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Kommentar: Harter Brexit immer noch denkbar?

Der zaghafte erste Frühlingssonnenschein, den die britische Hauptstadt London gerade erlebt und die normalerweise damit verbundene Lebensfreude ist trügerisch, denn im Parlament werden wieder einmal, oder besser gesagt immer noch, die rhetorischen Messer gezückt.

(Symbolfoto: pixa)
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Harter Brexit immer noch denkbar?

Von Klaus Jurgens

London (nex) – Der zaghafte erste Frühlingssonnenschein, den die britische Hauptstadt London gerade erlebt und die normalerweise damit verbundene Lebensfreude ist trügerisch, denn im Parlament werden wieder einmal, oder besser gesagt immer noch, die rhetorischen Messer gezückt.

Von Harmonie und Einklang, egal ob mit der Natur oder mit den politischen Kontrahenten (und oftmals noch nicht einmal mit den eigenen Parteifreunden) ist wenig bis gar nichts zu spüren.
Und draußen, vor den Toren des Westminster Palace, wo sich die nationale und internationale Medienwelt einfindet – mittlerweile in einem eigens dafür hergerichteten Zelt-Dorf – herrscht weiterhin Ratlosigkeit.

Man kommentiert, man lädt hochrangige Gesprächspartner auf sein Podium ein, aber zumeist bekommt man als Antwort nur eine Repetition der allseits bekannten Optionen zu hören, anstelle eines soliden „ja, genau so wird es ausgehen“.

Es weiß nämlich niemand mit Ausnahme vielleicht von Premierministerin Theresa May selber, was letztendlich passieren wird; nur falls sie es weiß, hat sie gelernt, perfekt Katz und Maus zu spielen. Sie war so oft in Brüssel, nur sie weiß, was hinter verschlossenen Türen besprochen wurde, falls doch noch alles aus dem Ruder laufen würde… und sie muss doch auch Insider-Freunde in London haben, die ihr genau sagen, wer was will… oder etwa nicht?

Polarisierung schlägt hohe Wellen

Unabhängig davon, wie man zum geplanten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union steht, eines ist sicher: es wird Jahre, sehr viele Jahre dauern, bis sich die politische Landschaft im Vereinigten Königreich wieder normalisiert haben wird.

Junge Menschen wenden sich von der Politik ab und immer mehr fortgeschrittene Generationen wollen mit dem B-Wort nichts mehr zu tun haben. Und diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die noch Interesse zeigen, gehen oftmals auf verbalem Frontalangriff. Zum Glück gab es bisher noch keine Ausschreitungen, aber man hört durchaus vermehrt verbale Entgleisungen und Benutzer der gängigen sozialen Medien glänzen ebenso nicht mit Netiquette.

In diesem Zusammenhang wird auch dringlich vor einem No-Deal gewarnt, der unabhängig von der Wirtschaftsfrage die ohnehin tief gespaltene Gesellschaft weiter radikalisieren könnte.
Und aus Nordirland hört man ohnehin meistens Kritik – harter Brexit hieße harte irische Grenze, und May’s Brexit mit Backstop hieße im schlimmsten Falle eine Art Abkopplung Nordirlands vom Vereinigen Königreich.

Und wieder wird ausgezählt

Diesen Mittwoch gibt es dann also einen neuerlichen Anlauf. Am späten Montagabend beschloss das britische Unterhaus in knapper Abstimmung (329 Stimmen dafür, 302 Stimmen dagegen), dass am 27. März das Parlament eingreift und eine Reihe von alternativen Vorschlägen berät und darüber befindet.

Noch vorher hatte Theresa May die Abgeordneten daran erinnert, dass wie auch immer das Unterhaus am Mittwoch entscheidet, es nicht alleine neue Weichen stellen kann sondern nur die Hälfte des Spektrums darstelle – die EU müsse ja auch noch zustimmen. Und bindend sind die Vorschläge ohnehin nicht, aber vom Tisch wischen kann May sie so einfach auch nicht.

