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Tag der Einheit
Deutsche und türkische Zusammenarbeit: Ein verborgener Motor der deutschen Einheit

Çayır: "Wenn heute an die deutsche Einheit erinnert wird, stehen meist die Montagsdemonstrationen, die Politik Gorbatschows oder die historische Rolle Helmut Kohls im Vordergrund."

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Von Çağıl Çayır

Wenn heute an die deutsche Einheit erinnert wird, stehen meist die Montagsdemonstrationen, die Politik Gorbatschows oder die historische Rolle Helmut Kohls im Vordergrund. Weniger sichtbar, aber keineswegs unbedeutend, war die Rolle der jahrzehntelangen deutsch-türkischen Zusammenarbeit – in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Vom Waffenbruder zur Arbeitsmigration

Schon im Ersten Weltkrieg kämpften deutsche und türkische Soldaten Seite an Seite in Gallipoli, im Kaukasus und in Palästina. Die sogenannte „deutsch-türkische Waffenbrüderschaft“ war zwar in erster Linie ein militärisches Bündnis, sie begründete jedoch auch ein Bewusstsein für Gemeinsamkeiten: zwei Völker im Ringen gegen Übermacht und Teilung.

Nach 1945 knüpften beide Länder erneut enge Verbindungen. Die Bundesrepublik war angewiesen auf Arbeitskräfte, um den wirtschaftlichen Aufschwung zu bewältigen. Mit dem Anwerbeabkommen von 1961 kamen hunderttausende türkische „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Sie bauten Fabriken, Straßen, Städte mit auf – und schufen zugleich Brücken zwischen Ost und West.

Tatkraft am Fließband, im Kohlebergbau und beim Bahnbau

Die deutsch-türkische Zusammenarbeit zeigte sich nicht nur auf politischer Bühne oder in militärischen Bündnissen, sondern vor allem im Alltag der Arbeit. In den 1960er- und 70er-Jahren standen türkische und deutsche Arbeiter Schulter an Schulter am Fließband der Automobilindustrie, etwa bei Ford in Köln oder bei Daimler in Stuttgart. Sie produzierten jene Autos, die zum Symbol des westdeutschen Wohlstands wurden.

Auch im Bergbau des Ruhrgebiets packten türkische Kumpel mit an. Unter Tage schufteten sie in den Kohlegruben, sicherten die Energieversorgung des Landes und hielten so den industriellen Motor der Bundesrepublik am Laufen – oft unter härtesten Bedingungen.

Beim Bahnbau, im Straßenbau und in der Schwerindustrie waren türkische Fachkräfte ebenfalls unverzichtbar. Sie halfen dabei, das westdeutsche Verkehrsnetz auszubauen, das später auch für die wirtschaftliche Integration der neuen Bundesländer nach 1990 entscheidend war.

Diese konkrete Tatkraft, dieses gemeinsame Schaffen, verband Deutsche und Türken in einer unsichtbaren, aber wirkmächtigen Solidarität. Sie war ein praktisches Fundament, auf dem die deutsche Einheit nach dem Mauerfall aufbauen konnte.

Die türkische Arbeitskraft und die Systemkonkurrenz

Während die DDR durch Arbeitskräftemangel und Abwanderung geschwächt war, konnte die Bundesrepublik dank der türkischen Einwanderer ihre Wirtschaftskraft stabilisieren und weiter ausbauen. Ohne diese zusätzliche Arbeitskraft wäre das westdeutsche Wirtschaftswunder kaum in dieser Form möglich gewesen.

Die geopolitische Wirkung war enorm: Ein wirtschaftlich starkes Westdeutschland stand als Magnet und Vorbild neben einem wirtschaftlich stagnierenden Osten. Indirekt trugen die türkischen Arbeiter somit dazu bei, den Systemvergleich klar zugunsten des Westens zu entscheiden – und den Druck auf die DDR zu erhöhen.

Kulturelle Verbindungen als Einheitstreiber

Darüber hinaus hatten türkische Migranten in Westdeutschland auch eine kulturelle und politische Wirkung. Sie machten Deutschland internationaler, urbaner, weltoffener. Ihre Präsenz verstärkte den Kontrast zwischen dem autoritär-verschlossenen Osten und dem pluralistisch-offenen Westen.

Die türkische Diaspora, mit Verbindungen nach Ankara und Istanbul, spielte zudem eine Rolle in der NATO-Strategie: Die Bundesrepublik und die Türkei waren beide Frontstaaten im Kalten Krieg, beide Stützpunkte der westlichen Allianz. Diese enge strategische Verzahnung festigte die Westbindung der BRD und isolierte die DDR zusätzlich.

Ohne die Türkei – keine Einheit?

Natürlich war es nicht allein die deutsch-türkische Zusammenarbeit, die zur Einheit führte. Aber sie war ein wesentlicher Faktor im großen Geflecht. Ohne die Arbeitskraft der Türken hätte der Westen weniger Strahlkraft gehabt; ohne das militärische Bündnis in der NATO wäre die Front im Kalten Krieg brüchiger gewesen.

Die deutsche Einheit ist daher nicht nur ein Werk von Deutschen, Amerikanern oder Sowjets – sie trägt auch das stille, aber entscheidende Erbe der deutsch-türkischen Partnerschaft.

 


Zum Autor

Çağıl Çayır studierte Geschichte und Philosophie an der Universität zu Köln und ist als freier Forscher tätig. Çayır ist Autor von „Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der alttürkischen und ‚germanischen‘ Schrift‘“ und ist Gründer der Kultur-Akademie Çayır auf YouTube. Seine Arbeiten wurden international in verschiedenen Fach- und Massenmedien veröffentlicht.


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