezug auf den Bergkarabachkonflikt nicht verabschiedet, die den bedingungslosen Rückzug der armenischen Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten sowie die Rückkehr der aserbaidschanischen Binnenvertriebenen fordern.[5]
Zahlen und Fakten
Viele deutsche Journalisten versuchen, die nationale Zusammensetzung in Bergkarabach im 20. Jahrhundert zu vergleichen. Darin besteht prinzipiell kein Problem. Wir erhalten so jedoch mehrheitlich die Information, dass die Zahl der Armenier in der Region Bergkarabach überwiegt.
Nach der Eroberung von Transkaukasien durch das zaristische Reich und der Unterzeichnung des Vertrages von Tjurkmenčaj im Jahr 1828 wurde die Zahl bereits in den 30er Jahren drastisch erhöht. Nach dem Erlass des russischen Zaren Nikolaj I. wurde an der Stelle des Khanats Jerewan und Nachitschewan ein „Armenisches Gebiet“ (Armjanskaja Oblast‘) gegründet.
Daraufhin wurden die Armenier systematisch aus den unterschiedlichen Gebieten des Osmanischen und Persischen Reiches angesiedelt, um die neu eroberten Gebiete zu christianisieren. Bis zur Ansiedlung der Armenier lag die nationale Zusammensetzung in dem ehemaligen Khanat Jerewan bei ca. 50.000 Muslimen und 20.000 Armeniern; in Nachitschewan bei 17.000 Muslimen und 2.700 Armeniern.[6]
Insgesamt weisen die Quellen darauf hin, dass aus dem Persischen Reich nur zwischen 1828 und 1830 rund 40.000 und aus dem Osmanischen Reich etwa 84.000 Armenier im heutigen Armenien sowie in Bergkarabach angesiedelt wurden.[7] Die Armenisierung der Region wurde noch in den Folgejahren durch das zaristische Russland fortgesetzt. Nun soll eben diese Information Stoff für die deutschen Journalisten sein, die weiter diesbezüglich Recherche betreiben.
Ein äußerst beliebtes Argument der Armenier in Bezug auf Bergkarabach ist, dass dieses Gebiet Aserbaidschan von Stalin zugeteilt wurde. Einige Publizisten verweisen ohne konkrete Prüfung bzw. Belege auf diese armenische Argumentation. Nun gibt es auch hier Klärungsbedarf: Am 5. Juli 1921 fand die Tagung des Kaukasischen Büros (Kavbüro) statt. Dort wurde entschieden, die Lage Bergkarabachs innerhalb Aserbaidschans beizubehalten. Dies geschah auf der Grundlage des Friedens zwischen Muslimen und Christen in Bergkarabach und der ökonomischen Verbindung zwischen dem bergigen und niedrigen Karabach, seiner ständigen Verbindung mit Aserbaidschan. Bergkarabach sollte eine breite Autonomie mit dem Zentrum in der Stadt ŞuŞa (Schuscha) gegeben werden. Vier der Tagungsteilnehmer entschieden sich für diese Vorgehensweise, drei Teilnehmer stimmten enthalten.[8] Es handelte sich also nicht um eine willkürliche Entscheidung Stalins.
Durch die aufgeführten Schwerpunkte wird deutlich, dass bei dieser Tagung überhaupt nicht diskutiert wurde, ob Bergkarabach Aserbaidschan zugeteilt werden muss. Dennoch findet man diesen Streitpunkt während der Tagung vom 4. Juli 1921 für Armenien.
Täter-Opfer-Ausgleich
Die armenische Seite wirft der aserbaidschanischen Seite die Pogrome in Baku und Sumgait (Sumqayıt) vor, sowie die Ereignisse im Jahr 1918. Anhand der historischen Dokumente kann man diesbezüglich einige aufklärende Informationen ans Licht bringen. Im März/April 1918 wurden in mehreren Städten Aserbaidschans Muslime und Bergjuden durch die armenischen Daschnaken und Bolschewiki massenhaft massakriert, was in diesem Ausmaß sogar als Völkermord bezeichnet werden kann. Im September 1918 kam es bei der Befreiung Bakus von den Daschnaken und Bolschewiki seitens der kaukasisch-islamischen Truppen zu gegenseitigen Gefechten und verheerenden Massakern.
