Von Nabi Yücel
„Wer es anrührt, verbrennt sich“ sagte der preisgekrönte türkische Investigativjournalist Nedim Şener in einer heute ausgestrahlten Talkshow der Habertürk. Er bezog sich dabei auf die Personenkreise, die bei ihren Recherchen oder Mutmaßungen über die Gülen-Bewegung ins Visier der Ermittlungsbehörden gerieten und im Anschluss daran in mehrjährigen Verhaftungswellen festgenommen, inhaftiert oder mit Höchststrafen weggesperrt wurden.
Wer Nedim Şener in sozialen Netzwerken verfolgt, erkennt sehr schnell, dass die mehr als einjährige Untersuchungshaft zwischen 2011 und 2012 Spuren hinterlassen hat. Er ist aber bei weitem nicht der einzige, der auf die Ergenekon-Prozesse angesprochen, hitzig reagiert oder die Fethullahistische Terrororganisation – genannt FETÖ, die laut türkischen Strafverfolgungsbehörden vom islamischen Prediger Fethullah Gülen angeführt wird – verteufelt.
Neben Şener sind weitere 234 Personen und vermutlich mehr als 80 Millionen Bürger auf die Gülen-Bewegung nicht gut zu sprechen. Es gibt da noch Adil Serdar Saçan, den ehemaligen Polizeichef, der damals einige hochrangige Ermittlungen anführte und offenbar zu nah an die Gülen-Bewegung innerhalb des Justiz-Apparats geriet. So nah, dass die FETÖ ihn 2008 ebenfalls mit einem Prozess und anschließender Verurteilung aus dem Weg räumte. Oder, Mustafa Balbay, einem Journalisten, der erstmals 2008 verhaftet, 2009 dann inhaftiert wurde.
Um alle weiteren 232 Personen aufzuzählen und deren Martyrium ausführlich darzulegen, weil sie in irgend einer Art mit dem Gülen-Netzwerk in Konflikt gerieten oder deren Netzwerk hätten empfindlich stören können, reicht wahrscheinlich kein Menschenleben. Die Erlebnisse mehrerer in Haft Verstorbener, wie die des Unternehmers Kuddusi Okkır, dem Nachrichtendienstler Kaşif Kozinoğlu oder der Autorin Türkan Saylan, die werden wir nicht mehr wiedergeben können.
Es gibt aber noch ein Klientel, auf die diese 235 Personen teils nicht gut zu sprechen sind, auch wenn diese die FETÖ ebenfalls verteufeln: die Unterzeichner einer Erklärung vom August 2008. In dieser Erklärung forderten namhafte Journalisten, Autoren, Rechtsanwälte, Akademiker, sozusagen Humanisten, Demokraten und Sozialisten, ein Manifest, in der sie die Vertiefung und Ausweitung der Ergenekon-Ermittlungen forderten.
Vor allem Nedim Şener ist auf diese Personen nicht gut zu sprechen, denn er wirft diesen Personen vor, die Ausweitung der Operationen begünstigt, die gesellschaftliche Grundhaltung darauf getrimmt zu haben. Und, Şener hat nicht Unrecht, wenn er jetzt genau diese Personen nach dem Grundsatzurteil vom Montag massiv angeht. Keiner dieser Personen fand es für moralisch geboten, sich für diese mediale Schlammschlacht, für die Vorverurteilung, für die Kriminalisierung im Nachhinein vor oder nach diesem Grundsatzurteil zu entschuldigen oder wiedergutzumachen, was zuvor mit angestoßen wurde. Es herrscht seit Montag weiterhin stille im Wald.
Diese Liste führte u.a. dazu, dass im Nachgang Mustafa Balbay verhaftet wurde und niemand auch nur den Finger rührte. Schlimmer noch, die Familie wurde zusehends isoliert, die Kinder wurden in der Schule gemieden, im Haus wollte niemand mehr mit der Ehefrau in Kontakt treten oder die nachbarschaftlichen Beziehungen pflegen. Als Nedim Şener verhaftet wurde, blieb das Raunen in der Öffentlichkeit aus. Als dann der ehemalige Generalstabschef İlker Başbuğ im Jahre 2012 verhaftet wurde, hatte man sich längst damit abgefunden und erwartete sogar, dass die Vorwürfe stimmen. Die Listenunterzeichner hatten ihr bestmögliche getan und dieses Martyrium gefördert.
