Von Irma Kreiten
Jenseits der faktischen Richtigstellung besonders effektvoller Kreml-Lügen und einer bruchstückhaften Beschäftigung mit einzelnen Akteuren und deren Netzwerken lassen eine tiefgreifendere Beschäftigung mit den gesellschaftlichen und politischen Vorbedingungen für die Angreifbarkeit durch russische Propaganda weiterhin auf sich warten.
So wird zwar viel von einer „hybriden“ Kriegsführung (auch: „innerer Zersetzung“) gesprochen, dann aber doch meist wieder in Rückgriff auf eine alte Schwarz-Weiß-Optik gedacht. Der Kampf gegen das Erstarken totalitärer Strukturen wird in der öffentlichen Darstellung verengt auf die Konfrontation eines „demokratischen Europa“ mit den Machtambitionen des Kreml.
Der Umstand, daß neben der Ukraine auch andere Nicht-EU-Länder wie die Türkei in erheblichem Ausmaß von russischen Propagandalügen und Destabilisierungsstrategien betroffen sind, findet bislang nicht ausreichend Berücksichtigung. Daß Rußland beim aktuellen Frontalangriff auf ein internationales System, das auf Demokratie, Menschenrechte und Völkerrecht baut, zwar mit gutem Recht als Hauptakteur bezeichnet werden kann, aber bei weitem nicht die einzige Störquelle darstellt, bleibt auf gleiche Weise unterbelichtet.
Insbesondere wird nicht angemessen herausgearbeitet, daß sich u.a. der Iran, Assad-Syrien und die PKK (sogar auch Nordkorea und Venezuela) ähnlich gearteter Desinformations- und Destabilisierungsstrategien bedienen und daß diese politischen Kräfte ihre Propaganda-Inhalte auch mit denen des Kreml abtimmen.
Komplementär dazu wird verdrängt, welch große Rolle gerade westeuropäische und insbesondere deutsche Akteure beim Erstarken des Putinismus gespielt haben und wie diese mit dem Kreml und den herrschenden Kreisen „befreundeter“ Staaten vernetzt sind. Über die eigenen Demokratiefeinde, Lobbyisten im Bereich der Wirtschaft, Querfront*-Apologeten in den Medien und zivilgesellschaftliche „nützliche Idioten“ erfolgt der Angriff auf unser internationales System auch aus dem westeuropäischen Innern heraus.
In diesem Artikel wird es um eine deutsch-russische Partnerschaft bei der Aushöhlung unseres internationalen Wertesystems und die damit verbundene Ignoranz gegenüber den „anderen“ Opfern des Putinismus gehen. Und darum, wie tief sich antidemokratische Lobbynetzwerke in die deutsche „demokratische Mitte“ bereits eingegraben haben und wie groß die dadurch entstandenen Abhängigkeiten sind.
Letzteres kann wohl kaum etwas besser verdeutlichen als der Umstand, daß nun ausgerechnet die Personen und politischen Netzwerke, die zuvor selbst kritische Stimmen ignoriert und unterdrückt, teils sogar russische Propagandaerzählungen verbreitet und von diesem Verhalten profitiert haben, nun auch noch mit Aufklärungsarbeit beauftragt werden.
Am 6. Mai 2015 hat die Grünen-nahe Boell-Stiftung in Brüssel eine Veranstaltung unter dem Titel „Experiences in Europe in the Hybrid Conflict. The manipulation of reality and what we can do about it” („Europäische Erfahrungen im hybriden Konflikt. Die Manipulation von Realität und was wir dagegen tun können“) durchgeführt. Die Veranstaltung erhob den Anspruch, sich auf allgemein-abstrakter Ebene der Herausforderung russischer Einflußnahmen zu stellen und mögliche Strategien im Umgang damit zu entwicklen. Teilnehmende waren Rebecca Harms (MdEP, Die Grünen), Mark Weinmeister (Staatssekretär für Europaangelegenheiten), Annette Riedel (EU-Korrespondentin des Deutschlandradio) und Peter Pomerantsev, ein exzellenter Analyst russischer Propagandastrategien.
