Start Geschichte Die „Faschismus“-Schlacht Kommentar: Wenn “der Türke” nichts zu sagen hat

Die „Faschismus“-Schlacht
Kommentar: Wenn “der Türke” nichts zu sagen hat

"Faschismus-Vorwürfe als Teil politischer Grabenkämpfe sind abzulehnen. Im Urpsrungsland des Nationalsozialismus wären allerdings auch mehr Selbstkritik und ein Wille zu genauerem Hinsehen angebracht."

(Symbolfoto: nex24)
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Von Irma Kreiten

Der Begriff des „Faschismus“ ist aus einem konkreten historischen Kontext heraus entstanden. Gebräuchlich wurde er im Italien der 1920er Jahre. Im Zuge von typisierenden Vergleichen diente er alsbald dazu, auch politische Phänomene in anderen Ländern zu beschreiben.

Es existieren allerdings unterschiedliche Ansichten dazu, welche Merkmale faschistische Strömungen im Einzelnen ausmachen. Eines dieser Merkmale ist laut Hannah Arendt die „Massengesellschaft“, in der Individuen ihre Bindungsfähigkeit verlieren, der nunmehr atomisierte Einzelne nicht mehr in Verbände, Gewerkschaften, Parteien, religiöse Zusammenschlüsse eingebunden ist, die einem totalitärem Zugreifen durch übergeordnete Strukturen oder Akteure einen gewissen Riegel vorschieben. Die Verwandlung einer durchstrukturierten Gesellschaft in eine amorphe Masse, die als emotionsgesteuertes Kollektiv handelt, geht einher mit der Ausgrenzung von als „fremd“ Begriffenen bzw. der Errichtung von „Feinden“.

Laut Arendt ist es allerdings nicht ein bestimmtes Weltbild, das sich für derartige Mobilisierungen eignet, eine gesellschaftliche Radikalisierung kann sich auf Grundlage ganz unterschiedlicher Ideologien vollziehen. Eine faschistische Bewegung muß auch nicht auf einen nationalen Rahmen begrenzt bleiben: Gemäß dem amerikanischen Politikwissenschaftler Matthew Lyons kann sie auch eine internationale Ausrichtung erhalten und dann über nationale Grenzen hinweg auf der Basis von rassischer oder ideologischer Solidarität agieren.

Faschismus“ löste sich somit von seinem ursprünglichen lokalen Entstehungsumfeld, taugt zur Charakterisierung des deutschen Nationalsozialismus aber nur bedingt. Er wird als geeignet angesehen, dessen „Mobilisierungsphase“ zu beschreiben, sollte aber nicht mit „Nationalsozialismus“ im Ganzen gleichgesetzt werden. Daneben wird „Faschismus“ auch als politischer Kampfbegriff eingesetzt; er dient dann dazu, den jeweiligen Gegner auch jenseits von tatsächlichen Eigenschaften und Wesenszügen zu diskreditieren.

Während des Kalten Krieges wurde der Begriff etwa von linksautoritären Kreisen verwendet, die als „faschistisch“ all diejenigen beschrieben, die in aktuellen politischen Auseinandersetzungen auf der „falschen Seite“ standen. Heute sollte man mit dem „Faschismus“-Begriff entsprechend vorsichtig umgehen und ihn nur da verwenden, wo die entsprechenden historische Bezüge und Kontinuitäten bestehen, oder alternativ dazu da, wo entsprechende Merkmale und wesensgleiche oder ähnliche Mechanismen auffallen.

Wenn sich in Deutschland lebende Türken nicht frei versammeln und Respräsentanten der türkischen Regierung nicht zu ihnen sprechen können, weil per Verwaltungsvorschriften entsprechende Veranstaltungen untersagt werden, dann kommt dem selbstverständlich nicht die gleiche Qualität zu wie Repressionspraktiken der deutschen Nationalsozialisten. Immerhin aber ist Deutschland nicht irgendein Land, sondern das Ursprungsland des Nationalsozialismus.

Nationalsozialistische Strukturen bzw. deren Überreste und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Spätfolgen können auch heute noch nicht als vollständig überwunden gelten.Trotz Entnazifizierung und einer Umerziehungspolitik, die die Deutschen – zumindest in der Anfangszeit – denn auch weniger eigener Einsicht als der Politik der Alliierten zu verdanken haben, haben sich innerhalb des deutschen Staates lange nach der „Stunde Null“ noch nationalsozialistische personelle und (teils auch) inhaltliche Kontinuitäten halten können, ob nun in Verfassungsschutz, im Auswärtigen Amt oder auch im wissenschaftlichen Bereich.

In meiner eigenen akademischen Disziplin, den Osteuropa-Wissenschaften, war bis mindestens in die 1990er Jahre hinein Personal in verantwortungsvollen Positionen beschäftigt, das unter der Herrschaft der Nationalsozialisten Karriere gemacht und sich diesen angedient hatte – angedient teils sogar im direkten militärischen Sinne. Ehemalige nationalsozialistische „Ostforscher“ wurden nach mehreren Jahren der Zwangspause bzw. eines außerinstitutionellen Daseins in der Nachkriegsgzeit auch dann wieder in Ämter und Würden gehoben, wenn sie sich von völkischem Gedankengut und ihrem früheren Wirken nicht distanziert hatten. Damit setzten sich auch nationalsozialistische Forschungsinhalte und -ansätze in der bundesrepublikanischen Forschung fort. Auch das Wissenschaftsverständnis der Nazis, demzufolge Akademiker nicht unabhängig wirkten, sondern sich in den Dienst der Politik bzw. Volksgemeinschaft stellten, konnte in diversen Abwandelungen weiterleben.

Aus Sicht der deutscher Mehrheitsgesellschaft mögen die benannten Auftrittsverbote als legitim erscheinen, insofern als diese sich (gemäß inoffizieller, populärer Begründungen) gegen „antidemokratische“ Bestrebungen richten. Mit etwas Abstand betrachtet lassen sich bei derartigen Argumentationsführungen und Vorgehensweisen aber durchaus rassistische Untertöne ausmachen. Auch im Alltagsleben taucht immer wieder die Denkfigur auf, daß „der Türke“ nichts zu sagen habe – hier besteht also eine Kontinuität durch die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ebenen hindurch.

Zum einen wird „dem Türken“ (eine sehr vage gefaßte Kategorie, ein fremd klingender Name mag hierzu ausreichen, manchmal scheint diese Bezeichnung schlicht auch als Synonym für „Muslim“ bzw. „nicht reformierter Muslim“ verwendet zu werden) unterstellt, für intellektuelle Auseinandersetzungen nicht ausreichend gerüstet zu sein: Er hat nichts zu sagen im Sinne, dass er nicht sprechen könne, er keine sachliche Ausdrucksweise beherrsche, ihm die Argumente fehlen und die soziale Kompetenz für faire Diskussionen und stichhaltige Kritik abgehen würden. Zum anderen hat „der Türke“ nichts zu sagen in dem Sinne, dass ihm das Recht auf kritische Äußerungen nicht zustehe. Er habe keine Ansprüche anzumelden, er habe nichts zu bemängeln (schon gar nicht an deutschen Verhältnissen), er könne, wenn es ihm nicht passe, ja anderswohin, „in seine Heimat“ gehen. Die Erwartung eines Austauschs auf Augenhöhe wird in derartigen Zusammenhängen als Anmaßung gewertet.

