Marina Bütün wurde als Kind sudetendeutscher Eltern in Deutschland geboren und wuchs im Wittelsbacher Land in Altbayern auf.
Seit mehr als 23 Jahren lebt sie mit ihrem türkischen Mann in der Türkei und schrieb bisher Bücher mit Schwerpunkt Türkei – ihre Wurzeln aber hat sie nie vergessen und jetzt wieder neu entdeckt – durch die Recherchen zu ihrem neuen Buch. Die Erlebnisse ihrer Großeltern und deren Vorfahren hat sie nun in einem fesselnden Familienroman festgehalten.
Verlorene Spuren im Egerland
Noch vor Weihnachten, am 13.12.2025 erschien ihr neues Buch “Verlorene Spuren im Egerland”, das sich einer historischen Epoche mit besonderer Aufmerksamkeit widmet.
Es schildert nicht nur die historischen Entwicklungen ab etwa 1810 in dem als Sudetenland bekannten Böhmen und Mähren im heutigen Tschechien, sondern begleitet die Familiengeschichte bis in die Jahre 1945/46 und rückt dabei die persönlichen Erfahrungen der Betroffenen in den Mittelpunkt – Menschen, die oft nur mit einem Koffer, einigen Dokumenten und großer Ungewissheit ihre Heimat verlassen mussten.
NEX24: Wie kommt der Sprung vom Osmanischen Reich ins Sudetenland zustande? Ihr letzter Zweiteiler Die Braut aus dem Osmanischen Reich war sehr erfolgreich. Warum nun der Ausflug in eine völlig andere Welt?
Bütün:
Das lässt sich ganz einfach erklären: Die beiden Bände (Band 1 Osmanisches Reich, Band 2 Republik Türkei) erzählen die Lebensgeschichte der Großmutter väterlicherseits meines türkischen Mannes ab ihrer Geburt 1908 mit allen historischen Ereignissen.
Das Leben unter dem Sultan, das Leben in der neuen Republik. Durch eine einzige Begegnung mit dem späteren Staatsgründer Atatürk vor ihrer Hochzeit, die aber ihren weiteren Weg bestimmen sollte, der durch den Bevölkerungsaustausch von Griechen und Türken außergewöhnlich tragisch war, ist der Schritt von dort in das ehemalige Nachbarreich Kaiser Franz Josephs gar nicht so groß.
Beide Reiche besaßen zeitweise sogar eine gemeinsame Grenze. Beide wurden nach einem Weltkrieg zerrissen und Menschen vertrieben, enteignet und aus dem Land verwiesen und standen nur mit dem da, was sie tragen konnten.
Obwohl ich die Mutter meines Schwiegervaters am Ende ihres Lebens persönlich kennenlernen durfte, hat mich die Auseinandersetzung mit der Geschichte meiner eigenen Familie beim Schreiben emotional deutlich stärker gefordert.
Während ich bei der Osmanischen Braut am liebsten gar nicht aufgehört hätte zu schreiben, habe ich bei diesem Buch zum ersten Mal während der Arbeit Tränen vergossen. Es ging mir sehr nahe. Dabei ist mir auch bewusst geworden, warum ich die historische Beschäftigung mit dem Dritten Reich schon in der Schulzeit instinktiv abgelehnt habe – ohne dass in meiner Familie viel darüber gesprochen worden wäre.
Interessant ist zudem, dass beide Reiche, trotz völlig unterschiedlicher Religionen, zahlreiche Parallelen aufweisen: Sie beherbergten verschiedene Ethnien und religiöse Minderheiten und standen zeitversetzt vor erstaunlich ähnlichen Herausforderungen. Beide Geschichten sind auf ihre Weise faszinierend.“
NEX24: Gab es denn einen bestimmten Anlass, dieses Buch gerade jetzt zu schreiben?
Bütün:
Ja, den gab es. Es war ein trauriger Anlass: der Tod meiner Mutter in diesem Jahr. Sie hatte eine schwere Kindheit durch Krieg und Vertreibung erlebt, später aber auch eine unbeschwertere Zeit.
Kurz vor Weihnachten im Jahr 2024 erzählte sie mir noch einmal Dinge, die mich nicht mehr losließen. Die Erzählungen meiner Großeltern hatte ich ohnehin im Kopf, aber sie ergaben nie ein vollständiges Bild.
Als wir nach ihrem Tod eine alte Schuhschachtel mit Fotos fanden, die sie gut versteckt hatte, war ich richtig aufgeregt. Ich dachte, ich kenne alle Bilder – doch es war nicht so. Einige waren über 100 Jahre alt. Gemeinsam mit meiner Tochter begann ich, in alten österreichischen und tschechischen Kirchenbüchern zu forschen.
