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Turkologe Heß: Was passiert in Karabach?

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die damalige „Autonome Region Berg-Karabach“ (NKAO) brach Ende 1987 aus und weitete sich nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einem vollumfänglichen Krieg aus.

(Foto: Wikimedia)
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ein Gastbeitrag von Dr. Michael Reinhard Heß

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die damalige „Autonome Region Berg-Karabach“ (NKAO) brach Ende 1987 aus und weitete sich nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einem vollumfänglichen Krieg aus. 

Was passiert in Karabach?

Den sogenannten „Ersten Karabachkrieg“ gewannen die Armenier, auch mit russischer Hilfe. Etwa 20 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums wurde von Armenien und Separatisten in der Region Karabach besetzt. Etwa 30 Jahre lang hielten Armenien und die Separatisten nicht nur das Gebiet des damaligen Bergkarabach, sondern auch sieben weitere umliegende aserbaidschanische Bezirke, in denen keine Armenier angesiedelt waren, unter Okkupation.

In dieser Zeit wurde das kulturelle Erbe dieser Gebiete nahezu vollständig zerstört und geschändet. Hunderttausende Aserbaidschaner wurden aus Armenien und Karabach vertrieben, darunter alle etwa 47.000 Karabachaserbaidschaner. Tausende starben. Das Chodschali-Massaker (Link) in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar endete mit der grausamen Ermordung 613 aserbaidschanischer Zivilisten, darunter zahlreiche Kinder, Frauen und ältere Leute, durch armenische Armeeeinheiten. Es gilt zusammen mit Srebrenica als eines der schlimmsten Kriegsverbrechen nach 1945.

Das reiche Kulturerbe Karabachs, das als Wiege der aserbaidschanischen Kultur gilt, wurde von den armenischen Besatzern in beispielloser Weise vandalisiert. Die Welt wurde Zeuge einer von ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begleiteten Okkupation. Internationale Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. 1993 bestätigte der UN-Sicherheitsrat in vier Resolutionen, dass Karabach und die umliegenden, von Armeniern besetzten, Gebiete völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehören, dass die Besatzung unverzüglich zu beenden sei und die Zwangsvertriebenen nach Hause zurückkehren sollten. (Quelle)

Doch niemand setzte diese Resolutionen um. Stattdessen musste das militärisch und politisch geschwächte Aserbaidschan 1994 einen Waffenstillstand mit den triumphierenden Armeniern schließen, der den Konflikt beider Länder „einfror“.

Rechtlich war die Sache mehr als klar. Ein Land (Armenien) überfiel ein anderes (Aserbaidschan) und besetzte brutal einen Teil davon. Die naheliegende Lösung wäre gewesen, dem von der UN verbrieften Recht Geltung zu verschaffen, notfalls mit einem „robusten Mandat“. Wozu sonst gibt es das Völkerrecht, UN-Mandate, Blauhelme und all die anderen internationalen Institutionen?

Doch in den folgenden 26 Jahren geschah: nichts.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gründete die Minsk-Gruppe, die ab 1996 von Frankreich, einem eingefleischten Gegner Aserbaidschans, mitgeleitet wurde. Ein anderer Ko-Vorsitzender der Minsk-Gruppe war Russland, also die Macht, die Armenien unterstützte und dafür im Gegenzug kontrollierte und für seine Zwecke instrumentalisierte. Der Verdacht liegt nahe, dass die Minsk-Gruppe eine Alibi-Veranstaltung war, mit der die siegreichen Armenier und ihre Unterstützernationen den Status quo erhalten und ihre Beute aus dem Krieg der frühen 1990er absichern wollten. Sie perpetualisierte durch ihre Passivität die Aggression.

2020 ergriff Aserbaidschan, das inzwischen wirtschaftlich, politisch und militärisch erstarkt war, die Initiative und befreite in einem 44 Tage dauernden Krieg einen Teil der von den Separatisten besetzten Gebiete. Das Land war offenbar zu dem Ergebnis gekommen, dass ihm kein anderer Weg blieb, um zu seinem Recht zu kommen. Es blieb aber noch eine kleine Blase seitens Armeniens militärisch und finanziell unterstützter Separatisten in Aserbaidschan bestehen. Außerdem hat Armenien etwa 10 000 Soldaten seiner Armee illegal in Karabach stationiert.

