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Ergenekon-Prozess: Die türkische Gesellschaft wurde mit Hiobsbotschaften bombardiert

Der Streit um die Rolle der türkischen Regierung in Zusammenhang mit der Schwächung der Armee, der Zerschlagung der nationalen Front wie auch zuletzt um den gescheiterten Putschversuch, ebbt auch nach Jahren nicht ab. Zudem erhält es nach wie vor neue Nahrung. Ein Kommentar.

(Archivfoto: nex24)
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Ein Kommentar von Nabi Yücel

Der Streit um die Rolle der türkischen Regierung in Zusammenhang mit der Schwächung der Armee, der Zerschlagung der nationalen Front wie auch zuletzt um den gescheiterten Putschversuch, ebbt auch nach Jahren nicht ab. Zudem erhält er nach wie vor neue Nahrung.

Bestes Beispiel: das Massaker von Başbağlar. 1993 tötete die Terrororganisation PKK 33 Dorfbewohner; Kinder, Frauen und Männer. Jahrzehnte nach dem Massaker erörterte der Terrorfürst Abdullah Öcalan von der Gefängnisinsel Imrali in einem Buch, dass das Morden von einem PKK-Terroristen mit dem Codenamen Dr. Baran angeführt wurde, er darüber [selbstverständlich] nicht informiert gewesen sei. Murat Karayilan, einer der höchsten Kadermitglieder der PKK, schrieb das Massaker in seinem Buch „Bir Savaşın Anatomisi: Kürdistan’da askeri çizgi“ der PKK zu.

Aber aus bislang unerklärlichen Gründen kommen namhafte Akademiker und Journalisten immer wieder damit, es widerlegt haben zu wollen und einen gewissen ehemaligen Ayhan Çarkın von der sogenannten Konterguerilla der türkischen Sicherheitskräfte (JITEM) als Beweis anführen, der sich jahrelang damit rühmte, Hunderte, ja sogar bis zu 1.000 extralegale Tötungen verübt zu haben. Was man von Äußerungen eines gewissen Çarkın halten mag, sei dahingestellt, aber es ist bezeichnend dafür, wie versucht wird, die Deutungshoheit über einen Sachverhalt an sich zu reißen und dies mit der „Ergenekon“ anzuknüpfen, die es ja demnach im Wesentlichen gegeben haben soll.

Ayşe Hür ist die Verfechterin dieser These; dieselbe, die 2008 zusammen mit 299 Akademikern, Journalisten, Autoren und Rechtsanwälten forderte, der „Ergenekon“ endlich das Handwerk zu legen. Wie diese juristische Achterbahn zu „Ergenekon“ letztendlich ausging, ist derzeit in aller Munde, das Berufungsgericht sprach die „Schuldigen“ jetzt frei.

Fast so alt wie die Idee zu militärischen Planspielen, ist wohl die Diskussion über die Planspiele des türkischen Militärs. 2010 trat die Zeitung „Taraf“ mit einem Artikel von Mehmet Baransu die Debatte los, die in Verhaftungen zahlreicher Militärs endete und genauso mit einem Schauprozess fortgesetzt wurde, wie das Ergenekon- oder das Oda TV-Verfahren im selben Zeitraum. Richtigerweise glaubte innerhalb der Bevölkerung zunächst niemand so recht an diese Planspiele, die laut der „Taraf“ eigentlich todernst gewesen seien und einen Putsch gegen die amtierende Regierung beinhaltet habe. Damit begann auch das Gezerre um die Deutungshoheit über diese Planspiele.

Während nur wenige Zeitungen und Online-Nachrichtenportale zu verstehen gaben, die militärischen Planspiele seien Lehrbeispiele, wie sie in anderen Ländern ständig innerhalb der Militärs im Kopf durchgespielt werden, meinten andere, das Militär habe diese Pläne nicht aus Jux und Tollerei aufgesetzt, sondern sie auch in der Realität umsetzen wollen. Um diese Deutung auch unter den Mann bzw. Frau zu bringen, setzte man darauf, die Leserschaft mit weiteren sogenannten Details und Fakten zu versorgen und so die dogmatische Lehre über die türkische Armee in den Grundfesten zu erschüttern. Übrigens hielt sich dabei die mediale Landschaft in Europa überaus bedeckt, gab sich gar verwundert über die Planspiele; als gebe man zu verstehen, dass an diesen Geschichten aus der Türkei doch etwas dran sein könnte.

