Ein Gastkommentar von Nabi Yücel
Seit mehr als sechs Jahrzehnten pflegen die USA eine wichtige strategische Partnerschaft mit der Türkei als Schlüsselelement der US-Strategie in Eurasien und im Nahen Osten. Diese Partnerschaft wurde des Öfteren belastet, so u.a. in der Zypern-Frage. Heute steht diese Partnerschaft erneut vor einer Belastungsprobe. Diesmal aber in Syrien, in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer.
War zu Beginn des Kalten Krieges die Partnerschaft der Türkei mit den USA bis zum Zusammenbruch der UDSSR und des Warschauer Paktes bis auf die Zypern-Intervention von 1974 relativ gut, ist sie seit 2016 sichtlich zerrüttet. War die Partnerschaft ein Garant dafür, den sowjetischen Expansionismus zu kontrollieren, wird diese gegenwärtig nur durch den Nordatlantikvertrag (NATO) zusammen gehalten. Hier soll die Türkei an der Schnittstelle von drei Regionen für die Sicherheit und Interessen der USA und der NATO eine gewichtige Rolle spielen.
Diese Rolle will die Türkei nicht mehr uneingeschränkt einnehmen. In den letzten Jahren hat sich diese Partnerschaft angespannt, da die Interessen und Einschätzungen der USA, der Europäer und der Türkei bei verschiedenen Herausforderungen nicht mehr so gut aufeinander abgestimmt sind wie früher. Seither kommt es zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Politik zur Bewältigung vieler dieser Herausforderungen. Die Spannungen in den Beziehungen der Türkei zu den USA, den Europäern und anderen Nachbarn haben diese Belastungen verschärft.
Welche Strategie verfolgt die Türkei nun? Offensichtlich dieselbe Strategie, die sie während der Krise mit Syrien in Zusammenhang mit der Terrororganisation PKK und dem ehemaligen syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad (Vater von Baschar al-Assad) bis 1991 verfolgte und mit der Verhaftung von Abdullah Öcalan vorerst endete, wie auch während der Zypern-Krise nach 1964 bis 1974, die mit der türkischen Kontrolle der nördlichen Inselhälfte endete.
Es gibt seit der jüngsten Republiksgeschichte zwei maßgebliche Doktrinen, von denen eins der ehemalige türkische Marineoffizier Cem Gürdeniz ausgezeichnet beschrieben hat: „Blaues Land“, auf Türkisch „Mavi Vatan“ und das andere „Mutterland“, auf Türkisch „Ana Vatan.“
Seit der türkischen Republiksgeschichte hat die Sicherheit und die Existenzsicherung des „Mutterlands“ höchste Priorität. Die Terrororganisation PKK genießt sozusagen seit 1983 höchste Aufmerksamkeit. Ihr Bestreben richtet sich laut dieser Lesart der Zersetzung und Aufhebung dieser Ordnung, dem Einhalt geboten werden muss. Es gab in der jüngeren Republiksgeschichte andere Gefahren im „Mutterland“, der man ebenso begegnete und ausschaltete. So u.a. die Aufstände der islamischen Geistlichen, die der Kocgiri, des Scheich Saids, die in Ararat oder in Tunceli. Alle wurden militärisch niedergeschlagen.
Dann gilt es noch die Sicherheit im Mittelmeer, am Schwarzen Meer und in der Ägäis zu gewährleisten. Im östlichen Mittelmeer wurde die Sicherheit in Zypern erst mit dem Londoner Garantievertrag von 1959 gewährleistet, als die dann nicht mehr griff, mit der Kontrollübernahme von 1974. In der Ägäis wird die Sicherheit gegenüber Griechenland mit dem Status quo der Eilande gesichert.
Bis vor kurzem kam es daher immer wieder zu Vorkommnissen in der Luft oder auf dem Wasser, ohne dass es dabei zu gravierenden Scharmützeln zwischen diesen zwei NATO-Mitgliedern kam. Und zuletzt sorgt bislang am Schwarzen Meer, an den Dardanellen, dem Marmarameer und dem Bosporus der Vertrag von Montreux (auch Meerengen-Abkommen) seit 1936 für Sicherheit.
Gegenwärtig sind beide Doktrinen gefragter denn je. Die PKK bedroht die Sicherheit des „Mutterlandes“ massiv und wie noch nie zuvor, auch wenn sich die Bedrohungslage scheinbar ins Nachbarland Syrien verlagert hat. In Nordsyrien ist es einerseits die westlich gelegene Region Idlib, andererseits die östliche Region entlang der türkischen Grenze, die die innere Sicherheit massiv bedrängen.
Auf der anderen Seite ist es das „Blaues Land“, die stark in Bedrängnis geraten ist. Mit dem Fund von Gasvorkommen unter dem östlichen Mittelmeer, hat sich Griechenland angeschickt, die Rechte der zypriotischen Türken zu beschneiden und dabei auch den Festlandsockel der Türkei im östlichen Mittelmeer wie auch in der Ägäis infrage zu stellen. Das wird mitunter mit gemeinsamen Militärmanovern von Griechenland, Zypern, USA und etlichen europäischen Staaten machtvoll demonstriert.
