Von Klaus Jurgens
Die türkische Bevölkerung scheint sich ihrer großen Herausforderung bewusst zu sein: Wird ihr stolzes Land am Morgen des 25. Juni in eine Periode der Unsicherheit zurückgeworfen, oder kann es den Weg, der vor rund 15 Jahren begann und der kurz gesagt daraus besteht, ihr Land in eine natürlich immer zu verbessernde Zukunft zu führen, fortsetzen?
Denn genau das ist seit vielen Jahren der Eindruck, den dieses Land bei seinen Beobachtern hinterlässt: Die Zukunft wird nicht als statisch betrachtet, sondern als etwas, was immer Veränderungen mit sich bringt. Die Zukunft wird natürlich als etwas Schönes, Neues, Modernes angesehen, aber eben auch immer als etwas, was sehr stark mit der Geschichte und Tradition der Türkei verbunden ist.
Vor vielen Jahren hatte man auch in Europa diesen Sprung in das zuerst Ungewisse gemacht. Ich erinnere mich an Willy Brandt, der den Satz über ‚mehr Demokratie wagen‘ prägte. Deutschland und Europa waren selbst auf dem Weg in die Zukunft, auf dem Weg in eine friedvolle, multikulturelle europäische Zukunft. Diesen Aspekt werde ich in einem weiteren Artikel näher beleuchten, da es in jüngster Zeit große Zweifel an der wirklichen Bereitschaft Europas gibt, diesen mutigen Schritt, der vor über vierzig Jahren begann, auch fortzusetzen.
Zurück in die Türkei – und man wird einfach mitgerissen von der Wahlkampflaune der Kandidatinnen und Kandidaten. Manche in Europa übersehen entweder gewollt oder unbewusst die Tatsache, dass eine sehr gut funktionierende Demokratie wie die Türkei, gepaart mit einer ebenso voll funktionierenden Marktwirtschaft auch Bewerberinnen und Bewerber vieler verschiedener Parteien aufzubieten hat. Es gibt die Regierungspartei, die große Oppositionspartei, kleinere und größere alternative Kräfte – genauso wie in jeder anderen Demokratie auch. Jedoch ist es wohl nur natürlich, dass antidemokratische Tendenzen nicht gerade zur Teilnahme aufgefordert werden.
In diesem Zusammenhang halten Sie als unsere verehrten Leserinnen und Leser doch einfach einen kurzen Moment inne und stellen sich vor, eine Bewegung, die offiziell das Ende des Vereinigten Königreiches, Frankreichs oder Deutschlands verteidigen würde und um ihr Ziel zu erreichen, zum bewaffneten Kampf inklusive Putschversuch aufruft – ich könnte mir kaum vorstellen, dass solche Personen, die sich klar außerhalb des demokratischen Spektrums bewegen, eine Zulassung zu welcher Wahl auch immer erhalten würden. Nichts anderes haben die türkischen Behörden vorab geprüft.
Internationale Kommentatoren sollten sich immer mit Meinungen über Wahlen zurückhalten, da es ja in der Tat um die Entscheidung des Souveräns, also des Volkes eines anderen Staates geht. Wenn man jedoch als ‚eingeheirateter‘ Ausländer mehr als nur ein überfliegender Gast in diesem schönen Lande ist, darf man eventuell diese Grundsätze einmal etwas liberaler auslegen.
Mit aller höflichen Vorsicht gemeint, ich glaube daher, dass die große Mehrheit der türkischen Wählerschaft sich zwar weiterhin auf die Zukunft freut, aber eben nicht auf eine ungewisse Zukunft.
Die türkische Mittelschicht, die beinahe alles im Lande mitbestimmt und die es ja erst seit rund einem Jahrzehnt gibt, will vor allem Stabilität und Berechenbarkeit und keinerlei Experimente im negativen Sinne. Was ich aus Berichten und vor allem persönlichen, auch ‚off the record‘-Stellungnahmen mitnehme und herauslese ist das Folgende:
Die Türkei hat einen Weg eingeschlagen, der sie als modernen, aber auch starken Nationalstaat aufgebaut hat. In den letzten 15 Jahren wurde eine vormals völlig abgeschottete, isolationistische Türkei in ein weltoffenes, voll integriertes Land umgewandelt. Die Mittelschicht bekam Freiraum, oder wurde sogar überhaupt erst geschaffen. Individualität wurde erlaubt und freies Unternehmertum ebenso.
Der staatsmonopolistische Kapitalismus wurde abgeschafft, Privatisierungen wurden erlaubt. Die Türkei und ihre Bürgerinnen und Bürger durften das tun, was sie eigentlich immer hätten tun sollen: aktiv an der Gestaltung ihres Landes mitwirken und nicht nur auf die Vorgaben ‚von oben‘ hören.
Ein stolzes Land mit stolzen, aber auch sehr friedvollen Menschen, die andere Menschen immer als ebenbürtig betrachten und schätzen. Und der türkischen Bevölkerung geht es auch einfach besser: ökonomisch, im Bereich der beruflichen Bildung; die Infrastruktur wurde revolutioniert uvm. Die derzeitige Regierung gab der Türkei das zurück, was viele Bürgerinnen und Bürger vormals oft vermissten: das Recht, stolz auf ihr Land zu sein. Also eine Richtungswahl.
Bin ich ein Magier mit seiner Kristallkugel? Kaum. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn die Türkei am Morgen des 25. Juni aufwacht und zu sich selbst sagt „weiter geht es in die Zukunft“, und vor allem mit einem Präsidialsystem, das nicht weniger Mitbestimmungsmöglichkeiten, sondern aufgrund der auch in der Türkei sehr stark ausgeprägten ‚checks and balances‘ eher mehr mit sich bringen wird.
Mein nächster Beitrag wird live vor Ort in Istanbul am 25. Juni verfasst, dann natürlich mit Details und Ergebnissen.
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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Klaus Jurgens
Klaus Jurgens – London School of Economics Postgraduate Degree Government. Vormals Uni-Dozent Ankara, Schwerpunkt BWL und KMU. Über zehn Jahre vor Ort Erfahrung Türkei. Zur Zeit wohnhaft in Wien. Politischer Analyst und freiberuflicher Journalist.