Von Prof. Dr. Hans-Christian Günther
Am 10.12. vor 70 Jahren haben die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet – vielleicht ein geeigneter Zeitpunkt, eine Bilanz zu ziehen.
Angeblich – so sagt man, seien diese universal gültigen Menschenrechte das Resultat eines Lernprozesses. Angeblich hat die Welt, d.h. in diesem Falle, die damals die Welt dominierenden Staaten, nach dem Grauen des Zweiten Weltkrieges aus der Geschichte gelernt: Die Vereinten Nationen und die Festschreibung unveräußerlicher Rechte jedes einzelnen Menschen in einer Art rechtsverbindlichen Form sollte verhindern, dass sich die Verbrechen der Vergangenheit wiederholen. Es ist somit legitim zu fragen: Was hat sich von 1948 bis heute verändert?
Artikel 1 fordert, alle Menschen sollten einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Die Präambel sieht die Notwendigkeit von Menschenrechten dadurch, dass Menschen einen rechtlich verbürgten Anspruch hätten, frei von Tyrannei und Unterdrückung zu leben, sodass sie nicht gezwungen würden, zum letzten Mittel, dem gewaltsamen Aufstand, zu greifen.
Zu dieser Zeit befand sich der größte Teil der Welt noch unter kolonialer Herrschaft. Die Kolonialmächte, allen voran Briten und Franzosen, aber auch die Niederlande in Indonesien, hatten nichts Besseres zu tun, als ihre Kolonien zäh unter ihrer Knute zu halten oder wiederzugewinnen. Kein Kriegsverbrechen war ihnen dazu zu verabscheuenswert. Folter, rassistische Diskriminierung (beides in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte explizit verboten), wurde schamlos angewandt.
Dass Großbritannien Indien – nach den bis heute nicht aufgearbeiteten Verbrechen der Vergangenheit, gerade auch während der Churchill-Ära – gewaltlos aufgab, lag keineswegs am Erfolg des gewaltfreien Widerstand Gandhis. Es lag an der für diese Zeit erstaunlichen Einsicht des Gouverneurs von Indien, Lord Mountbatten, und des Premierministers Attlee. Jeder Versuch, Indiens Unabhängigkeit zu verhindern, hätte zu einem Blutbad auf beiden Seiten geführt. Für Großbritannien wäre es zu einer schmählichen Niederlage geworden. Churchill hätte diese Einsicht gewiss nicht aufgebracht, denn für ihn waren Inder Tiere auf 2 Beinen. Er hat noch in den 50er Jahren versucht, Kenia durch einen abscheulichen Völkermord im British Empire zu halten.
In Frankreich brachte erst de Gaulle in den 60er Jahren die Einsicht auf, dass Kolonialismus nicht mehr realistisch war. Er gab selbst Algerien, das man als integralen Bestandteil Frankreichs betrachtete, nach einer Serie unbeschreiblicher Verbrechen auf. Dafür musste er allerdings per Notstandsdekret regieren. Seine Rede an die Franzosen über den Verlust der Kolonien ist heute noch hörenswert.
Nach und neben den Kolonialkriegen, beherrschen Stellvertreterkriege, des gar nicht so Kalten Krieges, die Welt. Schon als unmittelbares Nachspiel begann der Koreakrieg, ein Krieg von verbrannter Erde auf beiden Seiten. Die USA unterstützen ein brutales Militärregime, das den Süden des Landes lange Zeit dem Norden wirtschaftlich stark hinterherhinken ließ. Der nächste völkerrechtswidrige Vernichtungskrieg in Vietnam ließ nicht lange auf sich warten. Abgeschlossen wurde er mit der rücksichtslosen Ausdehnung des Krieges und der Begünstigung des Völkermordes in Kambodscha.
Lateinamerika wurde zur Kolonie der USA. De facto bedeutete dies die Unterwerfung eines ganzen Kontinents unter brutale Militärregime. Wenn es in Europa nicht anders funktionierte, dann passierte dort dasselbe (s. Griechenland). Deutschland und Italien waren ohnehin keine souveränen Staaten. Die ehemalige Sowjetunion behandelte ihren Teil Europas als rechtlose Kolonie. Aufstände wurden durch Panzer niedergewalzt.
Es hat sich somit nach dem Weltkrieg nichts geändert – außer einem: Anstatt den Kolonialismus zu beenden, hat man den verspäteten Kolonialstaat Israel gegründet. Dass dies ein rassistisches Unternehmen war, das auf Völkermord hinauslaufen würde, hat zumindest de Gaulle vorausgesehen. Wiederum ist seine Rede zu Israel heute aktueller denn je.
https://youtu.be/toKG_MFh7IU
Konflikte und Völkermorde in Afrika übergehe ich. Die UN-Truppen haben dort jedenfalls außer Kindesmissbrauch nichts zustande gebracht.
