Start Interviews "Das Wesentliche des Lebens" NEX24-Interview mit dem Frankfurter Underground-Künstler Halil Kıratlı

"Das Wesentliche des Lebens"
NEX24-Interview mit dem Frankfurter Underground-Künstler Halil Kıratlı

Im Gespräch mit NEX24 erläutert der türkischstämmige Kunst-Rebell seine Motivation und seinen Hang für Spontanität. Diesem Künstler geht es nicht um Kunst im eigentlichen Sinne, sondern um das Wesentliche des Lebens.

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Im Gespräch mit NEX24 erläutert der türkischstämmige Kunst-Rebell seine Motivation und seinen Hang für Spontanität. Diesem Künstler geht es nicht um Kunst im eigentlichen Sinne, sondern um das Wesentliche des Lebens.

Seine Bilder entstehen zu unterschiedlichen Zeiten und Orten. Je nach Lust und Laune zieht es Halil Kıratlı in den Alltag. Die Werke entstehen mal in der S-Bahn oder bei einer Tasse Kaffee. Für den 1983 in Konya/Ereğli geborenen Kreativgeist benötigt Kunst nicht zwangsläufig eine Definition. Über sein künstlerisches Verständnis und seine Werke sprach NEX24 mit Halil Kıratlı.

Herr Kıratlı, wann haben Sie ihr künstlerisches Talent bemerkt und angefangen Bilder zu zeichnen?

Bis 2019 habe ich eher als Versuch vielleicht insgesamt zehn Bilder gezeichnet. Auch wenn ich die Begabung manchmal erahnen konnte, habe ich mich nicht weiter damit beschäftigt. Richtig angefangen zu zeichnen und zu malen habe ich mit der Pandemie.

Es war für mich auch nicht wichtig, ob die entstandenen Werke amateurhaft aussehen oder kein Interesse wecken, sondern authentisch wirken. Mein Ziel bestand nie darin, ein zweiter Picasso oder van Gogh zu werden. Mir geht es eher darum, in diesem Ozean der Farben, auch wenn es klein ist, für mich einen ursprünglich wirkenden Platz zu finden. Im Übrigen sehe mich nicht als Künstler, sondern als Zeichner.

„Afternoon by the river“ Halil Kiratli, Istanbul 2020

Sie zeichnen nicht nur mit Bleistift und Kugelschreiber, sondern malen auch mit Pastellfarben. Was bevorzugen Sie eher?

Es reicht aus, wenn ich irgendeinen Stift oder Pastellkreide finde. An dem Tag hatte ich wohl Pastellkreide gefunden. Die Materialien, die ich für meine Zeichnungen in der S-Bahn verwende, habe ich aus einem Karton mit der Aufschrift „Zu verschenken“ gefunden. Ich habe die Sachen in keinem Schreibwarenladen gekauft. Es sind Materialien, die keiner mehr gebraucht hat, und ich habe versucht, dass sich diese mit den Bildern zusammenfinden. Es macht mir Spaß, wenn ich Gegenständen wieder einen Wert, einen Anlass geben kann.

Welche Bedeutung hat Kunst für Sie?

Meiner Meinung nach benötigt Kunst nicht unbedingt eine Umschreibung, denn wenn wir beginnen, etwas zu definieren, verliert dieser Gegenstand den Wert seiner Daseinsberechtigung. Es würde die Basis des Objekts und den Freiheitsgeist einengen. Anders ausgedrückt, wenn etwas definiert, vollendet und in eine Schablone angepasst wird, würde es die Weiterentwicklung aufhalten.

Im Prinzip ist es mit allen Dingen so, die sich mit der Zeit nicht weiterentwickeln, setzt sich mit der Zeit dort Rost an und nutzt sich ab. Ich denke, wir kommen in der Kunst nicht weiter, wenn wir 1+1=2 sagen. Deshalb denke ich, dass Definitionen und Formeln eher in numerischen Feldern nützlich sind. Wenn Du ein Fisch bist, solltest Du schwimmen, auch wenn Du Wasser nicht definieren kannst. Mich hat die Qualität der Farben oder des Papiers nie interessiert, sondern immer die inhaltliche Beschaffenheit.

„A dream“ Halil Kiratli, Frankfurt 2021

Woher nehmen Sie die Motivation für ihre Arbeit und was sind die Kriterien bei der Gestaltung ihrer Werke?