Welche Doktrin ist aber nach Ansicht der Türkei gefährdeter oder benötigt mehr Aufmerksamkeit? Das ist die entscheidende Frage! Nach wie vor sollte die Doktrin über das „Mutterland“ höchste Priorität genießen. Dazu gehört, dass die Terrororganisation PKK auch in Nordsyrien verfolgt und ausgeschaltet wird. Es führt daran kein Weg vorbei, was offenbar nicht nur in der türkischen Armee Konsens ist, sondern auch von der politischen Führung verfolgt wird.
Dann gibt es noch die syrische Region Idlib, die das „Mutterland“ ernsthaft in Gefahr bringen kann. Idlib ist seit dem Sotschi-Abkommen zwischen der Türkei, Russland und Iran seit Ende 2018 eine von der Türkei kontrollierte Pufferzone. Mittlerweile ist es zum Aufmarschgebiet der türkischen Armee geworden, nachdem syrische Regimekräfte zwei Angriffe auf türkische Wachposten gestartet hatten.
Die Türkei hat reflexartig diese Angriffe vergolten und auch unmissverständlich deutlich gemacht, jeden weiteren Angriff massiv zurückzuschlagen. Auffallend ist dabei, dass die USA erst jetzt der Türkei in der Idlib-Frage uneingeschränkt und offenbar selbstlos zur Seite stehen. Besser noch, US-Präsident Trump ermahnt den russischen Präsidenten Putin, sich zurückzuhalten, während der US-Syrien-Sonderbeauftrage James Jeffrey sich anschickt, die Türkei darin zu ermuntern, massiv und ohne abzuwarten zurückzuschlagen. Eine Botschaft, die es in sich hat, aber mit Vorsicht zu genießen ist.
Wie schon bekannt, hat sich die USA, hat sich Trump in der Frage zu Nordsyrien in den Augen der Türkei nicht gerade vorbildlich und partnerschaftlich verhalten. Was Obama begonnen hat, der PKK in Nordsyrien den Boden zu ebnen, führt Trump konsequent fort, auch wenn die USA sich augenscheinlich aus der Region zurückgezogen haben wollen.
Die USA sind nicht nur dafür bekannt, Rebellengruppen oder Diktaturen in der Region zu unterstützen, sondern sie nach erledigter Arbeit auch zu bekämpfen, sofern die nicht mehr dieselben Interessen verfolgen. Das haben die Afghanen, Libyer, Iraker und Iraner mitgemacht und noch viele andere Länder in der Region, wie auch in Lateinamerika oder Nordafrika. Auch die Türkei wurde immer wieder von den USA auf den Kopf gestellt, Putsche waren die Folge.
Mit Russland pflegt die Türkei seit dem Zusammenbruch der UDSSR wirtschaftliche Beziehungen. Seit Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges ist die Türkei aber auch eine Größe, wenn es um die Interessen der Russen im Mittelmeer geht. Mit der Militärbasis Latakia unterhält Russland einen verlängerten Arm im Mittelmeer, ohne dabei viel Rücksicht auf das Meerengen-Abkommen nehmen zu müssen.
Um beiden Doktrinen gerecht zu werden, muss die Türkei mit Russland im Gespräch bleiben und die USA und deren Interessen zurückstellen. Die USA nehmen derzeit den türkischen Aufmarsch in Idlib geradezu frenetisch auf, was die Türkei aufhorchen lassen sollte, zumal zur selben Zeit die USA nach wie vor die PKK in Nordsyrien unterstützt und sogar unverhohlen diplomatische Beziehungen unterhält.
In diesem Zusammenhang muss die Türkei mit Russland allein und nicht mit dem syrischen Machthaber Assad weiterhin in Kontakt bleiben sowie eine Lösung in Idlib herausschlagen, jedoch auch energisch bleiben, wenn es um die Pufferzone in Idlib sowie die Frage im östlichen Grenzverlauf geht. Keinesfalls darf die Türkei in Syrien in einen blutigen Religionskrieg hineingezogen werden, den die USA mit Afghanistan gestartet, mit dem Irak fortgesetzt und mit Syrien einen vorläufigen Abschluss erzielen will.
Höchste Priorität gilt daher dem „Mutterland“ und danach dem „Blauen Land“, die mittlerweile miteinander verwoben sind, seit dem sich die USA im östlichen Mittelmeer wie in der Ägäis zusammen mit den Europäern auf die Seite Griechenlands und Zyperns geschlagen haben. Hier muss die Türkei mit Russland dahingehend übereinkommen, dass Assad mit der PKK nicht mehr zusammenarbeitet, die Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien von der PKK gesäubert wird. Damit wäre vorerst diese Gefahr gebannt und die nächste Gefahr könnte angegangen werden.
Nabi Yücel – yuecelnabi@hotmail.de
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.