Ein solches Verwehren von Gelegenheiten, sich in öffentliche Debatten einzubringen, bei gleichzeitig deutlich anderen Vorgehensweisen gegenüber anderen Akteuren (aktuell die türkische Opposition), kann tatsächlich als Ausdruck von Rassismus gewertet werden. Hierzu ist folgendes hinzuzufügen: Rassismus im klassischen Sinne ist im heutigen Deutschland out. Biologistische Theorien überlässt man doch lieber marginalen rechten Gruppierungen, den zum Klischee geronnenen Kahlköpfen auf der Straße vielleicht oder auch Altherrenrunden in Wirtshaus-Hinterzimmern.

Die Neue Rechte dagegen hat dazugelernt und formuliert extremistische Parolen einfach um. Ein solcher Strategiewandel wurde bereits vor Jahrzehnten eingeleitet. Die nationalsozialistisch geprägte Publizistin Thora Ruth hatte etwa 1973 bemerkt, daß die Forderung „Die sollen doch heimgehen“ nicht mehr gut klinge. Dagegen könne man aber beispielsweise auch Linke für sich gewinnen, wenn man stattdessen „Dem Großkapital muss verboten werden, nur um des Profits willen ganze Völkerscharen in Europa zu verschieben. Der Mensch soll nicht zur Arbeit, sondern die Arbeit zum Menschen gebracht werden“schreibe. Eine solche umformulierte Aussage gestaltet sich gesellschaftlich konsensfähiger, läuft aber  inhaltlich letztendlich doch wieder auf auf ein „Ausländer raus“ hinaus.

Heute dürfen in neurechten bzw. rechtspopulistischen Kreisen auch Personen mit migrantischer Herkunft sprechen. Gerne präsentiert man Autoren oder Parteimitglieder, die aus Polen, Griechenland, der Türkei, dem Irak, Syrien, Marokko oder Tunesien stammen.

Man zeigt damit seine Offenheit, seine Toleranz vor und belegt damit scheinbar die „Überwindung“ rassistischer Einstellungen innerhalb der eigenen Reihen. Im gleichen Zuge allerdings bestätigt man sich dabei auch selbst. Der „Andere“ taugt als jüngeres, minderwertiges Spiegelbild, das illustriert, wie erstrebenswert der eigene Status, die eigene Lebensweise seien. Über Nachahmung bekommt der „Vertreter westlicher Kultur“ die eigene Überlegenheit bestätigt. Auf die europäische Kolonialzeit bezogen hat der indischstämmige Literaturwissenschaftler Homi Bhabha vom Akt der „Mimikry“ gesprochen: Der Andere soll (etwas vereinfacht gesagt) fast so sein, wie sein westliches Vorbild, aber nicht ganz – um nicht als makellose Kopie die Überlegenheit des Europäers in Frage zu stellen.

In heutigen rechtspopulistischen Kreisen ist auf auffällige Weise gerade für diejenigen Platz, die die jeweiligen Thesen vertreten und ein bestimmtes Weltbild transportieren.* Man lässt “Ausländer” dann u.a. das sagen, was aus ihrem Munde besser bzw. weniger anstößig klingt, als wenn es etwa ein weißer, männlicher, privilegierter Mitteleuropäer sagt. Denn jemand mit dunkler Hautfarbe, fremdem Namen oder ausländischem Akzent, kann ja – in dieser Logik – nicht rassistisch sein. Die Partizipationsmöglicheiten, die rechtspopulistische Kreise „fremdstämmigen“ Personen bieten, folgen somit auch dem Hintergedanken bzw. erfüllen die Funktion, mit diesen sozusagen lebende Beispiele anzuführen dafür, daß die eigene Ideologie nicht anstößig, menschenfeindlich sein könne. Die Vorzeigemigranten der recht(spopulistisch)en Szene wie Akif Pirinçci, Imad Karim oder Hamed Abdel-Samad sind behilflich beim Unterfangen, sich ein weltoffenes Image zu geben und entsprechende Verdachtsmomente von sich zu weisen.

Achille Demagbo, Mitglied im Landesvorstand der AfD Schleswig-Holstein, sagt über sich, er sei kein “Quoten-Neger”. Demagbo betont, dass er, wie viele andere Migranten auch, „wertkonservativ“ eingestellt sei. Das wirkt gut und solide. Er sagt aber auch, dass er die entsprechenden Werte erst in Deutschland kennengelernt habe. Das klingt ein wenig so, als ob er gänzlich ohne Werte im Gepäck aus Afrika angereist sei und damit unplausibel. Der AfD-Kandidat soll außerdem Kant, Hegel und Nietzsche schätzen. In einem Porträt in Welt/N24, das hier beispielhaft für neurechte Argumentationslogiken stehen soll, erklärt er gegenüber Matthias Matussek: „Ich würde nie in einer fremdenfeindlichen Partei Mitglied werden, aber jetzt mal umgekehrt: Welche rassistische Partei würde einen Schwarzafrikaner in den Vorstand wählen?“. Was Vertreter der Neuen Rechten im Herzen erfreut, scheinen Migranten zu sein, die nahezu perfekte Kopien ihrer selbst abgeben, solche, die gleichartige Ansichten,Überzeugungen und Werteorientierungen vertreten, diese aber erst „von den Europäern“ selbst erworben haben. „Gleichwertigkeit“, so muss man leider feststellen, entsteht hier nicht aus sich selbst heraus, sondern per Assimilation.

Letztendlich bleiben viele, vermeintlich „offene“ Gesprächsräume doch den Schemata und Funktionsweisen eines rechten Ethnopluralismus treu. Der frühere biologische Rassismus (mitsamt seinem Vernichtungsdenken als letzter Konsequenz, die aus Andersartigkeit gezogen werden kann) wird heute durch einen kulturalistischen Rassismus ersetzt. Man stört sich weniger am Anderen, weil er aus einem anderen Land kommt oder anders aussieht, sondern weil er sich – weiterhin – anders verhält und anders denkt, er sich nicht bis in die private Lebenswelt hinein an die ihn umgebende Mehrheitsgesellschaft anpasst. Man beruft sich bei neueren Ausschlusspraktiken auf die sogenannte „Wertegemeinschaft“ und „Zivilisation“. Heutzutage scheinen einige mittigere deutsche Demokraten zu unterteilen in „schlechte Türken“, d.h. solche, die religiös und konservativ orientiert sind und damit vermeintlich „westliche“ Werte ablehnen, und „gute Türken“, die sich säkular, fortschrittlich, prowestlich geben – wobei übersehen wird, daß hiermit vorrangig Lebensstile und geopolitische Orientierungen beschrieben sind und nicht die Demokratiefähigkeit, wie sie sich im jeweiligen politischen Handeln ausdrückt.

Als Fremdheitsmarker dient seit den 1980er und 1990er Jahren zunehmend der Islam. Dieser wird gerne als „inkompatibel“ mit „unseren Demokratien“ dargestellt. Der „Muslim“ erscheint – in Rückgriff auf den Orientalismus früherer Jahrhunderte – als Synonym für Rückständigkeit, Despotie und Gewaltbereitschaft. Wie fadenscheinig eine Berufung auf eigene „liberale Werte“ und das Aufmachen von Unterschieden auf dieser Basis sein kann, sollte u.a. ein Beispiel aus „Tichys Einblick“ zeigen:

Gerade in diesem bisweilen rechtspopulistisch eingefärben Publikationsorgan, das u.a. verschwörungsideologisch wirkende Darstellungen verbreitet (und in dessen Umfeld sogar stimmungsschürende Fake-News geduldet worden sind, die sich gegen Muslime richteten), durfte neulich ein Ismail Tipi auftreten und an „Besonnenheit“ apellieren. Mit einem moralischen Fingerzeig an den türkischen Staatspräsidenten verbunden wurde dort behauptet, in Deutschland lebe man „tagtäglich Demokratie, Toleranz, Nächstenliebe und Willkommenskultur“.

