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Kommentar
Botschafter Ali Kemal Aydın: Die Türkei sollte nicht allein gelassen werden

„Die Bundesrepublik Deutschland ist dasjenige europäische Land, das die Konsequenzen der Krise in Syrien am stärksten spürt. Wir wissen, dass unsere deutschen Partner, die in Europa die weitaus größte Zahl syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben, uns besser verstehen."

(Archivfoto: AA)
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Ein Gastkommentar von Ali Kemal Aydın, Botschafter der Republik Türkei

Der Krieg in Syrien setzt sich unvermindert seit 9 Jahren fort. Wir sind seitdem Zeuge unbeschreiblicher Grausamkeiten und der Zerstörung eines Volkes und ihres Landes. Der Konflikt hat seit Mai 2019 eine neue Wendung genommen. Das Regime in Damaskus hat seine bereits brutale Militärkampagne gegen Millionen von unschuldigen Syrern in der Provinz Idlib verstärkt. Die überwältigende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft ist überzeugt, dass das Regime wahllos gegen eine ganze Bevölkerung vorgeht.

Die schweren Verstöße des Regimes stellen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Dies ist ein weiterer Ausdruck seines langjährigen Bestrebens, den Konflikt durch einen „militärischen Sieg“ zu überleben. Sein endgültiges Ziel ist es, die Aussicht auf eine politische Lösung zunichte zu machen.

Die Türkei teilt eine 911 km lange Landesgrenze mit Syrien und ist ein unmittelbarer Nachbar der Provinz Idlib. Wir sind allen Auswirkungen der Gräueltaten des Regimes direkt ausgesetzt. Indem wir fast zwei Drittel aller syrischen Flüchtlinge weltweit beherbergen, haben wir praktisch die Last von insgesamt fast 9 Millionen Syrern auf unserem eigenen Boden und im Norden Syriens übernommen. Wir haben rund 40 Milliarden Euro ausgegeben, um ihre Bedürfnisse zu decken.

Die Bundesrepublik Deutschland ist dasjenige europäische Land, das die Konsequenzen der Krise in Syrien am stärksten spürt. Wir wissen, dass unsere deutschen Partner, die in Europa die weitaus größte Zahl syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben, uns besser verstehen.

Nun haben die willkürlichen Angriffe des Regimes eine neue humanitäre Krise in Idlib und eine Massenvertreibung in Richtung der türkischen Grenze verursacht. Obwohl wir bereits unsere Kapazität zur Aufnahme weiterer vertriebener Syrer überschritten hatten, wurden wir gezwungen, als Erster auf diese Herausforderungen zu reagieren.

Infolge der Militärkampagne des Regimes in Idlib und der mindestens abertausenden Waffenstillstandsverletzungen seit Mai 2019 wurden mehr als 2.000 Zivilisten getötet. Mehr als zwei Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, wurden in Richtung unserer Grenze verjagt. Wie die UN selbst mitgeteilt hat, ist dies eine der schlimmsten von Menschen verursachten Vertreibungen, die man im letzten Jahrzehnt weltweit erlebt hat. Dafür sind ausschließlich das Assad-Regime und seine Unterstützer verantwortlich. Dies muss gestoppt werden.

Die Türkei hat größte Anstrengungen unternommen, um zur Schaffung eines landesweiten Waffenstillstands beizutragen. Im Einvernehmen mit den beiden anderen Garantiestaaten der Astana-Plattform, Russland und Iran, unterstützten wir die Schaffung von „Deeskalationszonen.“ Wir haben 12 Beobachtungsposten entlang der Grenzen der Deeskalationszone Idlib errichtet, um die Einhaltung des Waffenstillstands zu gewährleisten.

Das Regime und seine Verbündeten handelten weiterhin in eklatanter Verletzung all dieser Vereinbarungen und früherer Waffenstillstands. Doch trotz zahlreicher Provokationen und Schikanen durch die Regimekräfte und ihre Unterstützer gegen die auf den Beobachtungsposten stationierten türkischen Soldaten, zeigte die Türkei äußerste Zurückhaltung, um eine direkte militärische Konfrontation zu vermeiden. Das Regime und seine Helfer wurden auf höchster Ebene öffentlich dazu aufgerufen, diese wiederholten Angriffe einzustellen.

Stattdessen erhöhten sie ihre Angriffe. Sie zielten direkt und bewusst auf die türkischen Soldaten in Idlib. Am 27. Februar wurden ein türkischer Militärkonvoi zur Verstärkung eines türkischen Beobachtungspostens sowie einige Befestigungsanlagen südlich der Deeskalationszone von Idlib absichtlich ins Visier genommen. Dieser abscheuliche Angriff führte zum Verlust von 33 unserer Soldaten. Seit Anfang Februar haben wir insgesamt mehr als 45 Verluste zu verzeichnen.

Die türkischen Streitkräfte haben reagiert und mehrmals Vergeltung ausgeübt. Wir werden dies auch weiterhin tun. Seit Anfang Februar 2020 wurden fast 2.000 Regime-Elemente zusammen mit Dutzenden von Panzern und verschiedener Ausrüstung ausgeschaltet.

Das Ziel unserer Präsenz in Idlib ist von Anfang an gleich geblieben: (i) die Zivilbevölkerung zu schützen, indem wir die Aggression des Regimes gegen sie beenden, (ii) die Sicherheit der türkischen Soldaten zu gewährleisten, die im Rahmen des Memorandums vom 4. Mai 2017 stationiert wurden, (iii) den Status der Deeskalationszone Idlib zu erhalten, (iv) zur Errichtung eines landesweiten Waffenstillstands gemäß der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 beizutragen, (v) einen raschen und ununterbrochenen Zugang für humanitäre Hilfe zu den Bedürftigen zu gewährleisten und (vi) Massenvertreibungen in die Türkei und darüber hinaus zu verhindern.

Diese Erwartungen wurden Russland bei unseren Treffen in Ankara und in Moskau übermittelt. Unsere berechtigten Erwartungen blieben jedoch bisher unerfüllt.

Wir werden unsere Beobachtungsposten in Idlib nicht verlassen. Wir werden unsere militärische Verstärkung fortsetzen, soweit dies zur Gewährleistung der Sicherheit unserer Streitkräfte und unserer Grenze erforderlich ist.

Die Türkei ist der territorialen Integrität und der politischen Einheit Syriens verpflichtet. Sie wird ihr Möglichstes tun, um zu deren Wiederherstellung beizutragen, sobald der von Syrien geführte und von der UN unterstützte politische Prozess unter syrischer Führung und in syrischem Besitz eine glaubwürdige, integrative und nicht-sektiererische Regierungsführung bildet.

Wir stehen jetzt an einem Wendepunkt in Idlib. Die internationale Gemeinschaft sollte den Ereignissen in Idlib nicht gleichgültig gegenüberstehen. Sonst wird dies eine umfassende Auswirkung haben, die sich auf die Türkei und den Rest Europas erstreckt. Damit es nicht dazu kommt, zählen wir auf den weiteren Beistand und anhaltende Unterstützung unserer Partner und NATO-Verbündeten.

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