Geladen war allerdings auch Anne Gellinek, die zwar der deutschen demokratischen Öffentlichkeit nach wie vor als tadellose Journalistin gilt, aber hinsichtlich der „Manipulation von Realität“ zugunsten von Kreml-Interessen alles andere als ein unbeschriebenes Blatt ist. Anne Gellinek war von 2008-2014 Leiterin des ZDF-Studios in Moskau und hat in dieser Position mehrere Reportagen zu den Olympischen Winterspielen in Sotschi produziert. In keinem ihrer Beiträge haben die Tscherkessen als Ureinwohner der Region auch nur namentliche Erwähnung gefunden. Insbesondere in Anne Gellineks längerer Reportage
„Durch den wilden Kaukasus“ wurde eine durch zahlreiche Quellen belegte blutige Kolonialgeschichte systematisch durch russische und (post-)sowjetische Geschichtsmythen ersetzt:
Als „Urbevölkerung“ wurden beispielsweise die russischen Kosaken ausgegeben und anstatt an die Tscherkessen als Völkermordopfer zu erinnern, begleitete das ZDF-Team eine Feier zum Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“. Die Hochebene von Kbaade wurde ausschließlich als „Krasnaja Poljana“ bezeichnet, ihre symbolische Bedeutung als Kulminationspunkt des russischen Vernichtungskrieges gegen die Tscherkessen blieb im Dunkeln. Die heutige Lage ethnischer Minderheiten in der Region wurde insgesamt nicht thematisiert.
Auch daß die turkstämmigen Balkaren, die zwar im Film gezeigt, aber ebenfalls nicht namentlich erwähnt werden, von Stalin deportiert worden waren, wurde verschwiegen. Somit konnten die Folgen der stalinschen Deportationen und der sowjetischen Zwangsmodernisierung als urige ländliche Rückständigkeit und Ausdruck eines Entwickungsdefizits ausgegeben werden, das aus den Traditionen der Dorfbevölkerung selbst erwächst.
Das stillschweigende Hinweggehen über historische Verbrechen und über deren Langzeitfolgen, die Auslöschung der Erinnerung an die Opfer (etwa über die Tilgung alter Ortsnamen), die Übernahme der Geschichtsmythen der Täter und Besatzer sowie das Leugnen der historischen Existenz der jeweiligen Opfergruppe inklusive des hartnäckigen Ignorierens ihrer heutigen Nachkommen werden allerdings von Genozidforschern als Fortführung bzw. letztes Stadium eines Völkermordes angesehen.
Anne Gellinek ist studierte Osteuropa-Historikerin, intellektuelle Unbedarftheit und fehlendes fachliches Wissen darf man somit als Ursachen eines derartigen journalistischen Versagens nicht voraussetzen. Anzunehmen ist vielmehr, daß Anne Gellinek sich in einem Interessenskonflikt befand und vor diesem Hintergrund eine strategische Entscheidung zu Lasten von Völkermordopfern getroffen hat.
Die ZDF-Korrespondentin war nämlich neben ihren „kritischen“ Reportagen auch als ZDF-Komentatorin der Olympiade vorgesehen gewesen – eine durchaus prestigeträchtige Rolle. Die Übertragungsrechte für die Spiele hatte das ZDF erstmals direkt vom Internationalen Olympischen Komitee erworben und dafür schätzungsweise einen Betrag in dreistelliger Millionenhöhe hingeblättert. Im Umfeld der Olympischen Spiele in Sotschi wurden mehrfach ausländische Journalisten behindert. Im Oktober/November 2013 wurde der norwegische Reporter Øystein Bogen, der offenbar vom russischen Geheimdienst FSB auf eine Schwarze Liste gesetzt worden war, zusammen mit seinem Kameramann mittels ständiger Kontrollen schikaniert, schließlich sogar inhaftiert und verhört.
Øystein Bogen war im Unterschied zu Gellinek in einer Video-Reportage tatsächlich auch auf die Tscherkessen eingegangen. Den niederländischen Journalisten Rob Hornstra und Arnold van Bruggen wurde im Herbst 2013 die Einreise nach Rußland verweigert, nachdem bei einem vorherigen Aufenthalt eine Deportation bereits angedroht worden war. Beide hatten sich im Rahmen ihres „The Sochi Project“ seit 2007 ausführlich mit der Geschichte der Region und den Tscherkessen beschäftigt.
Ein MDR-Filmteam, das zumindest auf folkloristisch-touristische Weise die Tscherkessen zeigte, wurde zwar ebenfalls behindert (nicht unbedingt im Zusammenhang mit seinen Recherchethemen stehend), konnte seine Dreharbeiten aber immerhin erfolgreich abschließen. Anne Gellinek samt Team hätte sich mit einer Berichterstattung über Tscherkessen und Balkaren eventuell Belästigungen durch russische Behörden ausgesetzt und maximal wohl einen Landesverweis riskiert. Ihre Mitwirkung an dem Prestigeprojekt „Sotschi 2014“ scheint sie jedoch fest im Auge gehabt zu haben.