Der neuartige „Rassismus ohne Rassen“, auch „Neorassismus“ genannt, kann – im Unterschied zum klassischen Rassissmus – transnational ausgerichtet sein. Dazu gehört nicht nur, dass Allianzen über Ländergrenzen hinweg geschmiedet werden, sondern auch, daß, wie bereits erwähnt, unter spefizischen Voraussetzungen auch Personen migrantischer Herkunft partizipieren dürfen. In Bezug auf Inhalte aber bzw. in Bezug auf die Frage, wer sich wie und in welchem Rahmen äußern soll, kommen dann doch wieder rassistische Muster zum Tragen. So betont auch das AfD-Mitglied Achille Demagbo mit Blick auf Flüchtlinge, daß „unkontrollierte Zuwanderung“ nach Deutschland begrenzt werden müsse – die „Akzeptanz der deutschen Werte“ solle da als Vorbedingung gelten. Letztendlich sind dann doch weitgehend getrennte Lebenswelten das Ziel: Dem Anderen wird zwar ein Existenzrecht zugestanden, aber er soll dies bitte einem eigenen Bereich, „bei sich daheim“, verwirklichen. Eine weitere „Vermischung“ wird nicht angestrebt. Das „Plurale“ am Ethnopluralismus besteht damit vorrangig nicht darin, miteinander zu leben, sondern in einem räumlich getrennten Nebeneinander.

Die zugehörigen Verhaltensweisen sind mittlerweile auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft tief verankert. Da, wo die „Fremden“ bereits unter uns sind, werden sie auf gesonderte Plätze (beispielsweise„Türkenschulen“) verwiesen und wird per „Nicht-Beachtung“ und per „Vergegnung“ (so die Soziologin Naime Cakir) zumindest eine Art von innerer Ausgrenzung erzeugt. Auch außerhalb bekennender rechter oder neurechter Zusammenhänge wollten politische Akteure von Oskar Lafontaine bis Helmut Kohl noch Jahrzehnte nach Beginn der „Gastarbeiter“-Migration ihre Mitmenschen türkischer Herkunft wieder loswerden. Ein „Weghabenwollen“ war letztendlich auch Hintergrund der Morde und Anschläge, die der Nationalsozialistische Untergrund verübte, ein namenloser Terror sollte die im Visier stehenden Gruppen in die Flucht schlagen.

Das Phänomen NSU wiederum führt tief in staatliche Strukturen hinein. Auch deutsche Akademiker, die ein neorassistisches “Weghaben-Wollen” beschreiben und kritisieren, geraten, trotz unserer „offenen, demokratischen Gesellschaft“, mitunter in Schwierigkeiten. So wurde dem Politikwissenschaftler Steffen Kailitz (angestellt am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung; zeitweilig auch als Sachverständiger im bayrischen NSU-Untersuchungsausschuß tätig) im Mai 2016 per vorläufigem Gerichtsbeschluß untersagt, seine Behauptung, die NPD strebe die Vertreibung von 8-11 Millionen Menschen, darunter auch deutsche Staatsbürger migrantischer Herkunft, aus Deutschland an, weiterhin öffentlich vorzutragen. Das Urteil zog u.a. deswegen Kritik auf sich, weil der entscheidungsbefugte Richter zugleich ein aktives AfD-Mitglied war. Entschieden wurde zunächst sogar ohne mündliche Verhandlung und ohne schriftliche Anhörung von Kailitz.

Etwas anders gelagert, aber doch verwandt, ist der Fall Samuel Salzborn. Der Politologe und Sozialwissenschaftler Salzborn, der u.a. zu Rechtsextremismus und “gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit” geforscht hat, ist im Laufe seiner akademischen wie publizistischen Tätigkeit vermutlich auch an gewisse institutionelle Grenzen gestoßen. Im Sommer 2016 wurde bekannt, daß Salzborns Professur an der Universität Göttingen nicht mehr verlängert werden sollte – trotz großen akademischen Erfolgs und Beliebtheit bei seinen Studenten. Es wurde vermutet, dass die Entscheidung einen politischen Hintergrund haben könnte, sich Salzborn für den Geschmack der Universitätsleitung unter Universitätspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Beisiegel zu offen und kritisch geäußert hatte. Salzborn hatte sich u.a. am Einfluß von Burschenschaftlern an der Universität gestört und sich verschiedentlich auch kritisch über die AfD geäußert. Zudem hatte Salzborn eine Dokumentationsstelle zu „Demokratie und Menschenfeindlichkeit“ mitgeplant, die als Konsequenz aus dem NSU-Behördenversagen gedacht worden war. Die von der Universität benannten formalen Gründe für die Nichtverlängerung der Professur wurden teilweise als „vorgeschoben“ bewertet.

Ohne Unterstützung durch die Amadeu Antonio-Stiftung (mit Anetta Kahane, einer ehemaligen Stasi-Mitarbeiterin, als Vorsitzender) und ein sympathisierendes „antideutsches“ linkes Umfeld wäre allerdings möglicherweise sein Fall gar nicht erst auf diese Weise bekanntgemacht und problematisiert geworden. Salzborn selbst steht beispielsweise dem Konzept der Islamophobie eher ablehnend gegenüber und wird von Matthias Künztel auch als „islamismuskritisch“ eingeodrnet; damit dürfte er über unterschiedliche politische Lager hinweg schlicht kompatibler sein und sich ein breiteres Unterstützerfeld erschließen können als Akademiker, die neben antisemitischen Zusammenhängen zugleich auch „Islamkritiker“-Kreise thematisieren. Auf einen allgemeineren, unspezifisch „zivilgesellschaftlichen“ Geist ist zwecks Abhilfe bei derartigen Problemlagen momentan wohl kaum Verlass. Gerade deswegen sind die bekanntgewordenen „Fälle“ aber auch über das Einzelbeispiel hinaus beunruhigend. Ich frage mich unmittelbar auch, wie sich die Lage dort gestaltet, wo entsprechende Lobbynetzwerke (oftmals linksradikal bzw. moskaulastig), die an einer Thematisierung von mutmaßlichen Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit Interesse haben, noch schwächer sind oder ganz fehlen. Wie systematisch ist ein diskriminierendes Vorgehen, wann und wie erfährt die deutsche Öffentlichkeit davon?

