ein Gastbeitrag von Nabi Yücel
Mehr als 30 Jahre konnte Armenien mit seinen drei Millionen Einwohnern nicht nur Aserbaidschan an der Nase herumführen und eine Okkupation in Bergkarabach aufrechterhalten, sondern der Welt zeigen, wie man mit Unrecht zum Recht kommen kann: Stärke, mit einem gewissen Rückhalt des Wertewestens. Wie kommt es, dass dieses kleine Land im Kaukasus mit Hilfe der ehemaligen Sowjetunion und mit einem Angriffskrieg gegen geltendes Völkerrecht verstieß, aserbaidschanisches Territorium okkupierte und damit über drei Dekaden durchkam?
Schweifen wir zurück: Nach dem Angriffskrieg Armeniens von 1992 bis 1994, griff das vielgepriesene Souveränitätsgefasel des Wertewestens genauso wenig, wie die vielen Schüsse der Vereinten Nationen vor den Bug Armeniens, damit aufzuhören. Nach zwei Jahren Krieg und etlichen Massakern an der aserbaidschanischen Bevölkerung in Bergkarabach und über 1 Millionen aserbaidschanischen Flüchtlingen, einigte man sich 1994 zu einem Waffenstillstand.
Damit kontrollierte Armenier einen Großteil des von der de-facto ausgerufenen armenischen Republik Bergkarabach und eine Pufferzone, quasi über 20 Prozent aserbaidschanisches Territorium. Bereits im Jahr 1993 verabschiedete die UN vier Resolutionen (Nr. 822, 853, 874, 884), die jedoch ohne Wirkung blieben. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) verabschiedete am 25. Januar 2005 die Resolution 1416, in der die „groß angelegte ethnische Vertreibung und die Schaffung monoethnischer Gebiete“ durch Armenien kritisiert und erklärt wurde, dass armenische Truppen aserbaidschanische Gebiete besetzen.
Und dennoch, trotz dieser einschlägig bekannten Tatsachen, den angeblichen Vermittlungs- und Lösungsbemühungen der OSZE oder die der Minsker Gruppe, blieb Armenien auf dem Standpunkt, aserbaidschanisches Territorium weiterhin besetzt zu halten und selbst Tatsachen zu schaffen, in dem es armenische Staatsbürger ansiedelt, obwohl die Unabhängigkeit Bergkarabachs international, wie auch von Armenien, nicht anerkannt wurde.
Offensichtlich hatten die Parteien, die sich angeblich um Frieden und Wiederherstellung des Völkerrechts bemühten, kein sonderliches Interesse daran, diesen völkerrechtlichen Standpunkt auch gegen Armenien durchzusetzen. Trotz Resolutionen der EU und UN gegen Armenien, wurde die Eskalation aufrechterhalten und dabei unentwegt Täter-Opfer-Umkehr zugunsten Armeniens und zuungunsten Aserbaidschans betrieben. Der inzwischen eiternde Stachel in der Region platzte im November 2020 mit einem militärischen Befreiungsschlag Aserbaidschans. Bemerkenswerterweise wurde dieser Befreiungsschlag zutiefst verurteilt, die Okkupation fremden Territoriums durch Armenien geradezu als demokratisches Recht zelebriert.
Drei Jahre später, nach etlichen leeren Versprechungen Armeniens, der nächste Paukenschlag Aserbaidschans, der nur 24 Stunden anhielt und für die Befreiung Bergkarabachs sorgte. So schnell die armenischen Separatisten die Waffen niederlegten, so schnell wurde im Wertewesten wieder auf die Tränendrüse gedrückt.
Der armenische Politikwissenschaftler Hrant Ter-Abrahamyan lässt das nicht mehr gelten; zumindest aus einem Blickwinkel, die das Ausmaß dieses Unrechts verdeutlicht. Seiner Meinung nach sei die armenische Regierung inkompetent, weshalb man auf „respektloseste und dümmste Art und Weise verloren“ habe. 32 Jahre habe Armenien Stärke gezeigt, um Bergkarabach besetzt zu halten und in einem Augenblick der „Schwäche“ es auch wieder verloren. Schwäche sei „abscheulich, verabscheuungswürdig“ und verdiene „nicht zu existieren“, so Ter-Abrahamyan.
Ter-Abrahamyan geht in einem Facebook-Beitrag auch auf die Täter-Opfer-Umkehr ein, wenn auch aus der Warte des Besatzers: „Heute haben sogar die Türken „Erbarmen“ mit uns. Die Nation der Trauernden, Klagenden und Bettler kann niemals eine unabhängige politische Einheit sein und als solche anerkannt werden.“
Das bedeutet, mit Propaganda, Schuldzuweisungen, Wehklagen, Betteln und Anflehen gegenüber Dritten Parteien gewinnt man kein fremdes territoriales Gebiet und schon gar nicht, kann man diese auch auf Dauer halten. Daran ist aber nicht nur die armenische Regierung oder die armenische Diaspora Schuld, sondern der Wertewesten. Insbesondere Frankreich und Deutschland tragen dabei eine nicht unerhebliche direkte Mitschuld an diesem Desaster mit einem glücklichen Happy End.
Aufgrund ihrer dreisten verleumderischen medialen, gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten gegenüber Aserbaidschan, dem guten Zusprechen gegenüber Armeniern, der Solidarität mit Armenien, erweckte man den Anschein, auf der Seite des Rechts zu stehen. Aber Aserbaidschan erkämpfte sich dieses Recht nach mehr als 30 ohnmächtigen Jahren zurück, weil das Völkerrecht auf seiner Seite stand. Deshalb kommt auch niemand zu „Hilfe“ und will niemand wirklich „eingreifen“, wie es derzeit landauf landab gefordert wird.
Also wehrtes Europa, wehrtes Armenien, auf Wiedersehen und „geçmiş olsun“.
*„Geçmiş olsun“ bedeutet übersetzt „gute Besserung“.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
Zum Thema
– Bergkarabach-Krise –
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