Nach der Beerdigung sagte ich beiläufig, man könne aus all dem vielleicht ein Buch machen. Eine meiner Tanten meinte, wir wüssten viel zu wenig darüber. Das war für mich erstrecht der Ansporn, es trotzdem zu versuchen – und es wurden über 300 Seiten.“
NEX24: 2025 jährte sich die Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland zum 80. Mal. War auch dies ein Anstoß zur Veröffentlichung?
Bütün:
„Ehrlich gesagt: Nein. Als ich zu schreiben begann, dachte ich nicht daran. Für mich war es eine Form, meine Trauer zu verarbeiten. Erst während der Recherche stieß ich zufällig auf mehrere Artikel, nachdem ich mich in einer Ahnenforschungsgruppe auf Facebook angemeldet hatte.
Deshalb beschloss ich, zusätzlich eine Seite zu erstellen, die sich mit dem Thema Vertreibung historisch befasst – ähnlich aufgebaut wie das Buch. Sie beginnt bei der Einwanderung deutscher Siedler im 12. und 13. Jahrhundert nach Böhmen und Mähren. Die kleinen historischen Beiträge dort sind unabhängig vom Buch und sollen allen dienen, die sich mit dem Thema befassen möchten. Viele wissen heute kaum noch, wo das Sudetenland lag und dass der Begriff ursprünglich aus politischen Gründen geprägt wurde.“
Als Sie geboren wurden, war der Krieg schon 15 Jahre vorbei. Spielte das Thema dennoch eine Rolle?
Bütün:
„Ja – ich hatte noch immer den Stempel Flüchtlingskind, obwohl ich erst Jahre später verstehen konnte, warum.
Ich wuchs in einer Kleinstadt im Dreieck Ingolstadt–München–Augsburg auf. Dort lebten sehr viele Vertriebene. Bereits 1949 wurde der Ortsverein der Sudetendeutschen Landsmannschaft gegründet. Bis zum 2. Dezember 1945 waren etwa 7.000 Vertriebene und Flüchtlinge im Landkreis einquartiert, davon 700 in der Stadt. Bis Ende 1946 kamen weitere 8.706 hinzu – darunter 2.048 in der Stadt. Insgesamt also rund 15.700 Menschen allein in den Jahren 1945/46.
Meine Großeltern und deren Freunde unterschieden noch lange zwischen „Bayern“ und „Flüchtlingen“ – sie bezeichneten sich selbst so. Und so war auch ich automatisch ein Flüchtlingskind.
Im Kindergarten bekam ich das noch deutlich zu spüren. Einmal musste ich grundlos Ohrfeigen einer Klosterschwester einstecken, die alles abstritt und mir im Beisein meiner Großmutter ein Bonbon gab. Bei der Hochzeit einer Kindergärtnerin durfte ich trotz guter Singstimme nicht nach vorne – dort standen die Kinder der örtlichen Geschäftsleute. Auch in der zweiten Klasse behandelte mich eine ältere Lehrerin anders, als sie sollte. Es war eine schwierige Zeit, aber nicht zu vergleichen mit dem Leid meiner Mutter oder ihrer Geschwister.“
NEX24: Wie sah Ihr Freundeskreis der Kindheit dann damals aus?
Bütün: „In unserer Straße lebten viele Flüchtlingsfamilien mit Kindern in meinem Alter. An diese Zeit erinnere ich mich gern. Eine damalige Freundin ist heute die Frau des Bürgermeisters der Stadt. Ihren schönen Puppenwagen durfte ich manchmal fahren – das habe ich nie vergessen.
Dass sie später jenen Jungen heiraten würde, der damals im gleichen Haus wohnte und den auch ich vom Sehen kannte, erfuhr ich erst viele Jahre später aus der Zeitung – da lebte ich schon in der Türkei. Beide stammen ebenfalls aus Vertriebenenfamilien. Leider verloren wir nach der Kindheit den Kontakt.
NEX24: Änderte sich der Umgang im Laufe der Zeit?
Bütün: „Ja, vermutlich durch unseren Umzug. Ende der 1960er Jahre baute mein Opa kurz vor seiner Rente ein Haus im nächsten Dorf. Dort waren die Menschen sehr freundlich. In dem neuen Baugebiet fanden wir schnell Anschluss, und im Dorf spielte die Bezeichnung ‚Flüchtling‘ keine Rolle mehr. Nur im Wortschatz meiner Großeltern blieb das Wort noch lange bestehen.
NEX24: Wie wirkten die Folgen der Vertreibung in Ihrer eigenen Familie nach?“
Bütün: Das ist ein schwieriges Kapitel. Wie in vielen Familien wurden die schönen Zeiten erzählt, die dramatischen Erlebnisse des Krieges und der Vertreibung hingegen oft verschwiegen.