Die Pogrome in Sumgait sowie in Baku wurden bereits aufgearbeitet. Dabei wurde festgestellt, dass bei diesen Ereignissen tatsächlich zahlreiche Armenier umgebracht wurden. Es wurden dennoch nicht nur Armenier, sondern auch Aserbaidschaner getötet. Während des Pogroms in Sumgait kamen 26 Armenier und 6 Aserbaidschaner ums Leben. Besonders auffallend dabei: Unter den Tätern befand sich ein Armenier namens Eduard Grigorjan. Er leitete unmittelbar die gewaltsamen Aktionen gegen die armenischen Einwohner von Sumgait. Die darauffolgenden Gerichtsprozesse mit den Hauptangeklagten und den armenischen Opfern fanden überwiegend in Moskau statt. Fast alle armenischen Betroffenen konnten dabei Grigorjan als Haupttäter identifizieren. Seinen Namen versucht die armenische Seite jedoch mit allen Mitteln auszublenden.
Nun stellt sich die Frage: Wieso sollten die Gräueltaten von Sumgait nicht mit den Ereignissen von Chodschali verglichen werden? Weil einige Täter von Sumgait konsequenterweise in Moskau hingerichtet wurden. Es gab einen Gerichtsprozess. Des Weiteren waren damals Armenien und Aserbaidschan immer noch Teile der sowjetischen Republik. Im Falle von Chodschali haben wir die Täter, die hunderte (!) Zivilisten massakriert haben, inzwischen in höhere Ämter in der unabhängigen Republik Armenien eingesetzt. Sie befinden sich weiterhin auf freiem Fuß.
Natürlich bin ich als empathischer Mensch traurig über jeden Tod bzw. Mord, auch eines Armeniers. Ich mache hier keine Abstriche. Wir sollen unsere Fehler akzeptieren. Doch die Armenier müssen sich für den Völkermord in Chodschali entschuldigen. Die Aserbaidschaner sollen den Angehörigen der armenischen Opfer ebenfalls ihr Beileid aussprechen.
Ich kann jedoch an dieser Stelle die Tatsache nicht unausgesprochen lassen, dass auf der armenischen Seite ebenfalls Pogrome gegen Aserbaidschaner stattfanden. Die armenische Journalistin Mane Papjan hat diesbezüglich sehr interessante Fakten enthüllt. Sie fand heraus, dass in den armenischen Gebieten Kapan und Gugark in denen Aserbaidschaner auf engstem Raum lebten, Pogrome seitens der benachbarten Armenier stattfanden.
Im Jahr 1988 wurden in der Stadt Wanadsor (in der Sowjetzeit Kirowakan) beispielsweise sieben Aserbaidschaner umgebracht. Daraufhin wurden weitere aserbaidschanische Familien überfallen, mit der Forderung, die Häuser zu verlassen. In einer weiteren armenischen Stadt, in Gugark, wurden im November 1988 mindestens elf Aserbaidschaner ermordet. Des Weiteren gab es vermehrt armenische Banden, die Aserbaidschaner verfolgt und zur Flucht gezwungen haben. Den russischen Original-Artikel der armenischen Journalistin Mane Papjan kann man im Internet lesen und sich so ein eigenes Bild von den damaligen Zuständen verschaffen.[10]
Wenn wir vom Pogrom in Sumgait sprechen, vergessen viele, dass diesem Ereignis noch die Deportation von Aserbaidschanern im Jahr 1987 folgte. Thomas De Waal schreibt in seinem Buch „Black Garden“, dass bereits im November 1987 zwei Güterwagen mit Aserbaidschanern nach Baku kamen, die aus der armenischen Stadt Kapan vertrieben wurden. Leider wurden diese Ereignisse sowohl in Armenien als auch in der gesamten Sowjetunion nicht medial begleitet.[11]
Sveta Pašaeva, eine Armenierin, erinnert sich an diese Ereignisse:
„Es wurde gesagt, dass zwei Güterwagen mit nackten und entkleideten Kindern aus Kapan ankamen. Wir gingen hin, um das anzuschauen. Das waren Aserbaidschaner aus Kapan. Ich war am Hauptbahnhof. Ich sah selbst mit eigenen Augen diese zwei Güterwagen. Die Türen waren auf und zwei lange Bretter wurden an die Wand genagelt, damit unterwegs keine Menschen aus dem Wagen fallen konnten. Wir wurden gebeten, für die Flüchtlinge etwas zur Unterstützung zu bringen. Ich, und nicht nur ich, auch viele andere haben für die Kinder alte Kleider gesammelt. Dort waren schmutzige Bauernmänner mit langen Haaren und Bärten, Betagte und Kinder.“ [12]
Da ich bereits die Vertreibung der Aserbaidschaner aus Armenien angesprochen habe, möchte ich hier noch einmal darauf verweisen, dass die Deportation der Aserbaidschaner aus Armenien nicht nur am Ende der 80er Jahre stattfand, sondern dass es auch zwischen 1948 und 1953 ein Programm der Sowjetunion gab, infolgedessen tausende Aserbaidschaner gezwungen wurden, deren Heimat (Armenien) zu verlassen – alles mit dem Ziel, die Armenier aus dem Ausland einzuladen bzw. anzusiedeln. Armenier, die aus Syrien, dem Iran und dem Irak nach Armenien kamen, zogen in die Häuser der Aserbaidschaner ein.
