Wie den Medien und den Reaktionen der Leser in den Kommentarbereichen zu entnehmen ist, scheint das Scheitern der Visaverhandlungen mit Erdogan deutschlandweit eine große Welle der Freude ausgelöst zu haben.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bemerkte diese Schadenfreude und äußerte sich dazu in einem Interview: „Was mich irritiert, ist, dass ich manchmal fast so etwas wie eine Freude am Scheitern beobachte.“
Das Scheitern wird bei Wählern und Politikern des gesamten deutschen Parteienspektrums von der Linken bis zur AfD als Sieg gegen Erdogan gesehen, so scheint es.
„Autokratische Ambitionen“ warf etwa Bundestagspräsident Lammert Erdogan vor, da das türkische Parlament in einer Abstimmung mit 373 gegen 138 Ja-Stimmen für eine Aufhebung der Immunität von Politikern gestimmt hatte – für Lammert ein Grund, die Verhandlungen zur Visafreiheit zu beenden.
Spätestens jetzt dürfe die Europäische Union keine Visafreiheit für türkische Staatsbürger mehr beschließen. „Fernab unserer Demokratieansprüche“ seien diese Ereignisse. Auch Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer kritisierte in der „Süddeutschen Zeitung“ die geplante Immunitätsaufhebung. Damit „überschreitet Erdogan den Rubikon“, sagte der CSU-Mann.
Dass auch von deutschen Politikern wie etwa Jörg Tauss und Sebastian Edathy wegen Kinderpornographie oder von Volker Beck wegen Drogenbesitzes die Immunität aufgehoben wurde und Lammert selbst vor kurzem noch eine generelle Aufhebung derselben gefordert hatte, ließen die Unions-Politiker unerwähnt.
Dass die Staatsanwaltschaft Dresden am 25. Mai 2016 gegen die AfD-Politikerin Frauke Petry wegen Meineids ermitteln will und aus diesem Grund vom Sächsischen Landtag die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität fordert, konnten Lammert und Singhammer damals noch nicht wissen.
Auch die Kurdische Gemeinde Deutschland kritisierte in einer Presseerklärung die geplante Visafreiheit für türkische Staatsbürger „als ein weiteres unwürdiges Zugeständnis an das Erdogan-Regime“, so der Verein. Die „Vertreibung der Kurden“ und die endgültige Abschaffung der Demokratie würden damit belohnt. Im Hass auf Erdogan scheint man sogar bereit zu sein, auf eine Visabefreiung zu Gunsten türkischer Staatsbürger kurdischer Herkunft zu verzichten.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann warnte vor einem „allzu devoten Umgang“ mit Erdogan.
Hat man aufgrund des womöglich gescheiterten Abkommens zur Visaliberalisierung für Türken aber tatsächlich einen „Sieg gegen Erdogan“ errungen?
Eher nicht, denn Erdogan hat noch ein As im Ärmel vorzuweisen.
Für viele der an einen „Sieg gegen Erdogan“ glaubenden Politiker und Medienvertreter wird mit folgender Information womöglich eine Welt zusammenbrechen:
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist im Besitz eines schwarzen Diplomatenpasses, mittels dessen er jederzeit in der EU einreisen kann.
Außerdem kann er als Präsident der Türkischen Republik von seinem Recht Gebrauch machen, ein speziell für Reisen dieser Art zur Verfügung gestelltes Flugzeug zu nutzen. Jederzeit. Er braucht hierfür weder die Entscheidung des EU-Parlaments abzuwarten noch benötigt er eine Zustimmung der EU-Bürger.
Werden zumindest Erdogans Umfragewerte sinken? Unwahrscheinlich. In Zeiten wie diesen schnellen Erdogans Umfragewerte meist in die Höhe. Die von Erdogan gegründete AKP lag bei Umfragen im April bei rekordverdächtigen 54%.
Stimmen in den sozialen Netzwerken scherzen mittlerweile, dass deutsche Medien auf Erdogans Gehaltsliste stehen, da besonders ihre Kritik Erdogans Popularität in der Türkei und auch im nichteuropäischen Ausland steigern würde.
Wer also sind die Verlierer des gescheiterten Abkommens?
In erster Linie der normale Bürger, für den es eine enorme Erleichterung gewesen wäre, mal eben ohne den Stress eines Visaantrags Bekannte oder Verwandte in Europa besuchen zu können. Der Geschäftsmann, der ohne monatelanges Vorausplanen einen Geschäftspartner oder eine Messe besuchen könnte. Auch ist eine Welle von Asylanträgen, wie in diversen deutschen Medien prophezeit, unwahrscheinlich, da es dazu keiner Visafreiheit bedarf.
Eine Lawine von billigen Arbeitskräften wie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ist auch nicht zu erwarten, da das Interesse der neuen Generation in der Türkei, für wenig Geld die hiesige Drecksarbeit zu verrichten, gen Null gesunken ist. Abgesehen davon wandern seit 2006 jährlich mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei aus als von dort in umgekehrter Richtung einwandern.
Wer auch immer die Verlierer des gescheiterten Abkommens sind – Erdogan wird es nicht sein.