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Kosmologie
Die Nacht von Çille und Nardugan – Türkische Kosmologie und Rituale der Erneuerung

Der 21. Dezember markiert im türkischen Kulturkosmos nicht nur die längste Nacht des Jahres, sondern auch einen heiligen Wendepunkt

(Foto: Unsplash)
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Ein Gastbeitrag von Özgür Çelik

Der 21. Dezember markiert im türkischen Kulturkosmos nicht nur die längste Nacht des Jahres, sondern auch einen heiligen Wendepunkt, an dem die Ordnung des Universums erneuert, die Zeit zyklisch regeneriert und das Leben erneut über die Dunkelheit triumphiert.

In der alten türkischen Kosmologie symbolisiert dieses Datum den entscheidenden Moment des mythologischen Kampfes zwischen Tag und Nacht, zwischen Licht und Dunkelheit. Die Feierlichkeiten, bekannt als Çille Gecesi und Nardugan, variieren regional in ihrer Ausgestaltung, beruhen jedoch auf einem gemeinsamen Glaubenssystem: Die Sonne stirbt nicht, sie schwächt sich lediglich; die Dunkelheit ist vergänglich und wird unweigerlich besiegt.

Çille Gecesi, begangen von türkischen Gemeinschaften in Süd- und Nordaserbaidschan sowie in der Region Iğdır, ist ein lebendiges Zeugnis dieser kosmischen Vorstellungen in der Volkskultur. Die Unterteilung von Çille in Große, Kleine und Bunte Çille verweist darauf, dass die Türken Zeit nicht linear, sondern zyklisch wahrnehmen.

Die Härte des Winters wird nicht lediglich als natürliche Gegebenheit verstanden, sondern als mythologische Prüfung. Der kritische Moment am 21. Dezember, wenn Familien – insbesondere in den Häusern der Ältesten – zusammenkommen, fungiert als rituelle Handlung zur Weitergabe des kollektiven Gedächtnisses von Generation zu Generation.

Die auf den Festtafeln präsentierten Speisen – Granatäpfel, Walnüsse, Halva und im Sommer konservierte Çille-Wassermelonen – sind symbolisch aufgeladen: Der Granatapfel steht für Sonne und Fruchtbarkeit, die Wassermelone für Kontinuität und Hoffnung, die Walnuss für Weisheit und den Kern des Lebens. Dass der in dieser Nacht fallende Schnee als Segen interpretiert wird, verdeutlicht, dass selbst die rauen Seiten der Natur als integraler Bestandteil des heiligen Zyklus wahrgenommen werden.

Nardugan stellt das Fest dar, in dem der kosmische und mythologische Glaube der Türken am intensivsten zum Ausdruck kommt. „Nar“ bedeutet Sonne, „dugan“ oder „tugan“ verweist auf den Sonnenaufgang; Nardugan symbolisiert somit die aufgehende Sonne.

Die Wiedergeburt der Sonne wird in der türkischen Kosmologie nicht nur als zunehmendes Licht verstanden, sondern auch als Bestätigung der Ordnung des Himmelsgottes. Menschen hinterlassen Geschenke unter Bäumen und binden Bänder oder Stoffstreifen an die Zweige, um ihre Wünsche für das kommende Jahr auszudrücken.

Diese Praxis ist nicht bloße Dekoration, sondern Ausdruck der symbolischen Kommunikation zwischen Mensch und Universum. Anthropologische und ethnografische Studien belegen, dass diese Tradition bereits bei vorchristlichen türkischen Gemeinschaften existierte und dass das Schmücken von Tannenbäumen unabhängig von der christlichen Weihnachtstradition in der türkischen Kultur verankert ist.

Das Ritual ist somit eine Form, wie Gemeinschaften die Wiedergeburt der Sonne und die Kontinuität des Lebens feiern, und bildet die Grundlage für die moderne Tradition des Baumschmückens.

Im Zentrum von Nardugan steht der Lebensbaum oder Weltbaum, dessen Wurzeln in die Unterwelt reichen, dessen Stamm Menschen und Tieren Schutz bietet und dessen Zweige bis zum Himmelsgott reichen.