Nach dieser knappen Skizzierung, muss man sich nicht wundern, dass es mit den Menschenrechten heute immer noch so schlecht bestellt ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion überschlugen sich die USA und die NATO geradezu darin, einen Staat nach dem anderen rücksichtslos in den Erdboden zu bomben: Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und zuletzt Jemen. Nicht zu vergessen der verbrecherische Stellvertreterkrieg gegen den Iran. Rücksichtslos wurde jedes Kriegsrecht gebrochen, Massenmord an Zivilisten wurde zur Normalität, geächtete Kampfstoffe wie Uranium-Munition wurde eingesetzt.
Israel entwickelte sich zum offenen Apartheitsregime, das offen – und erfolgreich – den Völkermord an den Palästinensern betreibt. Das ist die gegenwärtige Situation. Und es kommt noch der Völkermord Myanmar an den Rohingya und der Völkermord der VR China an den muslimischen Minderheiten dazu, der den Nazis in nichts nachsteht. Ganz offenkundig hat die Verkündung der Menschenrechte wie auch die UN-Charta im Grunde genommen nichts bewirkt. Die glorreichen über 40 Jahre Frieden nach dem 2. Weltkrieg bezogen sich nur auf Europa. Mit den Menschenrechten hatten sie nichts zu tun. Sie waren allein dem nuklearen Gleichgewicht USA – Sowjetunion geschuldet. Nach dem Zusammenbruch der SU ließ der erste Krieg in Europa (Jugoslawien) nicht lange auf sich warten.
Was zeigt die ganze Geschichte? Im Grunde genommen doch nur dies: Europa bzw. die weiße „Rasse“ hat, seit ihr die Entwicklung der Technik die Möglichkeit dazu gegeben hat, die Welt nach und nach mit Gewalt, Überlegenheitswahn, Rassismus und Massenmord überzogen. Und das, nachdem man die angeblich universellen Menschenrechte verkündet hatte, die ja in Wahrheit nur die Rechte weißer wohlhabender Männer waren.
Und so tun Europa und vor allem die USA das noch heute, weil sie ihre Geschichte nie bewältigt haben. Der Judenmord der Nazis war nur die perverse Spitze des rassistischen Massenmords Europas an der Welt. Die Nazis haben mitten in Europa das getan, was die Kolonialmächte seit langem außerhalb Europas taten. Und kein Mensch in der Politik der Zeit hat sich für diesen Massenmord interessiert. Man hat ihn bewusst verschwiegen oder gefördert.
Der Krieg Deutschlands, Japans, Stalins Sowjetunion, der USA und des British Empires, waren Kriege von vier kriminellen Mächten um Vorteil und Macht. Die Nazis haben ihn verloren, weil sie geistesgestört waren und die Japaner größenwahnsinnig. Die USA und die Sowjetunion haben ihn gewonnen, weil Stalin und Roosevelt klug agierende Realpolitiker mit einem klaren, realistischen Ziel waren. England hat ihn auch verloren: Churchill war zu dumm zu sehen, dass dieser Krieg das Ende der britischen Weltmacht sein würde. Und das war eigentlich das wahre Ziel der USA.
Der Schock, den die Enthüllung der Naziverbrechen nach dem 2. Weltkrieg auslöste, hätte heilsam sein können, wenn er zu einer Reflexion auf das Verbrechen des „weißen Rassismus“ über die Jahrhunderte geführt hätte. Hätten sich damals die Juden mit allen Opfern von rassistischer Gewalt solidarisiert (wie etwa Yehudi Menuhin das gefordert hatte), wäre der Antisemitismus besiegt worden. Stattdessen wurde die Bewältigung der Naziverbrechen (und die der Japaner) instrumentalisiert.
Sie wurden in Schauprozessen gegen eine Auswahl deutscher und japanischer Kriegsverbrecher ausgenutzt. In diesen Schauprozessen zementierten die westlichen Alliierten ihre angebliche moralische Überlegenheit. Nicht nur die Beihilfe zum Judenmord in mannigfacher Form wurde unterschlagen, ebenso die Kriegsverbrechen der Alliierten in der dritten Welt und in Europa. Die Verbrechen der italienischen Faschisten wurden absichtlich vertuscht, um Italien nicht in die Hände der Kommunisten fallen zu lassen. Dafür ist es heute in den Händen der Faschisten. Deutschen Kriegsverbrechern, wie etwa Mansfeld und Wernher von Braun, den Chefs des japanischen Lagers 731, wurde Straffreiheit im Gegenzug für Mitarbeit gewährt.