Ich kenne ein Nicht-Reden-Lassen-Wollen im akademischen Bereich aus eigener Anschauung. Es ist einer der verdeckten Widerhaken der flexibleren, „sanfteren“ Formen des neuen Rassismus (der auch Migranten sprechen lässt, sofern diese die „richtigen“ Ansichten vertreten), dass auch Herkunftsdeutsche zur Zielscheibe rassistischer Beschränkungen werden können, wenn sie nicht die erwünschten ethnisch-kulturellen Verhaltensmuster und die – vielleicht sogar schon völkisch verstandenen – Loyalitäten gegenüber den eigenen Kollektivinteressen aufweisen. Mein Forschungsthema beschäftigt sich mit Vorläufern heutiger kulturrassistischer Diskurse und hätte sehr wohl dazu beitragen können, europäische Identitäten so weit umzuformulieren, dass sie weniger auf Ausschluss und Verdrängung beruhen, stärker aus einem tatsächlich positiven Selbstbild schöpfen und auf den für Europa als zentral erklärten humanistischen Werten zu ruhen kommen. Altlasten in Form unaufgearbeiteter Kolonialgewalt schaden nicht nur den Opfern, sondern auch den Tätergemeinschaften und ihren Erben. Konkret habe ich die koloniale Unterwerfung des Nordkaukasus durch das christliche Zarenreich untersucht und die Stereotypen und Argumentationen, die die russische Unterwerfung der westkaukasischen Völker begleiteten. Ein Teil der Nachkommen derjenigen Tscherkessen, die im 19. Jahrhundert vor den russischen Säuberungsfeldzügen ins Osmanische Reich flohen, ist im Zuge der „Gastarbeitermigration“ auch nach Deutschland gekommen. Unter denjeningen, die in Deutschland oft pauschal als „Türken“ durchgehen, befinden sich somit auch mehrere zehntausend Menschen nordkaukasischer oder ethnisch gemischter Herkunft.

Für die russischen Militärstrategen und Verwaltungsbeamten, die die zarische Kolonialpolitik vorantrieben, stand der Gedanke an physische Vernichtung ebenfalls nicht im Zentrum; man wollte aber nichtsdestotrotz den Westkaukasus von seinen ursprünglichen Bewohnern „säubern“. Als Begründung diente die scheinbar wissenschaftlich untermauerte Theorie, die Lebensweise der örtlichen Bevölkerung sei nicht kompatibel mit der „aufgeklärten“ russischen Herrschaft, die Tscherkessen ließen sich nicht in ein „ziviles“ Leben integrieren. Eventuell existieren sogar direkte ideologische Verbindungen bis hin zur heutigen Neuen Rechten, d.h. geistesgeschichtliche Kontinuitätslinien, die von N. N. Danilevsky, der in den 1840ern und 1850ern (teils unter der Ägide des Baltendeutschen Karl von Baer) die Ostküste des Schwarzen Meeres erforschte und auch entsprechend negative ethnographische Charakterisierungen der Tscherkessen sowie der übrigen nordkaukasisch Völker verfaßte, über den ebenfalls kulturzyklisch argumentierenden Oswald Spenlger bis hin zum heutigen Samuel Huntington mit seinem „Kampf der Kulturen“ reichen.

Als ich nach ersten Russlandaufenhalten einem anderen deutschen Historiker gegenüber erwähnte, daß mich der russische Alltagsrassismus gegenüber Nordkaukasiern (dort auch „Schwarze“ genannt) belaste, hielt dieser mir eine „Überidentifizierung mit meinem Forschungsobjekt“ vor. Auch mein Interesse an osmanischer Geschichte, das angesichts der geopolitischen Konstellationen im Westkaukasus des 19. Jahrhunderts durchaus schlüssig ist, wurde von meinen deutschen Kollegen ebenfalls mit Skepsis und Unbehagen aufgenommen. Als ich sagte, daß ich mir – gerade auch wegen der Forschungssituation in Russland – längerfristig eine Umorientierung auf Osmanische Geschichte vorstellen könne und ich die ohnehin schon etwas angespannte Situation scherzhaft mit „Werde ich jetzt verstoßen?“ entschärfen wollte, erhielt ich promt ein trocken und wenig humorvoll klingendes „Du hast Dich selbst verstoßen“ zur Antwort. Wer sich zu sehr auf die Fremden und deren Sichtweisen und Interessen einläßt, läuft Gefahr, auch innerhalb der deutschen Wissenschaftsszene bald selbst als fremd empfunden zu werden – dabei bin ich als Ethnologin geradezu vepflichtet, mich Perspektivwechseln zu unterziehen.

Der Rassismus, der auch dem deutschen Hochschulwesen inhärent ist, ist bekannt. Trotzdem tut man immer wieder so, als gebe es ihn nicht, wird er wegerklärt über angebliche ökonomische Zwänge und „persönlichen Erfolg“ oder „persönlichen Mißerfolg“. Besagter Kollege, der mir u.a. eine Überidentifizierung vorwarf, hat jedenfalls eine überaus steile Karriere hingelegt. Ein weiterer deutscher Historiker, den ich bei der Archivrecherche in Moskau kennengelernt hatte, fragte mich auf dem gemeinsamen Rückweg, beim Warten in der nächstgelegenen Metrostation, nach meinem Forschungsthema. Als ich ihm – ohne auf Details einzugehen – dieses kurz als das der russischen kolonialen Unterwerfung des Nordkaukasus benannt hatte, nahm er dies vermeintlich geistreich auf mit einem „Und wenn jetzt der Zug einfährt und eine Bombe hochgeht, dann freust Du Dich“. Das heißt, er leistete genau die reflexhafte Verknüpfung von „Nordkaukasier“ mit „Terrorismus“, die aus dem russischen Kolonialdiskurs stammt und die Geisteswissenschaftler eigentlich als historisch bedingt erklären und kritisch beleuchten sollten. Die Stereotypisierungen, die die Nordkaukasier im Laufe der russischen Kolonialisierung wie auch im Zuge des europäischen Orientalismus erfahren haben, werden, das zeigt diese Anekdote – per Kontaminationslogik – also auch auf diejeningen übertragen, die sie erforschen: Ich bin eine Terrorismusversteherin.

Der französische Philosoph Michel Foucault, der sich besonders für den Zusammenhang von „Macht“ und „Wahrheit“ interessierte, schuf ein Konzept, das er „sich in der Wahrheit befinden“ nannte. In seinem Vortrag „Die Ordnung des Diskurses“ beschäftigt er sich mit Sprachtabus und Sprachverboten und erklärt, daß „sich in der Wahrheit befinden“ („être dans le vrai“) nicht heißt, dass man wahre Aussagen trifft, sondern daß man sich in einem Bereich gesellschaftlicher Konventionen und etablierter politischer Verhältnisse befindet. Letztere legen fest, was als akzeptabel und vernünftig gilt. Jenseits des akzeptierten Bereichs, im „wilden Außen“, halten sich laut Foucault die „Verrückten“ auf – ihr Wort besitzt für die jeweilige Gesellschaft weder Wahrheit noch Bedeutung.

Es fällt in eine Leere, ist praktisch inexistent. Auch eine Wissenschaftsdisziplin besteht laut Foucault nicht aus all dem, was an wahren Aussagen zu einem bestimmten Thema (Forschungsgegenstand) möglich wäre; hier richtet sich anerkannte „Wahrheit“ ebenfalls nach Gewohnheiten, die sich im Lauf der Geschichte auch verändern können. Gregor Mendel etwa hätte mit seiner Verebungslehre zwar Recht gehabt,aber sich mit seiner Arbeit jenseits der theoretischen Grenzen der Biologie des 19. Jahrhunderts bewegt. Mendel sei für seine Zeit damit ein „wahres Monster“ gewesen, über das die Wissenschaft seiner Zeit folglich auch nicht sprechen wollte. Erst als das Regelwerk als solches sich veränderte, wurden seine Aussagen von anderen Wissenschaftlern als „wahr“ angesehen.