Ihr Ziel bei der Olympia-Kommentierung war es erklärtermaßen, auch den „Spaß an diesem internationalen Fest des Sports in Russland erlebbar“ zu machen, d.h. sie stand den Spielen dann letztendlich doch positiv gegenüber. Eventuell dachte sie sogar zu diesem Zeitpunkt noch daran (der Pressebericht bleibt hier undeutlich) ein Exklusivinterview mit Putin zu führen. Zumindest die mit der Kommentatorenrolle einhergehende Profilierung war ihr wohl einiges wert gewesen und man kann spekulieren, daß sie diese nicht aufs Spiel setzen wollte. Jedoch behauptete sie ausdrücklich, sie sei bei den Dreharbeiten zu „Durch den wilden Kaukasus“ keinem Druck ausgesetzt und nicht behindert worden, auch wenn sie sich jeden Schritt hätte genehmigen lassen müssen.
Nun ist es nicht so, daß in Putin-Rußland keinerlei Form von kritischem Journalismus mehr möglich wäre. Laut „Welt“-Korrespondentin Julia Smirnova variiert der Grad der Pressefreiheit von Region zu Region und hängt „von der jeweiligen politischen Situation, den kommunalen Behörden und dem Mut der Journalisten vor Ort“ ab. Über Korruptionsfälle etwa darf eher berichtet werden als über andere Themen.
Heikle Angelegenheiten können von russischen Medienanstalten dann aufgegriffen werden, wenn sie bereits internationale Resonanz erfahren haben. In Bezug auf die Sotschi-Berichterstattung hatten sich russische Behörden allerdings besonders repressiv gezeigt. Wenn staatsnahe russische Medien bisweilen dann doch kritisch berichteten, so vollzog sich diese Kritik doch in streng begrenztem Rahmen und bedurfte vorheriger Erlaubnis. Ethnische Spannungen und die blutige Kolonialgeschichte der Region gehörten ganz offensichtlich nicht zu den geduldeten Themen.
Umso mehr ist für Anne Gellinek eine Vermeidungshaltung anzunehmen. Gellineks Reportagen suggerierten zwar einen kritischen Rundumblick, konzentrierten sich aber auf Korruption, Umweltschutz, Repression der LGBT-Bewegung, Behördenwillkür, Arbeitnehmerrechte und erboste Anwohner. Hier scheint sich die ZDF-Korrespondentin für ihre „Olympiakritik“ in etwa den Rahmen gesteckt zu haben, der aus Sicht russischer Behörden gerade noch so eben zulässig oder in dieser Form bereits von Anderen ausgehandelt worden war.
Sie hat sich jedenfalls aus einem breiteren Themenspektrum diejenigen „kritischen“ Themen herausgepickt, die im Vergleich zu anderen als weniger heikel erscheinen. Eine Beschäftigung mit Tscherkessen und Balkaren hätte dagegen geheißen, bewußt anzuecken und einen zermürbenden Kampf um Deutungshoheiten führen zu müssen. Die Aufgabe ausländischer Journalisten wäre es gemäß sachkundiger Empfehlungen allerdings gewesen, die lokalen Beschränkungen journalistischer Arbeit nicht hinzunehmen, vielmehr Tabus offensiv anzugehen und damit auch einheimischen Kollegen ein Stück weit den Weg zu öffnen. In ihrem Ignorieren der ethnischen Minderheiten der Region hat Gellinek aber gerade diejenigen, die besonders unter dem russischen Repressionsdruck zu leiden hatten, ein weiteres Mal benachteiligt.
Eine Selbstzensur aus opportunistischen Beweggründen steht in starkem Kontrast zu Anne Gellineks Selbstinszenierung. Sie präsentiert sich als besonders unerschrockene Journalistin, die unheimlich „taff nachfragen“ kann. Sie beklagt sogar, daß es unter den gegebenen politischen Umständen in Rußland für sie schwierig geworden sei, noch in ausreichendem Maße kritische Interviewpartner für ihre Filme zu finden. Ein Angebot an das ZDF, Kontakte zu Tscherkessen herzustellen wie zu Personen, die sich mit der Situation der Tscherkessen befassen, wurde allerdings stillschweigend abgelehnt. Indem Gellinek bewußte Auslassungen und vorhandene Beschränkungen nicht einmal benennt, wird ihre selektive Kritik zu Augenwischerei. Ihr nur scheinbar schonungsloser Blick „hinter die Kulissen“ baut gleichzeitig neue Kulissen auf. Die Illusion von Vielfalt bzw. begrenzte und kanalisierbare Kritik liegen in gewissem Sinne sogar im Interesse des Kreml. Vorgeschobene Kritik, in Russland auch „Hofkritik“ genannt, wird von ihm manchmal als Ventil eingesetzt, um eine Opposition, die ihm wirklich gefährlich werden könnte, niederzuhalten.