Gegenwärtig gibt es noch immer Stimmen, vor allem aus dieser besagten Liste, die doch tatsächlich immer noch meinen, die amtierende Regierungspartei AKP bzw. der derzeitige Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe diese Machenschaften unterstützt, um die Macht des Militärs zu stutzen, seine Macht zu erhalten. Şener erklärt dazu immer wieder, die Journalisten, Rechtsanwälte, Autoren, Akademiker oder Medien hätten Erdoğan quasi alleine gelassen, ihre Pflicht wahrheitsgemäß zu berichten vernachlässigt, dafür Sensationsberichte verfasst und damit das Treiben begünstigt, was auch zur Folge hat, dass der Premier unter Druck gesetzt wird. Immer wieder hebt er dabei hervor, dass das Justizministerium auf Anweisung durch den damaligen Premier Erdoğan am dritten Tag nach seiner Verhaftung den zuständigen Istanbuler Polizeipräsident Al Fuat Yilmazer und Staatsanwalt Zekeriya Öz abgesetzt habe – letzterer befindet sich auf der Flucht, mutmaßlich hält er sich in Deutschland auf.
Auch İlker Başbuğ hob mehrmals hervor, dass seine Verhaftung ein Signal an Erdoğan war, die Füße stillzuhalten, zumal man bereits Operationen gegen den Nachrichtendienst MIT geführt habe. Erdoğan sei zu dieser Zeit (2012) bereits alleine gewesen, jede Intervention seinerseits sei im Keim erstickt worden, man habe sogar versucht zu dieser Zeit den Präsidenten des Nachrichtendienstes MIT, Hakan Fidan, festzunehmen, so Başbuğ weiter.
Der gegenwärtige CHP-Oppositionelle und damalige Oberstaatsanwalt İlhan Cihaner, der ebenfalls zu nahe an die Gülen-Bewegung geriet, wurde 2010 aus dem Verkehr gezogen. Er teilt die Auffassung, dass der damalige Premier bewusst irregeführt wurde, um seine Verhaftung mit Kompetenzstreit und anschließend mit fingierten Beweisen zu legitimieren. Dennoch habe Premier Erdoğan lange Zeit seine Arbeit verfolgt und unterstützt, bis schließlich der Korruptionsskandal vom 17-25. Dezember 2013 auch indirekt ihn erreicht habe.
Es gibt in diesem Martyrium eine Kontinuität, die eins zum Ziel hatte: die nationalen (Ulusal) Kräfte auszuschalten, die gesellschaftliche Projektionsfläche aufzuheben. Wie Şener auch in dieser heutigen Sendung wiederholt betonte, wurde dies unter den Augen der Unterzeichner der Liste, sprich den türkischen Medienvertretern und akademischen Kreisen, vollzogen. Diese „Humanisten“, „Demokraten“ und „Sozialisten“ waren tatkräftig daran beteiligt, diese Kräfte auszuschalten, sie gesellschaftlich ächten zu lassen, ein für allemal aus dem Gedächtnis zu tilgen. Und wie Şener weiter betont, hat die Europäische Union, hat Amerika nicht den Finger erhoben, nicht verurteilt oder kritisiert, um dieses Treiben zu hinterfragen, wie sie es gegenwärtig in allen anderen Fragen ausgiebig tun.
Auch das hat bei Şener und all diesen Personen Spuren hinterlassen. Das Ergenekon-Komplott, wie man sie heute nennt, war beinahe in Vergessenheit geraten, wäre dieses Grundsatzurteil nicht gefallen. Umso erstaunlicher ist es, dass dieser beinahe 12-jährige Mammutprozess kaum Beachtung findet. Nur wenige hoben die Bedeutung dieses Urteils hervor, aber immer mehr wachen aus dem Koma auf und zeigen nun mit dem Finger auf die Listen-Unterzeichner, die hierbei eine unsägliche Rolle gespielt haben.