Ich bin auch ein solches Monster. Der deutschen Öffentlichkeit, die akademische eingeschlossen, fällt es offenbar schwer zu akzeptieren, daß muslimisch geprägte Bevölkerungsgruppen eine Opferrolle einnehmen können und daß das christlich geprägte Rußland genozidale Gewalt gegenüber den Tscherkessen ausgeübt hat. Dies widerspricht den gewohnten Denk- und Wahrnehmungsweisen sowie landläufigen Geschichtsbildern wie auch den narrativen Schemata der professionellen westlichen Geschichtsschreibung. Wer zum „falschen“ Thema forscht oder dieses in „verkehrter“ Richtung in Angriff nimmt, kann in den Augen seiner deutschen Mehrheitsmeinungskollegen dann bald als ver-rückt gelten. Das heißt, man befindet sich damit außerhalb eines gewissen Normbereichs, der oftmals angedeutet, weniger aber offen benannt wird, und wird dann bestenfalls bemitleidet als jemand, der nicht so recht weiß, was ihm/ihr – auch karrieretechnisch gesehen – guttut.

Repression funktioniert im deutschen Wissenschaftsbetrieb nicht über direkte Verbote, sondern über Verhaltensanreize. Wer sich einem informalen System aus Lob und in Aussicht gestellten Vorzugsbehandlungen sowie Benachteiligungen und dem daraus entstehenden Gruppendruck (u.a. dem zu vorauseilendem Gehorsam) nicht beugt, diversen zarteren Hinweisen nicht Folge leistet, erhält unter Umständen dann von seinen Vorgesetzten schrittweise seinen beruflichen Bewegungsspielraum eingeengt. Der Status sinkt, Kollegen fangen an zu mobben. Ein im eigentlichen Sinne wissenschaftlicher Diskurs bricht damit ebenfalls zusammen bzw. wird außer Kraft gesetzt; er wird ersetzt durch von außen herangetragene Pauschalurteile, Mutmaßungen und Angriffe auf die Person. Ich war schon bald durch meine deutschen Kollegen von einer Mauer aus Ignoranz umgeben: In akademischen Gesprächsrunden ließ man mich nicht mehr zu Wort kommen, getätigte schriftliche und mündliche Beiträge wurden schlichtweg ignoriert.

Einmal behauptete jemand sogar im Nachhinein, ich hätte gar keine Texte eingereicht. Auch mittels Zurückhaltung von Arbeitsmitteln wird ausmanövriert, ohne daß sich die Anwender von Sanktionierungen offen zu Beschränkungen und den dahinter stehenden Logiken und Gründen bekennen müssten. Die Zielperson wird physisch und psychisch zermürbt; weist sie dann nach einem gewissen Zeitraum Ermüdungs- und Ausfallserscheinungen auf, kann gemeinschaftlich der Beleg gefunden werden, dass mit dieser Person schon immer etwas nicht in Ordnung war. Mittlerweile wird sogar öffentlich vor mir gewarnt und ernsthaft empfohlen, sich auf inhaltliche Diskussionen mit mir gar nicht einzulassen; von grüner Seite erhalten derartige ademokratische Handlungsanleitungen auch noch Beifall. Mir ist da, wo derartige Mechansimen greifen, nicht mehr möglich, mich auf faktischer Ebene zu verteidigen. Umgekehrt halten dann in Deutschland tonangebende Wissenschaftler es offenbar nicht mehr für nötig, mir überhaupt etwas in inhaltlicher Hinsicht nachzuweisen, Argumente zu entkräften und mich zu widerlegen.

Die „akademische“ Auseinandersetzung funktioniert schlicht nicht mehr auf diesem Niveau, die Erlangung von Deutungshoheit vollzieht sich jenseits des eigentlichen wissenschaftlichen Bereiches – dem der überprüfbaren Fakten, Tatsachen und Argumente. Es gibt kein „richtig“ und „falsch“ mehr, weil derartigen Unterscheidungen in Bezug auf die Geschichte des Westkaukasus kein Gewicht mehr gegeben wird. Kritik an revisionistischen Interpretationen der Geschichte des Nordkaukasus löst sich in bloßen „Meinungen“ auf, protestiere ich, wird mir oft genug umgehend vorgeworfen, ich wolle anderen Menschen meinerseits das Wort verbieten. Dem Historiker Timothy Snyder zufolge aber wird eine Gesellschaft oder ein Land, das keinen lateralen Zusammenhalt mehr erzeugt auf der Basis einer gemeinsamen Vorstellung von Faktizität, anfällig für diejenigen politischen Akteure, die der Gesellschaft einen „großen Mythos“ anbieten wollen und diesen von oben herab zu installieren suchen.

Als ich vor noch nicht allzu langer Zeit mediale Verdrängungsmechanismen in Russland und Deutschland – natürlich mit Hinblick auf nordkaukasische Themen – zu beschreiben und miteinander zu vergleichen (nicht gleichzusetzen) suchte, erhielt ich von einer Person, die in der deutschen Russlandpolitik keine ganz unbedeutende Rolle gespielt hat (und die damit gleichzeitig einen Grund hat, politische Rücksichtnahmen und darauf fußende Praktiken des Verschweigens nicht allzu deutlich zu benennen), ein einziges Wort als Antwort: „Maßlos“. Hier wird dann bereits über die Ausdrucksweise deutlich, daß sich ein Thema außerhalb des Normbereichs, des gesellschaftlich akzeptierten Sagbaren (wie es Foucault beschreibt) befindet. Auf ähnliche Art teilte mir eine Kollegin – und das ist ebenfalls noch nicht allzu lange her – in gehässigem, abfälligem und mir gegenüber aggressivem Tonfall mit, mein Sprechen über politische Repression, die sich gegen die Aufarbeitung des Völkermordes an den Tscherkessen richtet , inklusive eines Erwähnens von direktem Vorgehen gegen nordkaukasische Intellektuelle (von Entlassungen über physische Misshandlungen und Entführungen bis hin zu Morden), sei „zu unterstellerisch und wahnwichtelig“.

Rein zufällig ist diese Historikerin, genau wir ihr „Bombe-in-der-Metro“-Kollege, institutionell eingebunden in die eingangs erwähnten, nationalsozialistisch geprägten alten Ostforschungs-Strukturen. Es nützt auch kaum, erfolgreich an internationalen Konferenzen teilgenommen oder in renommierten Fachzeitschriften publiziert zu haben. Ich kann so oft den Charakter der russischen Eroberungspolitik belegen und meine eigenen intellektuellen und akademischen Fähigkeiten unter Beweis stellen, wie ich will. Das Verhalten mir gegenüber bleibt hochgradig emotional und irrational, es setzt auf Leugnung, Verdrängung und Verleumdung. Womit ich absolut nicht gerechnet hatte war allerdings, in Deutschland in eine Situation zu geraten, in der eine intellektuelle Argumentation nichts mehr ausrichten kann – deswegen, weil sie als solche nicht hingenommen wird. Letztendlich saß ich, nachdem ich die Tage zuvor bereits in einem deutschen Krankenhaus physisch und psychisch misshandelt worden war, in einer Klinik einem rüden, selbstherrlich und generell seinen Patienten gegenüber feindselig wirkenden Psychiater gegenüber, der mir erklärte, ich hätte mein eigenes akademisches Scheitern durch vorgeschobene Krankheit verbergen wollen. Ohne Blick auf meine Abschlüsse, meine akademischen Leistungen, mein Forschungsthema erklärte er mir, er könne mich bei mangelnder Einsichtsfähigkeit auch gegen meinen Willen dabehalten und zwangsmedikamentieren. Ich habe ausnahmsweise geistesgegenwärtig und entschlossen reagiert und bin – unter hinterhergerufen Drohungen und Einschüchterungsversuchen – schlicht gegangen.