Nur zur Erinnerung: May’s Minderheitsregierung wird von der nordirischen DUP gestützt, beide Parteien zusammen haben aber gerade nur einmal 327 Abgeordnete, eine auch an normalen Tagen hauchdünne Mehrheit im 650 Sitze starken Unterhaus. Von Tag 1 nach dem Referendum und den Wahlen im darauffolgenden Jahr wurde deutlich, dass eben diese 327 Stimmen nicht garantiert sind, Brexit also vom ersten Tag an auf eine breitere Koalition angewiesen ist.Nur, das hatte in der Regierungspartei bis zur letzten Minute anscheinend niemand wahrhaben wollen.

Von den sieben alternativen „Modus operandi“, die am Mittwoch anstehen, stechen besonders der über ein 2. Referendum sowie der über einen No-Deal Brexit hervor. Dann gibt es Ideen für einen softeren Brexit mit engerer EU-Anbindung sowie den Vorschlag, gleich alles zu annullieren und den Brexit für immer zu streichen. Auch ein Norwegen-Modell und ein Kanada-Modell kommen wahrscheinlich mit auf die Tagesordnung.

Fakt ist zur Zeit nur eines: die EU hat sich mit May darauf geeinigt, dass entweder diese Woche ihr Paket im dritten Anlauf die Hürde nimmt und der Brexit in geordneter Form am 22. Mai um 23.00 Uhr Ortszeit doch noch über die Bühne geht, oder, dass im Falle einer erneuten Ablehnung im Unterhaus, bis Freitag 12. April 23.00 Uhr Ortszeit, London der EU verbindliche neue Vorschläge unterbreiten muss. Letzteres würde mit Sicherheit eine erheblich längere Laufzeit bedeuten, inklusive der Teilnahme an den Europa-Wahlen im Mai dieses Jahres.

May doch noch Brexit-Heldin?

Hier in London hört man oftmals Kritik an der Premierministerin und dass ihre Tage gezählt seien. Manche gehen sogar soweit, dass sie, vom ersten Tag ihrer Amtszeit angefangen, den Brexit-Wagen an die Wand gefahren hätte. Aber sie ist ja trotzdem immer noch am Ruder!

Und da melden sich so langsam all jene zu Wort, die vermuten, dass Frau May doch weitaus mehr politisches Kalkül besitze, als man ihr zutraut. Was wäre denn, falls am Mittwoch niemand eine Mehrheit, für welchen Vorschlag auch immer, bekommen würde, die Frist 12. April im Raume steht und einen harten Brexit eigentlich fast alle vermeiden wollen? Und an den Europawahlen will doch eigentlich – und trotz der immensen Gehälter – niemand so recht mehr teilnehmen.

Würde dann am Freitag dem 29. März 2019 spätabends eventuell doch noch eine knappe Mehrheit für May’s EU-Austrittsabkommen gefunden werden? Hätte ihre Strategie – falls es denn eine war – den Brexit auszusitzen oder wie man hier so treffend sagt, ‚to run down the clock‘ doch funktioniert?

Fragen über Fragen, Spekulationen über Spekulationen. Das einzig aufmunternde ist, dass diese kurze Analyse bestens in das weitere mediale Umfeld hier vor Ort passt. Egal ob CNN, die mittlerweile manchmal einen Großteil ihres gesamten Londoner Studios hierhin verlegt haben, so wie diesen Montag, oder ob das erste britische Fernsehen BBC, Politiker aller Couleur befragt, um auch nicht schlauer zu werden… alle Kommentatoren melden Vermutungen bis zu dem Moment, wo der Sprecher des Unterhauses, John Bercow, neue Abstimmungsresultate offiziell verkündet.

Die Brexit-Saga geht in eine neue Runde, vielleicht in eine entscheidende. Aber auch das haben wir Journalisten schon viel zu oft vermeldet. Abwarten und Tee trinken scheint die beste Lösung, zumal schon wieder Regenwolken am Londoner Himmel aufkommen.