Dieser heilige Baum repräsentiert die Achse des Universums; Schamanen steigen über diese Achse in den Himmel und stellen durch rituelle Praktiken die Ordnung des Kosmos wieder her.

Die immergrüne Kiefer symbolisiert die Kontinuität des Lebens, während die an den Zweigen befestigten Stoffstreifen, geäußerten Wünsche und hinterlassenen Gaben die symbolische Verbindung zwischen Mensch und kosmischer Ordnung ausdrücken. Das Ritual ist somit nicht nur individuelle Praxis, sondern auch ein Mechanismus zur Erneuerung kollektiven Gedächtnisses und sozialen Bewusstseins.

Umay Ana fungiert als ergänzendes und schützendes Element dieses Zyklus. Umay, die Geburt, Fruchtbarkeit, Fortbestand der Linie und Lebensenergie repräsentiert, steht in direkter Beziehung zur Wiedergeburt der Sonne.

Der Sieg der Sonne bedeutet die Wiedergeburt von Leben und Hoffnung; durch Umay wird die Fruchtbarkeit, der Segen und die Lebensenergie der Gemeinschaft gesichert. Analog dazu symbolisieren Figuren wie Ayaz Ata und Kar Kız – trotz unterschiedlicher Bezeichnungen in verschiedenen türkischen Stämmen – die Milderung der Winterhärte und die Verkündigung des neuen Jahres.

Das Epos von Oğuz Kağan sowie weitere alte Erzählungen vermitteln die kosmische Ordnung, die Nardugan mythologisch untermauert. Oğuz Kağans aus dem Licht geborene Ehefrauen, Symbole von Himmel, Sonne und Mond sowie das Motiv des Übergangs von Dunkelheit zu Licht spiegeln die Rituale von Nardugan in der mündlichen Kultur wider.

Mythos ist hier nicht nur narrative Überlieferung, sondern lebendige Erinnerung, die jährlich durch Rituale wieder inszeniert wird. Feuer anzünden, Bäume schmücken, Lieder singen und gemeinschaftliches Zusammenkommen dienen der Reproduktion des Mythos im kollektiven Bewusstsein.

Ethnografische Daten belegen, dass Nardugan unter verschiedenen Bezeichnungen in einem weiten geografischen Raum – von den Altai bis zu den Jakuten, von Baschkiren bis zu Tataren und Tschuwaschen – gefeiert wird.

Auch wenn der Name in Anatolien verloren gegangen ist, zeigen Praktiken wie das Binden von Stoffstreifen an Bäume, das Aussprechen von Wünschen, das Reinigen der Häuser zur Vorbereitung auf das neue Jahr und das Reinigungsritual durch Feuer die Spuren dieser alten Tradition. Dies verdeutlicht, dass Rituale trotz veränderter Formen ihren Kern bewahren.

Die Wiederentdeckung von Nardugan und Çille Gecesi in der modernen Welt sollte als Wiederbelebung kulturellen Gedächtnisses interpretiert werden. Im Angesicht globaler Neujahrs- und Weihnachtsfeiern ist das Bewusstsein der Türken für ihre eigene alte Neujahrstradition keine Reaktion, sondern eine Erinnerung.

Das Wissen, dass die Tradition des Baumschmückens bereits lange vor dem Christentum in der türkischen Kultur existierte, stärkt kulturelle Identität und historisches Bewusstsein.

Abschließend sind Çille Gecesi und Nardugan Rituale der Erneuerung, in denen mythologische, anthropologische und soziologische Schichten der türkischen Kultur ineinandergreifen. Die Wiedergeburt der Sonne bedeutet nicht nur die Erneuerung der Natur, sondern auch der Gesellschaft.

Mit dem Segen von Umay, der kosmischen Achse des Weltbaums und dem Licht der Oğuz-Kağan-Erzählungen erinnert dieses Fest daran, dass Leben und Hoffnung selbst in den dunkelsten Momenten unweigerlich zurückkehren – eine uralte Weisheit.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


Zum Autor

Özgür Çelik studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Fachgebiete sind die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sowie zwischen der EU und der Türkei, türkische Politik, die türkische Migration und Diaspora in Deutschland


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