Mochten 2020 einige der Separatisten immer noch davon träumen, dass sie dort dauerhaft weiterwurschteln und den „eingefrorenen Konflikt“, also faktisch die Früchte ihres Aggressionskriegs, genießen könnten wie seit 1994, begannen diese Illusionen immer mehr zu zerbröseln, nachdem Russland seine alte Funktion als Schützer-Benutzer Armeniens im Gefolge seines 2022 begonnenen Kriegs gegen die Ukraine aufgeben musste. So gesehen, kann die aktuelle Zuspitzung auch eine Begleiterscheinung des Scheiterns und Niedergangs des russischen Imperialgedankens angesehen werden.

Im Mai 2023 erklärte der Ministerpräsident Armeniens, sein Land erkenne Karabach als Teil Aserbaidschans an. Zwar nur, wenn die Rechte der dortigen Armenier gewahrt würden, aber immerhin.

Die Separatisten mussten danach zusehen, wie die Unterstützung für ihren Traum immer rasanter dahinschmolz. Nicht einmal die beiden Hauptsponsoren ihres Separatismus, Russland und das von ihm weitgehend abhängige Armenien, standen noch vorbehaltlos zu ihnen.

Ab Ende Juli versuchte die separatistische Community dann, jene rhetorische Waffe zu zücken, die auch in der Vergangenheit immer wieder der Sache der armenischen Separatisten von Karabach geholfen hatte und die gerade in Deutschland immer noch wirkt: die Genozid-Keule. Die üblichen proarmenischen Kreise sangen mit im Chor. Aber es half nichts. Denn es gibt keinen von den Aserbaidschanern in Karabach verübten Genozid. Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Luis Moreno Ocampo scheiterte mit einem rasch zusammengeschriebenen Versuch, die Weltöffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen, krachend auf der juristischen Ebene und auch sonst.

Überzeugt von ihrem nationalistischen Sendungsbewusstsein und ihrer Fähigkeit, die Vergangenheit zu interpretieren, geben die Separatisten aber immer noch nicht auf. Sie wollen weiter einen Staat im Staate bilden. 

Was jetzt passiert, ist, dass die Aserbaidschaner jenen Weg zu ihrem völkerrechtlich verbrieften Anspruch, Herr in ihrem eigenen Land zu sein, weitergehen, der in der Vergangenheit aus ihrer Sicht der einzig erfolgreiche gewesen ist: Sie vertrauen ihrer eigenen Stärke (und der ihres wichtigsten und möglicherweise einzigen wirklichen Verbündeten, der Türkei) und der geopolitischen Gunst der Stunde. Nur so, das hat sie die überaus bittere Erfahrung gelehrt, können sie das himmelschreiende Unrecht, das ihnen 30 Jahre von Armenien angetan wurde, endlich beenden. Recht und Diplomatie haben ihnen bisher leider nicht dazu verholfen.

Wenn die Europäer, allen voran Frankreich, das immer noch unter seinem postkolonialen Phantomschmerz zu leiden scheint und eine Rolle als „Schutzmacht“ der Armenier einnehmen möchte, in dieser Situation mit ihrem gewohnten moralischen Impetus auf Aserbaidschan zeigen, ist das scheinheilig. Denn es war auch ihr 26 Jahre lang fortgesetztes Versagen, ihre Gleichgültigkeit und ihr Kuschen vor dem Unrecht, das zur heutigen Lage geführt hat. Die jüngsten militärischen Operationen in Karabach demonstrieren auch das Scheitern von mehreren Jahrzehnten europäischer Politik, die in Karabach, aber auch auf Schauplätzen wie der Ukraine, auf dem Schönreden oder Ignorieren von Völkerrechtsverletzungen beruhte.