Die Aserbaidschaner waren hingegen gezwungen, die klimatisch ungünstigeren Territorien Aserbaidschans zu besiedeln. In den offiziellen Dokumenten wurde die Vorgehensweise als „Erlass über die Umsiedlung von Genossenschaftsbauern und der weiteren aserbaidschanischen Bevölkerung aus der armenischen SSR in die Kura-Aras-Niederung der Aserbaidschanischen SSR“[13] betitelt, was eigentlich nicht stimmte, weil die Umsiedlung zwangsläufig stattfand und der Begriff „Deportation“ in diesem Fall naheliegend ist.
An dieser Stelle möchte ich wieder darauf bestehen, dass der erste Schritt zu einer friedlichen Einigung von Armenien gemacht werden sollte! Solange sich die armenischen Truppen auf dem aserbaidschanischen Territorium befinden, solange die aserbaidschanischen Binnenvertriebenen nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren können und solange die Weltgemeinschaft und die Medien diese Problematik mit zweierlei Maß messen, werden wir in unserer Region keinen Frieden haben. Die Generationen, ob jung oder alt, bleiben so weiterhin verfeindet, wenn der erste Schritt einer Annäherung durch Armenien nicht bald getätigt wird.
[1]https://www.primeminister.am/en/press-release/item/2019/11/12/Nikol-Pashinyan-Speech-Peace-Conference/(Letzter Zugriff am 06.03.2020).
[2]Konstitucija (Osnovnoj zakon) Sojuza Sovetskich Socialističeskich respublik, 7. Oktober 1977, Im Internet (http://doc.histrf.ru/20/konstitutsiya-sssr-1977-goda/, letzter Zugriff am 07.03.2020).
[3]Vgl. Krüger, Heiko: Der Berg-Karabach-Konflikt, Eine juristische Analyse, Heidelberg, 2009. S. 32.
[4]Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit In Europa Schlussakte, Helsinki 1975. Im Internet:https://www.osce.org/de/mc/39503?download=true, (letzter Zugriff am 03.03.2020).
[5]Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats 1993, Sicherheitsrat, Offizielles Protokoll: Achtundvierzigstes Jahr, Vereinte Nationen, New York, 1993, S. 87-91.
[6]Vgl. Kipke, Rüdiger: Das armenisch-aserbaidschanische Verhältnis und der Konflikt um Berg-Karabach, 2012, S. 17.
[7]Ebd. S. 20.
[8]Gulieva, D. P.: K istorii obrazovanija Nagorno-Karabachskoj Avtonomnoj Oblasti Azerbajdžanskoj SSR 1918-1925, Dokumenty i Materialy, Baku, 1989, S. 59.
[10]https://epress.am/ru/2015/04/29/события-в-гугарке-как-громили-азербай.html(letzter Zugriff am 03.03.2020).
[11]Vgl. De Waal, Thomas: Black Garden, Armenia and Azerbaijan through Peace and War, New York University Press, New York and London, 2003, S. 18.
[12]Ebd. S. 19.
[13]Der Ministerrat der UdSSR, Dekret Nr. 4083, 23. Dezember 1947, Moskau, Kreml´.
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
Asif Masimov
Asif Masimov hat Internationale Beziehungen und Politikwissenschaften studiert. Er ist Doktorand im Fach Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er bloggt auf masimovasif.net zu historischen und politischen Themen rund um Deutschland, Aserbaidschan und Russland.
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