Aber das ist gar nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, dass eine Vergangenheitsbewältigung des westlichen Kolonialismus nie stattgefunden hat. Geschichte schreiben die Sieger. Nürnberg und Tokio waren eine primitive Siegerjustiz. Großbritannien und die USA, haben ihre Vergangenheit nie bewältigt. Sie benutzen bis heute Nürnberg und Tokio dazu, ihre Verbrechen zu rechtfertigen. Und ebenso instrumentalisieren sie die Menschenrechte, wobei der Genfer Menschenrechtsrat, in dem der „Westen'“ in der Minderheit ist, weitgehend ignoriert wird.
Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, war der groteske Versuch der weißen Minderheit mit der grauenhaftesten Geschichte von Menschenrechtsverletzungen, dem von ihr seit eh und je gequälten Rest der Welt, die Menschenrechte zu erklären. Im Grunde genommen in der Absicht, diese Menschenrechte nach Belieben dazu zu verwenden, jeden mit Scheingründen rücksichtslos zu beseitigen, der westlichen Interessen im Wege stand oder steht.
Und deshalb stehen wir heute vor der Situation, in der seit Ende des Weltkriegs sein perverser postkolonialer Folgestaat Israel jedes internationale Recht, alle Menschenrechte, jegliche Menschlichkeit offen und ungestraft mir Füßen tritt;
Libyen von einem funktionierenden Staat zu einer Anarchie der Gewalt verwandelt wurde, in dem Menschen als Sklaven verkauft oder zur Organentnahme ermordet werden; Somalia und Afghanistan immer noch im Chaos des Terrors ersticken; der Irak noch lange unter den Folgen des vom Westen initiierten Terrors leidet (von den Spätfolgen radioaktiver Verseuchung, die unsere Medien nicht berichten, ganz zu schweigen; Syrien immer noch nicht endgültig befreit, geschweige denn wiederaufgebaut ist; im Jemen der Völkermord in vollem Gange ist.
Inzwischen hat sich auch noch die zweitstärkste Weltmacht China westliche Methoden zu eigen gemacht, sie fast noch über Hitlers deutsche Perfektion hinaus perfektioniert und ist nahe daran – wie Hitler – einen gigantischen Völkermord unter den Augen der Weltöffentlichkeit zu verüben. Und wenn man die Liste der Verbrechen über diese eklatantesten Fälle hinaus verlängern wollte, würde diese Liste ein Buch füllen. Warum? Der einzige Völkermord, der heute noch im allgemeinen Bewusstsein ist, ist der Holocaust, denn Hitler hat den Krieg verloren.
Die Völkermorde, die das Entstehen Australiens, der USA, Kanadas ermöglicht haben, interessieren keinen, am wenigsten versucht man, den wenigen Überlebenden gerecht zu werden. Wen wundert es, dass sich um die Massaker, die heute unter allen Augen geschehen, keiner schert.
Also mit einer kleinen Verspätung: herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Menschenrechte!
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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Prof. Dr. Hans-Christian Günther
Geb. am 28.4.1957 in Müllheim / Baden
Professor für klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität. Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung und Verantwortung
Seit 2004 Tätigkeit im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen mit zahlreichen Veröffentlichungen.
Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung und Verantwortung Seit 2004 Tätigkeit im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen mit zahlreichen Veröffentlichungen.
Ausgebildet in Freiburg und Oxford. Stipendiat der DFG und der Alexander von Humboldt -Stiftung. Gerhard Hess Preis der DFG.
Zahlreiche Publikationen (ca. 40 Bücher, u.a. Brill’s Companion to Propertius, Brill’s Companion to Horace) im Bereich der antiken Philosophie und Literatur, der Byzantinistik, Neogräzistik, modernen Literatur und Philosophie, Ethik und Politik. Zahlreiche Versübersetzungen aus dem Lateinischen, Italienischen, Neugriechischen, Georgischen, Japanischen und Chinesischen.
Lehrt regelmäßig in Italien, zahlreiche Gastaufenthalte in der Schweiz, Polen, Georgien, Indonesien, Iran, Seoul, Tokyo und vielen chinesischen Universitäten. Herausgeber mehrerer Buchreihen, im wissenschaftlichen Beirat zahlreicher wissenschaftlichen Zeitschriften.