Ein Gastkommentar von Nabi Yücel
Fethullah Gülen, der Führer der einst mächtigsten islamischen Bewegung in der Türkei, ist tot. Aber seine Ideologie, die Machtbesessenheit, dass Verdrängen von Schuld und Sühne, die Leugnung der Verbrechen, sie lebt weiter, und das mithilfe des Westens.
83 Jahre alt wurde der Führer der einst mächtigsten islamischen Bewegung in der Türkei. Seine Jünger bestatteten Fethullah Gülen in Salisbury-Pennsylvania jedoch als 86-jährigen. So steht es jedenfalls auf seiner Grabinschrift auf dem Anwesen der Gülen-Sekte in Salisbury: „1938 – 2024“
Das ist gewollt, steht es doch sinnbildlich für den „auserwählten Mehdi“, der im Jahr des Todes von Atatürk auf die Welt kam, um die Geschicke des Landes zu übernehmen, in seinem Sinne umzugestalten.
Tatsächlich baute Fethullah Gülen nach 1960 mit seiner Missionierung bis in die 1990er-Jahre hinein seine religiös-politische Autorität bis in die Staatsbürokratie aus, wurde von der Landeselite als Musterdemokrat ausgewiesen, stand bei Staatsbanketts an vorderster Reihe, während andere islamisch-politische Bewegungen mit Repressionen belegt wurden.
Erbittertster Gegner von Gülen und einer der Figuren der islamisch-politischen Bewegungen war seinerseits Necmettin Erbakan, aus dessen Reihen auch Recep Tayyip Erdoğan stammt. Am 28. Februar 1997 diktierte der Nationalen Sicherheitsrat ein Memorandum, das Erbakan zwang, sang und klanglos abzudanken, während Fethullah Gülen mit der berühmten Rahşan-Begnadigung vorerst unbehelligt davon kam.
Zwei Jahre später geriet Fethullah Gülen jedoch erneut in den Blickpunkt eines Skandals. Noch kurz vor der Ausstrahlung einer heimlich aufgenommenen Rede von Gülen im TV-Fernsehkanal ATV, in dem er seine Anhänger aufforderte, geduldig zu arbeiten, um die Kontrolle im Staat zu erlangen, verließ Gülen das Land und blieb bis zum Tode in Salisbury.
Bereits zu dieser Zeit gab es erste starke Hinweise einer Unterwanderung des Staates. Im Nationalen Sicherheitsrat warnte der türkische militärische Nachrichtendienst wie auch der türkische Nachrichtendienst vor der Unterwanderung staatlicher Strukturen. Die Politik winkte jedoch ab und beschwichtigte.
Als Erdoğan nach etlichen politischen Wiederanläufen von Erbakan und dessen Scheitern seine eigene Partei gründen wollte, suchte er im Jahre 2000 die Nähe zu Gülen und der mächtigen Bewegung. Was Erdoğan von Gülen hielt, erfuhr man bereits im Jahre 2016 in einer Rede u. a. von einem ZDF-Journalisten während eines TV-Interviews. Gülen über das Gespräch von Erdoğan mit einem seiner Komplizen im Aufzug nach der Unterredung mit ihm: „Mit dem müssen wir uns zuerst befassen.“
Während sich Erdoğan noch mit Fethullah Gülen Zeit ließ, überschatteten nach 2006 mehrere Morde an Journalisten, Politikern, Zivilisten und Autoren den türkischen Demokratisierungsprozess unter Ministerpräsident Erdoğan.
Mit der Verhaftung mehrerer pensionierter Generäle als vermeintliche Putschisten in der Türkei Anfang Juli 2008, begannen die ersten Mammutprozesse gegen Militärs, aber auch Politiker, Staatsanwälte, Richter, Akademiker und Journalisten, die als „Kemalisten“ verschrien wurden. Schnell war allen politischen kritischen Akteuren klar, dass die Gülen-Sekte dahintersteckt.
Bereits 2010 bezeichnete Politikwissenschaftler Soner Çağaptay in einem Beitrag für Foreign Policy die Gülen-Sekte als „ultrakonservativ“, berichtete über die aktuelle Entwicklung in der Türkei, in der die Macht der Militärs zurückgedrängt werde und vordergründig nur den Anschein einer Demokratisierung erwecke.