Wer in Deutschland das Pech hat, mit intellektueller oder politischer Betätigung Interessenslagen „von Bedeutung“ in die Quere zu kommen oder wer schlicht zu unkonformes, unbestechliches Verhalten aufweist, der oder die muss damit rechnen, wie ein kaputter, dysfunktionaler Gegenstand behandelt zu werden – als Objekt, nicht als ein denkendes Wesen, mit dem man in einen verbalen Austausch treten könnte. Die Depersonalisierung und Entmenschlichung – man schließt aus dem Personenkreis derer, die ernstzunehmen wären und denen man zuhören müsste, schlicht aus – die da praktiziert wird, empfinde ich persönlich als schäbiger, hinterfotziger und schwerer zurückzuweisen als juristische Anklagen.

Unabhängig davon, ob Prozesse in der Türkei nun im Einzelnen immer fair verlaufen, ist aus meiner Sicht doch auffällig, dass angeklagte Journalisten und Akademiker in der Türkei weiterhin als politische Gegenüber behandelt werden. Man setzt sich mit ihren Ansichten und Arbeitsweisen auseinander und gewährt ihnen damit zumindest eine Art von Minimalrespekt. Zudem können Prozesse von außen kritisch begleitet werden. Mir wäre es mittlerweile tatsächlich lieber, man müsste denn von deutscher Seite aus überhaupt klar formulieren (und dann eben entsprechend belegen), was gegen mich und meine Arbeit spricht. Da die deutsche Vorgehensweise sich jenseits der Logik von Beweisführungen und Belegen vollzieht, ist sie auch keiner Überprüfung zugänglich.

Dass einem Deniz Yücel aktuell aufgrund seiner Inhaftierung durch türkische Behörden derart viel Aufmerksamkeit zuteil wird, halte ich mit Hinblick auf das Prinzip der Gleichbehandlung für unangemessen. Wenn nun mit einigem Pathos beispielsweise öffentlich darüber gesprochen wird, dass sich Deniz Yücel ein Vitaminpräparat beim Gefängnisarzt „erkämpft“ habe, erscheint mir das angesichts meiner eigenen Erfahrungen geradezu als hyperkandidelt. Ich bin in Deutschland über einen längeren Zeitraum hinweg nicht medizinisch behandelt worden, weil man es nicht einmal für nötig hielt, mir auf normalem, vorgeschriebenen Wege eine Diagnose zu stellen. Auf den Folgeschäden bleibe ich alleine sitzen.

Dass in Deutschland auf gravierende Weise die Bewertungsmaßstäbe aus dem Lot geraten sind, sollte man eigentlich auch bereits daran ablesen können, dass die Frage, ob und wie oft Deniz Yücel in Haft rauchen kann und ob er ausreichend Kaffee erhält, mehr mediales Interesse erweckt und stärker die deutschen Gemüter bewegt als seinerzeit ein (auch noch per Drohungen angekündigter) Mord an einem nordkaukasischen Journalisten, der sich u.a. für einen muslimisch-orthodoxen Dialog und gegen Rassismus und Terrorismus eingesetzt hatte. Damit wird eine extreme Ungleichwertigkeit zelebriert gerade in dem Bereich, in dem es – dem Wortlaut nach – primär um Menschenrechte geht und damit die Gleichwertigkeit aller Menschen gelebt werden müßte. Am erschreckendsten war für mich allerdings die Erkenntnis, daß am Ende von „demokratischen“ Diskriminierungsmechanismen, wie sie auf westlicher Seite praktiziert werden, dann letztendlich doch auch physische Gewalt und die Möglichkeit einer Freiheitsberaubung stehen können.

Die französische Journalistin Florence Hartmann, die ein Buch geschrieben hatte über den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien , warf diesem darin ein Zurückhalten von Dokumenten vor, die ihrer Ansicht nach den Opfern hätten helfen können, die Belgrader Verantwortung für den an den Bosniern verübten Völkermord zu belegen. Es wurde ein Vefahren gegen sie eröffnet, das sich mehrere Jahre hinzog, der Straftatbestand lautete „contempt of court“ (zu deutsch: „Missachtung des Gerichtes“). Im März 2016 wurde Hartmann während eines Aufenthaltes in den Niederlanden zu ihrer Überraschung vor dem Internationalen Strafgerichtshofs inhaftiert. Sie beschrieb die damit enstehende Situation so, dass sie bizarrerweise den angeklagten General Ratko Mladić im Hof des Gefängnisses frei hätte herumlaufen sehen, während sie alleine weggesperrt blieb. Die bosnischen Überlebenden, die auf die Verurteilung Mladićs warteten und sie vor der Verhaftung hatten schützen wollen, indem sie sie umringten, wären von der UN und der holländischen Polizei weggetreten worden. Deutschsprachige Artikel zu diesen Vorgängen kann ich nicht finden.

Die Pathologisierung oder Kriminialisierung von Forschern, die sich mit europäischer Verantwortung für genozidale Gewalt beschäftigen, ist möglicherweise nichts, was als „unwiederholbare Einzelfälle“ gewertet werden sollte. Ein gebildeter, politisch interessierter Bekannter etwa schilderte mir, einer deutschen Afrikanistin begegnet zu sein, die zum Völkermord in Ruanda geforscht habe. Dieser sei es ganz ähnlich ergangen wie mir, sie sei „auf verschiedenste Weise“ unter Druck gesetzt worden, inklusive Morddrohungen und der Drohung mit Zwangseinweisung in die Psychiatrie, bis sie schließlich ihr Forschungsprojekt abgebrochen habe und ins Ausland gezogen sei. Bei ihrer Forschung ging es – so die Erzählung denn wahr ist – zwar nicht um Muslime, aber immerhin um die Rolle Frankreichs, Deutschlands und Belgiens beim ruandischen Völkermord. Auffällig war nicht nur das Statement an sich, sondern auch, dass die darin enthaltene Behauptung von einem nicht ganz so kleinen Personenkreis mit großer Gleichgültigkeit aufgenommen wurde; es scheint ein deutsches Publikum kaum noch zu interessieren, ob derartige Vorgehensweisen „bei uns“ existieren und wenn ja, ob sie Ausnahme oder Regel darstellen. So bleibt es beim Gerücht.

Der kognitive Bereich, in dem Verstöße gegen die Meinungs- und Forschungsfreiheit in Deutschland grundsätzlich thematisiert werden könnten, fehlt offenbar weitgehend. Hätte ich selbst mich auf institutionellem Wege gegen die universitären Eingriffe in meine Forschungsfreiheit wehren wollen, hätte ich mich an die Ombudsfrau der DFG für Fragen wissenschaftlichen Fehlverhaltens wenden müssen. Das wäre zum damaligen Zeitpunkt Ulrike Beisiegel gewesen. Diese war nicht nur aktiv in moskaulastigen „Friedensnetzwerken“, sie ist heute auch die Göttinger Universitätspräsidentin, auf deren Unbehagen an der Arbeit und den politischen Äußerungen Samuel Salzborns die entsprechende Vertragsbeendigung zurückgeführt wurde. Für mich scheiterte ein formales Verfahren allerdings schon daran, daß der Tatbestand „Professor hält Doktorandin zu Geschichtsrevisionismus und tendentiösen Arbeitsweisen an“ (und dergleichen) in der Liste der möglichen Verstöße gegen „gute wissenschaftliche Praxis“ gar nicht zu finden, also nicht vorgesehen war.