Kinder wie meine Mutter, die damals noch keine zwölf Jahre alt waren und alles bewusst erlebten, trugen ein Leben lang ein Trauma mit sich. Sie sprachen wenig darüber – oder erst sehr spät. Manches war verdrängt, anderes überdeutlich präsent. Die älteren Generationen, wie meine Großeltern, schwiegen bewusst. Über Hitler wurde in der großen Familie kaum oder nur abwertend gesprochen. Auch das beschreibe ich im Buch ausführlich.
Beim Sichten der Fotos wurde sichtbar, dass es Menschen gab, von denen nur ich wusste – weil ich von Geburt an von meinen Großeltern betreut wurde und meine Großmutter mir vieles erklärt hatte. Etwa Brüder meiner Großeltern, die nicht aus dem Krieg zurückkamen, oder ein Bruder meines Großvaters, der aufgrund eines Familienstreits nie erwähnt wurde. Einige ältere Familienmitglieder, die die Vertreibung selbst erlebt hatten, kannten sie gar nicht mehr.
Das war ein weiterer Grund, dieses Buch zu schreiben. Ich bin wohl eine der Letzten unserer Familie, die all das noch weiß.“
NEX24: Was möchten Sie den Lesern zu ihrem Buch abschließend noch sagen?
Bütün: Ich habe das Buch zwar für die Nachkommen unserer Familie geschrieben, insbesondere für alle Enkelkinder die eines Tages fragen werden, aber keiner mehr da sein wird, der es ihnen so erzählen kann.
Aber – für mich ist generell etwas überaus wichtig – in einer Zeit, in der historische Gewissheiten zunehmend verblassen, leistet dieses Buch einen wertvollen Beitrag zur Bewahrung gemeinsamer Erinnerung, auch gerade für diejenigen, die von ihren Vorfahren überhaupt nichts erfahren konnten. Es soll auch Mut machen, vielleicht ein wenig nachzuforschen.
Als ich anfing mit dem Buch, hatte ich ausser dem Namen und dem Geburtsdatum eines einzigen Urahnen, dem Opa meiner Mutter gar nichts. Als ich fertig war, hatte ich, gezählt ab meinem Enkel, die siebte Generation von beiden Elternteilen meiner Mutter um das Jahr 1790 entdeckt.
Mein Buch „Verlorene Spuren im Egerland“ macht sichtbar, wie sehr Geschichte im Privaten weiterlebt – und wie wichtig es ist, die Stimmen der Vergangenheit zu hören, bevor sie für immer verstummen.
Was mir noch sehr wichtig ist, mein Buch ist keine versteckte Anklage – denn es ist unablässlich, dass eine Versöhnung der beteiligten Staaten standfindet und das scheint – trotz der schlimmen Ereignisse von damals – geglückt zu sein. In einem Beitrag eine deutschsprachigen tschechischen Zeitung wurde kürzlich darauf hingewiesen, welch historischen Charakter der kommende Sudetendeutsche Tag besitzt:
Er soll erstmals nicht in Deutschland, sondern in der Tschechischen Republik stattfinden – und zwar in Brünn. Die Zeitung betont, dass dieser Schritt noch vor wenigen Jahrzehnten kaum denkbar gewesen wäre.
Dass ausgerechnet Brünn, eine Stadt, die selbst stark von den Ereignissen der Zeit geprägt wurde, nun Gastgeber ist, werte man dort als ein wichtiges Zeichen der Annäherung und des offenen Dialogs. Der geplante Begegnungsrahmen sei, so die Prager Zeitung, weniger Ausdruck politischer Symbolik als vielmehr ein Angebot, sich der gemeinsamen Geschichte respektvoll zu nähern und neue Formen des Miteinanders zu finden.
Ein Beitrag zur Erinnerungskultur
Das Buch zeigt eindrücklich, wie eng private Lebensgeschichten und große Politik miteinander verflochten sind. Es rekonstruiert Fluchtwege, beleuchtet regionale Besonderheiten und macht durch Zeitzeugenberichte und Familienüberlieferungen sichtbar, wie tief der Verlust von Heimat in den folgenden Generationen verankert blieb. Zugleich zeigt es, wie viel Mut, Anpassungsfähigkeit und Kraft die Vertriebenen beim Aufbau eines neuen Lebens brauchten.
Auch 80 Jahre nach den Ereignissen bleibt die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit wichtig. Das Buch versteht sich deshalb als Beitrag zur historischen Erinnerungskultur – und als Einladung, die Geschichten der eigenen Familie nicht verstummen zu lassen.
Bücher der Autorin (Auswahl):
- Verlorene Spuren im Egerland: Ein sudetendeutscher Familienroman über Heimat, Verlust und Vertreibung (1810 – 1946) (Link)
- Ratgeber Auswandern Türkei: Wegweiser für Auswanderer und Rückkehrer (Link)
- Weißwurst mit türkischem Tee: Auswandern in die Türkei für Anfänger (Link)
- Die Braut aus dem Osmanischen Reich: Unter der Obhut des Sultans (1908 -1922) (Link)
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