In Wirklichkeit habe sich das Machtgefälle derart vertauscht, dass nun die Gülen-Sekte an die Stelle der Militärs getreten sei und einen neuen „tiefen Staat“ bilde. Die Bewegung kontrolliere Polizei samt Justizapparat und gewinne immer mehr Einfluss in der Politik.
Trotz aller Unkenrufe und eindringlichen Warnungen, die Gülen-Sekte ging noch viel weiter und benutzte vor allem die von ihr kontrollierten Medien, die Polizei und Justiz, um Erdoğan unter Kontrolle oder unter Druck zu bringen.
Kurz nach dem gescheiterten Putschversuch erklärte der ehemalige Generalstabschef İlker Başbuğ während einer Forumsitzung des Rotary Clubs der Sekte den Kampf. Başbuğ zufolge habe Erdoğan den Kampf gegen die Gülen-Sekte ab 2012 allein aufgenommen; er sei ganz allein gewesen; er sei in manchen problematischen Fragen von der Politik und sogar von der eigenen Partei im Stich gelassen worden.
Tatsächlich brauchte es noch mehrere Jahre, bis dem Staat das Werkzeug in die Hand gegeben wurde, dem Staat im Staat das Handwerk zu legen. Der eigentliche Niedergang der Gülen-Sekte begann dann zwischen 2014-2015 mit Aktivitäten des Generalstabs, dem Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), Geschädigten im Militär wie auch der Politik bzw. Personen des öffentlichen Lebens sowie zivilen Kreisen, die sich auf die Fahne geschrieben hatten, der jetzt als FETÖ/PYD bezeichneten Gülen-Sekte das Handwerk zu legen.
Die Regierung setzte sich innerhalb der HSYK durch, die Belegung der Posten entgegen den starken Gegenmeinungen neu zu besetzen. In den Streitkräften wurden die Sondereinsatzkräfte sowie der militärische Nachrichtendienst gestärkt. Das zwang das terroristische Spionagenetzwerk, unter dem vorherrschenden Druck sich aus der Deckung zu begeben, medial in Erscheinung zu treten, Fehler zu begehen.
Als es um die letzte und umfassendste Neustrukturierung des Militärs in den höheren Offiziersrängen ging, beging die Gülen-Sekte dann den entscheidenden Fehler und unternahm Hals über Kopf am Abend des 15. Juli 2016 einen Putschversuch. Damit war das Ende des Gülen-Sekte in der Türkei und in weiten Teilen der Welt vorprogrammiert.
Noch vor dem Scheitern des Putschversuchs und vor allem danach, suchten führende Köpfe der Gülen-Sekte das Heil im Westen. Sie wurden aufgenommen, teils von Sicherheitskreisen der Aufnahmeländer, auf Rattenlinien über mehrere Fluchtrouten über zig Länder in Schutz gebracht.
Mit Hilfe dieser Rattenlinien gelang es den wichtigsten Köpfen der Gülen-Sekte, sich der drohenden Strafe zu entziehen, im Westen eine neue Existenz aufzubauen, die bis heute von Mitgliedern der Sekte mitfinanziert werden. Unter den Flüchtigen befanden sich u. a. Adil Öksüz, der Blackbox der Gülen-Sekte zum gescheiterten Putschversuch schlechthin, der während der Flucht auch zeitweise in Berlin untertauchte und nach Aufdeckung seines Wohnorts in Berlin, vom LKA-Berlin rechtzeitig in Sicherheit gebracht wurde.
Im Juni 2018 hatten regierungsnahe Medien in der Türkei die Berliner Wohnanschrift eines mutmaßlichen Putschisten veröffentlicht und somit Erdogan-Anhänger indirekt zu Aktionen gegen den Mann aufgerufen. Der betroffene Adil Öksüz ist für Ankara Hauptverdächtiger des Putschversuchs in der Türkei vor zwei Jahren. Die Türkei hat ihn als Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen über Interpol zur Fahndung ausgeschrieben, die Bundesregierung lehnt eine Auslieferung in die Türkei ab. Das Landeskriminalamt Berlin hat Schutzmaßnahmen für Öksüz ergriffen.
Bei der Bestattung von Fethullah Gülen konnte man Öksüz jedoch am Fuße des Grabes von Fethullah Gülen zweifelsfrei feststellen, wie auch viele Sekten-Mitglieder während der Trauerfeier in Salisbury vergeblich versuchten, ihre Identität unter Verwendung von Schutzmasken, Hüten und Sonnenbrillen zu verschleiern.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
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