Wenn Aufarbeitung von an Muslimen verübten Verbrechen jedoch nicht mehr möglich ist oder auf gravierende Weise erschwert und behindert wird, so kann dies die Grundlage abgeben für weitere Ausschlußpraktiken und neue Gewaltwellen. Mit die effektivste Konfliktprävention besteht immer noch in der Aufarbeitung von Feindbildern aus vorausgegangenen Konflikten und dem Aufbrechen von „wir gegen die“-Sichtweisen. In der deutschen Öffentlichkeit befinden sich jedoch weiterhin die kolonialen Bilder zu Nordkaukasiern im Umlauf, die im 19. Jahrhundert die russischen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge vorbereiten und rechtfertigen halfen und die sich teils auch mit dem allgemeineren orientalisierenden Blick auf „die Muslime“ mischen.

Auch den Familien der NSU-Opfer hat man im Zuge der Ermittlungen jahrelang nicht zugehört. Es hilft dann wenig, im Besitz tadelloser rechtssstaatlicher Strukturen zu sein, wenn die Menschen, die diese Strukturen ausfüllen sollen, sich nicht an die üblichen Arbeitsschritte halten und nicht die gebotene Umsicht walten lassen, stattdessen das weiterspinnen, was an Projektionen und Vorannahmen bereits in ihren Köpfen vorhanden ist. Obwohl in Migrantenkreisen früh der Verdacht geäußert wurde, dass die Morde einen rechtsextremen Hintergrund haben müssten, glaubten deutsche Ermittler vielmehr, es mit einem„archaischen Ehrenkodex“ zu tun zu haben. Der Opferanwalt Yazuv Narin sieht laut TAZ durch diese Mordserie sogar „die Strukturen des Staates grundlegend in Frage“ gestellt. Anstatt auf ein rationales, professionelles Vorgehen zu setzen, nahm die deutsche Polizei allerdings die Dienste eines Geisterbeschwörers in Anspruch. Eines der NSU-Opfer wurde so im Jenseits „metaphysisch“ befragt.

Im Umfeld von Bündnis 90/ Die Grünen – um einen dezidiert „liberalen“ Gesprächsraum als Beispiel zu nennen – ist es heute gang und gäbe, bei Kritik an deutschen Verhältnissen Gesprächspartnern mit türkisch klingenden Namen eine Ausreise nahezulegen. Ein Gesprächsteilnehmer mit türkischem Namen schreibt etwa auf Facebook mehrere Kommentare, in denen er Missfallen an u.a. deutschen Medien und ethnischer und religiöser Diskriminierung Ausdruck verleiht (manches davon wäre zu kritisieren gewesen, anderes zu unterstreichen). Zuletzt spricht er davon, daß bei der Aufarbeitung des NSU einiges schief gelaufen bzw. vertuscht worden sei. Eine ältere deutsche Dame antwortet ihm direkt nach seiner Erwähnung des NSU:

[…] an deiner Stelle würde ich “dieses undemokratische Land“ ganz schnell Richtung Heimat verlassen. Dort kannst du dich zu Hause fühlen und musst dich nicht länger ärgern“.

In einem anderen Fall folgte auf eine ablehende Äußerung in Bezug auf Cem Özdemir die Replik einer Grünen-Lokapolitikerin mit „Erdogan Anhänger sei ruhig(Originalschreibweise übernommen). Es war zuvor in keinster Weise von der Türkei, der AKP oder Erdoğan die Rede gewesen, sondern gefragt worden, was Özdemir denn für Deutschland getan habe. Der weitere Kontext war der der deutscher Sozialpolitik gewesen. Offenbar können sich auch viele „Liberale“ noch nach Jahrzehnten nicht vorstellen, daß türkischsprachige Mitbürger in Deutschland zu Hause sind. Letztendlich kann man derartige verbale Entgleisungen als weitere, kulturalistisch gewendete Version von „Ausländer raus!“ begreifen.

Ein völkisches Politik- und Kritikverständnis macht sich nicht zuletzt auch in akademischen Kreisen breit. Gerade da sollte man eigentlich wissen, daß Einwände und Gegenargumente als solche zu gelten haben und nicht an der Person des Vortragenden festgemacht werden dürfen. Bekannte von mir waren entsetzt, als eines Tages ein „Türke“ die freundliche Rückfrage stellte, ob denn jemand eine aufgestellte Behauptung auch belegen könne. Er hatte genau das getan, was man gemeinhin unter guten, zivilen Umgangsformen versteht. Gewertet wurde es als intolerabler Angriff auf „eine deutsche Bürgerin“. Das Vorgehen sei, so beschwerte man sich auch bei mir, „unerhört“ – es war wohl im besten Wortsinne un-fassbar. Gerade anhand solch banaler Alltagsinteraktionen kann man beobachten: Es werden weiterhin Unterschiede aufgemacht. Die, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, schließt man mehr oder weniger unreflektiert aus der Informationspolitik und Prozessen politischer Willensbildung aus. Man ist liberal und weltoffen, möchte aber eigentlich doch wieder nur mit denen verkehren, die sind wie man selbst. Das erinnert an ein Liberalismus-Verständnis, wie es während der europäischen Kolonialzeit praktiziert wurde. Im besonderen erinnert es mich auch daran, daß einer der Hauptorchestratoren der „Säuberung“ des Westkaukasus von den Tscherkessen im Russland des 19. Jahrhunderts als ausgemachter Liberaler galt.

Den Widerspruch zwischen universalen Menschenrechten und der faktischen Ungleichheit, die der europäische Kolonialismus mit sich brachte, suchte man in früheren Epochen gedanklich aufzulösen, indem man „Kulturen“ hierarchisierte und die Gültigkeit von liberalen Wertvorstellungen an das Erreichen einer bestimmten evolutionären Stufe knüpfte. D.h. der Grad an (vermeintlicher) Zivilisiertheit und Kultiviertheit sollte darüber entscheiden, ob Menschen ihre vollen Bürgerrecht ausgehändigt bekamen. Bhiku Parekh, ein britischer Professor für Politische Philosophie (der sich u.a. mit einer Neukonzeption von Multikulturalismus befasst hat), beschreibt, daß für John Locke, einen der Begründer des Liberalismus, die „Wilden“ der Neuen Welt gleichen Wert besessen hätten als Objekte der Fürsorge, aber nicht „gleich“ gewesen seien im Sinne von Subjekten, die das Recht zu voller Selbstbestimmung hatten. Auch einem Stuart Mill sei der Gedanke an einen „elterlichen Despotismus“, ausgeübt durch ein „überlegenes Volk“, als legitim erschienen.

Das, was umstandslos und für jeden zu gelten hat, etwa auch das Recht auf Kritik und Nachfragen, auf Beteiligung an politischen Prozessen, wird somit an die Erfüllung von Vorbedingungen geknüpft. Der amerikanische Politikwissenschaftler Uday S. Mehta meint gar, Exklusionsstrategien hätten von Anfang an einen Platz in liberalem Denken gehabt. Auch heutige Türken scheinen aus europäischer Sicht wohl noch nicht reif und rational genug, um uneingeschränkte Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Anspruch nehmen zu können. Da, wo tatsächlich ein Verstoß gegen die verfassungsmäßige Grundordnung befürchtet wird, muß mit rechtlichen Mitteln vorgegangen werden – nicht mit Verwaltungsakten und politischen Mehrheitsbeschlüssen. Menschen aufgrund bestimmter Merkmale aus dem allgemeinen Regelwerk auszunehmen, könnte man tatsächlich als Schritt in Richtung einer neuen faschistoiden Logik verstehen. Selbst bei historischen oder systemischen Vergleichen geht die deutsche Öffentlichkeit nach zweierlei Maßstäben vor. Während in der Berichterstattung zur Türkei immer wieder mit Begriffen und Topoi („Gleichschaltung“, „Erdoğans Reichstagsbrand“, „Machtergreifung“) gearbeitet wird, die auf für Deutsche besonders starke (assoziative) Weise die Abgründe der eigenen Geschichte heraufbeschwören, ist der türkische Gebrauch von Nazi-Analogien in Bezug auf deutsche Verhältnisse „bäh“. Erdoğans Sprechen vom „verdorbenen Blut“ wurde in der deutschen Presse weitflächig und entsetzt kommentiert; seine nachträglichen Erklärungen, er habe sich einer feststehenden türkischen Redewendung bedient und nicht auf rassistische Theorien anspielen wollen, wurden dagegen kaum noch wahrgenommen.