Zunächst einmal sollte jedes einzelne Werk/Bild inhaltlich für sich bewertet werden. Ein Werk dahingehend mit einem anderen zu vergleichen, um hinterher festzustellen, welches besser ist, wäre für die geschaffenen Werke und die investierte Zeit, auf gut Deutsch gesagt, eine Dummheit. Ein Künstler sollte gegenüber allem und jedem Ereignis wachsam sein. Er sollte sich dabei auch selbst beobachten können. Was mich vielleicht von anderen Künstlern vor allem unterscheidet ist die Technik, die ich meistens verwende.

Wenn ich ein Bild zeichnen möchte, denke ich nicht vorher darüber nach und plane es auch nicht. Das Ganze entwickelt sich eher spontan mit Papier und Bleistift. Selbst ich weiß am Anfang nicht, welches Bild zum Schluss entsteht. Meine einzige Motivation jetzt besteht darin, dass ich zu Beginn einer Zeichnung nicht vorhersehen kann, ob es ein Menschenskopf, ein Stein auf einem Berg oder ein Froschauge wird. Es gibt kein Kriterium von mir, ob ein Werk symmetrisch oder ästhetisch sein sollte. Durch die geschaffenen Werke soll die Wahrheit zum Gegenstand des Interesses werden.

Es gibt einen Grund, warum ich keine neuen Materialien zum Zeichnen und Malen kaufe, sondern secondhand Utensilien verwende. Damit möchte ich zwei Objekten mit unterschiedlicher Geschichte wieder einen Sinn und Wert verleihen. Ferner einer unwissenden Konsumgesellschaft, auch wenn es wie ein unbedeutender Faktor aussehen mag, eine Botschaft mitteilen. Zu meiner Enttäuschung muss ich gestehen, dass sich der weitgehend störungsfreie Konsum in Europa, den ich früher als „das Paradies der Verschwendung“ bezeichnete, überall verbreitet hat. Leider gibt es so viele Beispiele dafür. Dazu gehört auch unser Trinkwasser, das wir für unser tägliches Leben benötigen.

„The child“ Halil Kiratli, Düsseldorf 2021

Selbst Abschlüsse, die wir an einer Hochschule erworben haben, hindern uns nicht daran in Verschwendung zu leben. Was ist mit Kunststoff bzw. dem Plastik? Handelt es sich dabei nicht um eine moderne Art, den menschlichen Geist einzubalsamieren? Wenn wir etwas ehrlicher auf das Thema eingehen, warum haben denn die entwickelten Gesellschaften bis jetzt keine andere Lösung als Kunststoff gefunden? Warum schreiben wir die Unfähigkeit der Selbstwahrnehmung Millionen von Tieren zu, die jeden Tag nur deswegen sterben müssen? Während wir ruhigen Gewissens Plastiktüten verwenden, sprechen wir andererseits entspannt und mühelos über unser Gewissen und die Entwicklung.

Unsere Natur ist eigentlich sehr Weise, aber selbst sie will es sich nicht eingestehen. Wir Menschen sind Geschöpfe, die zwischen dem was sie sagen und dem was sie machen in einem Widerspruch leben. In der gesamten Menschheitsgeschichte ist es uns tatsächlich gelungen, die einzige Generation zu sein, die nicht an die kommenden Generationen denkt und in ihrer Zeit hemmungslos konsumiert. Jeder sollte lernen auf seine Weise zu teilen. Andernfalls werden diejenigen, die auf der einen Seite Schüsseln voller Honig und auf der anderen Seite kein Wasser und Brot haben, aussterben.

„The observation“ Halil Kiratli, Amsterdam 2021

Welche Ideen bzw. Kunstprojekte möchten Sie gerne verwirklichen?

Ich gehe einer geregelten Arbeit nach und verbringe fast zwei Stunden des Tages in der S-Bahn. Seit geraumer Zeit zeichne ich in der Bahn mit einem Kugelschreiber und habe schon sehr viele Bilder fertiggestellt. Diese möchte ich gerne in einer Ausstellung mit dem Titel „On the Rails“ präsentieren, weil alle Werke in der Bahn entstanden sind. Eine weitere Idee ist eine Ausstellung mit dem Namen „Soul of Airport“, die den Flughafen thematisiert. Aus dem Blickwinkel der Passagiere und Beschäftigten. Der Flughafen als Ort, in etwa vergleichbar mit einem kleinen Staat mit eigenen Gesetzen und Regeln. Anhand der Bilder soll es aus soziologischer Perspektive betrachtet werden. In keinem Werk soll ein Flugzeug oder ein Gebäude des Flughafens abgebildet sein, weil es hier um eine Bildinterpretation des Augenblicks geht.

Wir danken für das Gespräch

Das Interview führten Kemal Bölge und Polat Karaburan

Für mehr Infos zum Künstler und seinen Werken: Hisamayati

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