Diese Haltung ist zutiefst zynisch, denn sie legitimiert die Aggression und den Rechtsbruch, lässt die Opfer auf dem Schaden sitzen und inkriminiert sie in dem Augenblick, in dem sie zur Selbstverteidigung übergehen. Wie unangenehm für die europäischen Augen zu-Politiker, dass Länder wie die Ukraine oder Aserbaidschan sich mit diesem Verhalten nicht abfinden. Aserbaidschan tut faktisch nichts weiter, als auf der vollständigen Wiederherstellung seiner territorialen Unversehrtheit zu bestehen, die von allen UN-Mitgliedern nach dem Zerfall der Sowjetunion, auch vor kurzem von Armenien anerkannt worden ist.


zum Thema: Schuschas Vermächtnis: Geschichte und Werdegang der Kulturhauptstadt Aserbaidschans (Amazon)


Was am 19. September begonnen hat, könnte der letzte Akt im 1987 begonnenen fatalen Rausch des armenisch-nationalistischen Überschwangs im Südkaukasus sein. Kurz vor dem Beginn der aserbaidschanischen Militäroperation waren vier Mitarbeiter des aserbaidschanischen Innenministeriums und zwei Zivilisten bei der Explosion von Minen, die von armenischen Einheiten gelegt worden waren, gestorben, was die aserbaidschanische Seite als unmittelbaren Anlass für die Kampfhandungen dargestellt hat.

Berichte deuten darauf hin, dass Aserbaidschan an diesem Tag mit der systematischen Zerstörung der Flugabwehrinstallationen und anderer Militäranlagen der Separatisten begonnen hat (was würde Deutschland eigentlich tun, wenn Separatisten wie die „Reichsbürger“ Flugabwehrinstallationen in der Bundesrepublik aufgebaut hätten?), was auf die Absicht einer endgültigen Beseitigung der kriegerischen Infrastruktur der Okkupanten und Separatisten hindeuten könnte.

Wladimir Putin zeigt keine Neigung, den Separatisten in Karabach zur Hilfe zu kommen, und Armenien signalisiert, dass es sich von Russland abwenden könnte. Premierminister Pashinyan hat in einer Regierungssitzung zu den Entwicklungen bekräftigt, dass diese auf dem Hoheitsgebiet Aserbaidschans geschahen und dass an der Staatsgrenze zwischen Armenien und Aserbaidschan Ruhe herrsche.

Durch all diese Vorgänge steht das Fortbestehen derjenigen Strukturen, die in den vergangenen dreißig Jahren den armenischen Separatismus in Aserbaidschan beflügelt haben, vor allem der Kooperation zwischen Moskau und Eriwan, in Frage. Es würde einer plötzlichen und sehr schwerwiegenden Entwicklung auf der internationalen Ebene bedürfen, um den gegenwärtigen Entwicklungen, die dem Separatismus in Karabach endgültig das Wasser abzugraben scheinen, eine andere Richtung zu geben.

Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Manuskripts (Mittwoch, 20. September 12 Uhr 15 MESZ) hat Aserbaidschan bekanntgegeben, seine „Antiterrormaßnahmen“ würden um 13.00 Uhr lokaler Zeit beendet, während das Russische Friedenstruppenkontingent versicherte, die Separatisten würden entwaffnet und armenische Armeeeinheiten das Hoheitsgebiet Aserbaidschans verlassen.

Das offizielle Aserbaidschan bekräftigte seine Absicht, die armenische Community Karabachs in seine verfassungsmäßige Gesellschaftsordnung reintegrieren. Zu diesem Zweck soll morgen, am 21. September, ein Treffen zwischen aserbaidschanischen Regierungsvertretern und Vertretern der armenischen Community in Karabach in der Stadt Jewlach stattfinden.

All dies könnte darauf hindeuten, dass die kurze militärische Zuspitzung vom 19. und 20. September 2023 tatsächlich das Ende von 30 Jahren blutigem Separatismus und Okkupation in Aserbaidschan einleiten könnte. Möge der letzte Krieg um Karabach bald endlich Geschichte sein!

Nachtrag: Nach Fertigstellung des Beitrags ist bekannt geworden, dass die Separatisten von Karabach ihre Waffen niederlegen und Vertreter der Armenier Karabachs in direkte Verhandlungen mit den aserbaidschanischen Behörden treten wollen.


Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe. Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Schuschas Vermächtnis“ (Gulandot 2022), „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.