Nun sollte man nicht behaupten, daß das, was Anne Gellinek berichtet hat, den russischen Autoritäten in keinem Falle wehgetan hat. Trotzdem kommt hier der Eindruck eines Kuhhandels auf, mittels dessen der russischen Seite ein Berühren ihrer wundesten Punkte erspart blieb. In Anlehnung an ein philosophisches Begrifffspaar könnte man sagen, daß Anne Gellinek vorwiegend „bekannte Unbekannte“ behandelt und Abstand genommen hat von den „unbekannten Unbekannten“, also von jenen Problemthemen, von denen ein westeuropäisches Publikum aufgrund erfolgreicher russischer Repressionsmaßnahmen meist nicht einmal wußte und in Bezug auf die es demzufolge auch nicht kritisch nachfragen kann.
Daß das nach außen getragene Bild schonungsloser Aufklärung über die Schattenseiten von Sotschi 2014 verfangen hat, entnimmt man etwa einem Medienkommentar in Die ZEIT: Dieser moniert die weitgehend unkritische Olmypia-Berichterstattung von ARD und ZDF, lobt aber ausdrücklich Anne Gellineks „Durch den wilden Kaukasus“ als „tiefgründige Reportage“. Auch Betreiber kremlnaher „Alternativplattformen“ halten die ZDF-Korrespondentin für eine Vertreterin entschieden russland- und iranfeindlicher Sichtweisen und greifen sie deswegen wütend an. Indem die Boell-Stiftung mit Anne Gellinek eine Vertreterin russischen Geschichtsrevisionismus als „Expertin“ für russische Desinformationspolitik einlädt, weist sie ihr eine Aufgabe zu, die diese umfänglich gar nicht erfüllen kann – jedenfalls nicht, wenn sie ihre eigene Beteiligung nicht offenlegt. Auf diesem Wege werden Angepaßte gefördert, d.h. diejenigen Funktionsträger, die auf entsprechende äußere Anreize regieren und damit manipulierbar sind.
Die Botschaft, die die Organisatoren der Konferenz in der Sache vermitteln, ist die, daß die Leugnung ethnischer Säuberungen und genozidaler Gewalt nicht ins Gewicht fällt: Nach wie vor muß niemand mit realen Konsequenzen rechnen, wenn es sich bei den Betroffenen um Balkaren oder Tscherkessen und damit um Opfergruppen ohne nennenswerte Lobby handelt.
Wenn sich hingegen die öffentliche Aufmerksamkeit auf armenische Angelegenheiten und darüber vermittelt europäische Interessen richtet, fordern Grüne und Andere vehement, es dürfe keinen „devoten Umgang“ mit der Türkei geben und man solle sich von Erdoğan nicht „erpressen“ lassen. In Bezug auf die vorwiegend muslimischen Nordkaukasier wird vorauseilender Gehorsam gegenüber dem Kreml nicht nur als gesellschafts- und politiktauglich zugelassen, sondern indirekt sogar mit dem Status des „kritischen“ Experten belohnt.
Den Machthabern in Rußland dürfte diese Form halbherziger, dafür aber stark polarisierender „Rußlandkritik“ letztendlich entgegenkommen. Die deutsche Öffentlichkeit insgesamt scheint bislang kein nennenswertes Problem mit dem Umstand zu haben, daß Personen und Personenkreise mit der Abwehr russischer Propaganda befaßt sind, die Aufklärungsarbeit zuvor behindert hatten. So fühlt man sich nach wie vor nicht einmal bemüßigt, fehlerhafte, geschichtsklitternde Darstellungen öffentlich-rechtlicher
Sender richtigzustellen und auf die generelle Einhaltung beruflicher Standards zu dringen, statt sich an der kurzfristigen „Nützlichkeit“ prominenter Meinungsmacher zu orientieren. Einem massiven Propagandaansturm Rußlands und verbündeter Mächte dürfte auf diesem Wege, d.h. ohne selbstkritische Analyse der eigenen Verflechtungen und Vereinnahmungen, kaum zu begegnen sein. Das Resumée besagter Boell-Konferenz fiel denn auch so banal wie selbstbetrügerisch aus: Die EU solle sich nicht auf das Niveau des Kreml herabbegeben und den russischen Informationskrieg nicht mit eigener Propaganda beantworten. Anne Gellinek selbst muß auf dieser Konferenz die feste Überzeugung vertreten haben, daß es möglich sei, Lüge und Wahrheit voneinander zu unterscheiden und daß es der Beruf eines Journalisten sei, die Fakten zu überprüfen.
* „Querfront“ meint den Zusammenschluß linksautoritärer und rechter/rechtsextremer Kräfte zu einer antifreiheitlichen Allianz.