Selbst linksliberale deutsche Medien veröffentlichen politische Kommentare, die eine „Vergiftung“ der westeuropäischen Öffentlichkeit über ferngesteuerte Migrantencommunities suggerierten. In einem Artikel der Frankfurter Rundschau hieß es, der Auftritt Binali Yıldırıms in Deutschland verdeutliche das Problem, daß „multiethnische Staaten“ in ihre „institutionelle[n] Blutbahnen das Gift nationaler Selbstherrlichkeit gedrückt” bekämen. In der Süddeutschen Zeitung war im Juli 2016 in Bezug auf einen vermuteten Import ausländischer Konfliktlagen sogar davon die Rede gewesen, daß Deutschland „[i]nfiziert […] in Gestalt seiner türkischen Community“ sei. Eine Problematisierung dieser Fälle durch die deutsche Öffentlichkeit blieb meines Wissens aus. Mit biologistischen Metaphern sollte man allerdings grundsätzlich vorsichtig umgehen. Wenn türkische Migrantencommunities als „verlängerter Arm“ der türkischen Regierung beschrieben werden, ruft dies diffuse Ängste vor einer Unterwanderung (bzw. gemäß verschwörungstheoretischer Erklärungsmodelle: Ängste vor einem zweiten Anlauf zur Islamisierung Europas nach der gescheiterten Eroberung Wiens) hervor. Schnell erscheint dann jedes türkischstämmige Schulkind als potentieller Spitzel. Derartige Argumentationsweisen exponieren Menschen migrantischer Herkunft und solche, die sich von der Mehrheitsgesellschaft in der einen oder anderen Form abheben, lässt sie als stillen Feind im Innern erscheinen, den es zu bekämpfen gelte.

Deutsche glauben oft, im Gegensatz zu Menschen anderer Länder ihre Bewertungen auf Faktenlage vorzunehmen, dabei lassen sie sich von Archetypen und Stereotypisierungen ansprechen. Ein Abgleich mit der Realität findet so manches Mal nicht mehr statt, man recherchiert und kontrolliert nicht mehr nach, man hält vielmehr aus dem Bauch heraus für „objektiv wahr“. Der faktischen Grundlage beraubt sich die deutsche Öffentlichkeit selbst zunehmend – indem sie sich auf die beschriebene Weise kaum noch für die Parameter und Rahmenbedingungen von Wissensproduktion und freien, nicht-manipulativen Informationsaustausch interessiert. Das Resultat ist momentan eine verschrobene Mischung aus modernem „Rassismus ohne Rassen“, dem Orientalismus vergangener Jahrhunderte und „liberalem“ Ausschlußdenken, das sich im Zuge von diskriminierenden Vorgehensweisen auf demokratische Prinzipien und „europäische Werte“ beruft.

Nicht alles, was rassistisch motiviert ist und freiheitsfeindliche Züge trägt, ist automatisch auch „faschistisch“. Die Ignoranz gegenüber anderen Perspektiven und ein Nichtredenlassenwollen sind keine „Nazi-Methoden“. Sie orientieren sich, anstatt rein an biologischer Abstammung oder geographischer Herkunft, in weiten Teilen an den Schemata eines flexibleren, fluideren Ethnopluralismus. Seinen Akteuren geht es zumeist nicht um physische Auslöschung, sondern – tendenziell zumindest – um einen Ausschluss aus dem politischen Gemeinwesen. Nichtsdestotrotz können die entsprechenden Repressionsmechanismen und Diskursbeschränkungen einigermaßen „totalitär“ wirken gerade dann, wenn der deutschen Mehrheitsbevölkerung nicht einmal mehr bewußt ist, daß politischer Dissens aus dem öffentlichen Raum hinausgedrängt wird – auch weil der heutige, moderne Rassismus weniger greifbar wird und teilweise hinter vermeintlichen Marktmechanismen und „ fehlender individueller Leistung“ verschwindet.

Besonders beunruhigend wirkt, wenn gesellschaftliche Stimmungslagen entstehen, in denen negative Charakterisierungen von Individuen und ganzen Gruppen sozusagen „überquellen“, in unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche hineinwirken und von einer Instanz zur anderen weitergereicht werden – unabhängig von bzw. in Verletzung von den Wahrheitsfindungs- und Bewertungskriterien, die im jeweiligen Bereich zu gelten hätten. Dass das fachlich gebotene Vorgehen nicht vollzogen und erlernte kognitive Fähigkeiten angesichts entsprechender Stereotypen und Klischees und der damit ausgelösten Emotionen nicht angewandt werden, haben u.a. die NSU-Ermittlungen und der Umgang mit den Angehörigen von NSU-Opfern gezeigt. Einigermaßen faschistoid wirkt zudem auch die (zunehmende) Diskrepanz zwischen nach außem getragenem Selbstbild und den Prinzipien und oftmals ungeschriebenen Regeln, denen tatsächlich das eigene Handeln folgt – inklusive der Umkehr „demokratischer“ Argumente.

Aktuell ist innerhalb der deutschen Gesellschaft ein großer Mangel an Bereitschaft zu verzeichnen, sich mit den eigenen Schwächen auseinanderzusetzen und überhaupt über sich selbst nachzudenken. Der bereits erwähnte Bhiku Parekh sagt, es seien gerade geschlossene Kulturen, also solche, die sich primär über Abgrenzung definieren und gleichzeitig auch im Innern wenig plural gestaltet sind, die sich von Anderen bedroht fühlen. Innerer und äußerer Pluralismus bedingten einander im Wechselverhältnis. Ein Sich-Öffnen setze voraus, dass man Selbstkritik übe und hierzu auch in Dialog mit sich selbst trete. Eine gute Gesellschaft sei also dialogisch konzipiert. Letzendlich sollte man nicht all das, was bei den aktuellen Faschismus-Vorwürfen an Erfahrungen und Beobachtungen mitschwingt, leichtfertig als unbegründet abtun. Es baut sich tatsächlich ein sehr irrationales, von Gruppenidentitäten und kollektiven Gefühlslagen geprägtes Klima auf, ein aggressives Vorgehen gegenüber Abweichlern und Marginalisierten wird begünstigt. Es ist an der Zeit, den eigenen Umgang mit Rede- und Meinungsfreiheit wieder ernster zu nehmen und sich mit den selbst praktizierten Ein- und Ausschlußmechanismen zu beschäftigen. Mahmut Övür, Kolumnist bei Sabah, spricht von einem postmodernen Faschismus, Michel Eltchaninoff zusätzlich von „identitärer Demokratie“. Beide Begriffe könnten auf aktuelle Entwicklungen besser passen denn das Sprechen von einer „offenen, toleranten Gesellschaft“.

*Gedankliche Anregungen zu dieser Passage hat auch der Publizist Cem Özgönül geliefert.

 


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