Währenddessen wurde die türkische Gesellschaft ja mit neuen medialen Hiobsbotschaften regelrecht bombardiert – Moscheen sollten bombardiert werden etc.., um auch beim letzten zumindest ein Hinterfragen abzulocken. Wie aus der Wundertüte wurde dann in einer Marinebasis ein „kosmisches Zimmer“ entdeckt, stellten sich andererseits überaus großzügig Kronzeugen zur Verfügung oder wurden neue Details bekannt gegeben, wie gewalttätig doch der Putschplan durchgeführt worden wäre, wenn man von diesen Planspielen nicht rechtzeitig Wind bekommen hätte. Damit hatten die „Taraf“ und weitere Zeitungen wie die „Zaman“ schnell die Deutungshoheit übernommen und die Masse hinter sich gebracht. Nur kurze Zeit darauf waren die meisten der Verdächtigen hinter Schloss und Riegel.

Schlimmer noch: 300 Akademiker, Journalisten, Autoren und Rechtsanwälte forderten, dass die Ermittlungen zu der sogenannten „Ergenekon“ vertieft und ausgeweitet werden; geradezu ein Freifahrtschein für diejenigen innerhalb des Justizapparates, die dieses Treiben eigentlich angestoßen hatten, jetzt erst recht alles und jeden zu verhaften, denen man sich habhaft werden kann. Innerhalb weniger Monate wurden neben hochrangigen Militärs, nun auch Journalisten, Akademiker oder Rechtsanwälte verhaftet. Es endete in drei großen Mammutprozessen.

Darum ging es letztendlich bei der Berichterstattung auch; die Deutungshoheit erringen, damit eine staatliche Ordnung zu etwas zu bewegt wird, die sie eigentlich nicht erwogen hätte: die Prozesse erlauben, nicht einschreiten oder Partei ergreifen. Diejenigen, die die Deutungshoheit besitzen wollten und auch an sich rissen, wollten die Regierung über den Volkswillen bzw. über die Erwartungen des Volkes hin unter Druck setzen und zu etwas bewegen, die sie nicht mehr kontrollieren konnte. Das hatten sie beinahe geschafft.

Heute stellen sich noch immer Kreise hin und behaupten, dass die amtierende Regierung damals Hand in Hand mit den kriminellen Elementen innerhalb der Gülen-Bewegung die Armee zerschlagen haben, die Justiz unterwanderten, die Behörden im Griff hatten. Dabei gibt es genügend Stimmen innerhalb des Militärs, sogar hochrangige Generäle, die damals verhaftet wurden oder aus der Armee ausschieden, die das in Abrede stellen. Der ehemalige Konteradmiral Atilla Kezek gilt als Regierungsgegner, zumindest in politischer Hinsicht, aber auch er hält in seinem Buch „Dışarıdakiler“ fest, dass der damalige amtierende Premier Erdogan ihn zweimal empfangen habe.

Beim letzten Treffen habe Kezek nach der Verhaftung des Generalstabschefs Ilker Basbug dem Premier eine Zusammenfassung und Arbeit über den Stand der Balyoz-Verfahren ausgehändigt, die er dankend angenommen habe. Darin heißt es u.a., dass das Militär einem Komplott zum Opfer gefallen ist und ausblutet. Fünf Monate später, noch vor dem Korruptionsskandal in der Türkei (17.-25. Dezember 2013) habe die Regierung dann gehandelt, der stellvertretende Ministerpräsident Yalçın Akdoğan erklärt, dass das Militär das Ziel eines Komplotts sei. Kurze Zeit später kocht die Affäre hoch, dann erklärt die türkische Regierung den „Krieg“ gegen Fethullah Gülen.

Oder Ilker Basbug, der ehemalige Generalstabschef, der nach seiner Haftentlassung in einer TV-Talkshow erklärte, dass der Premier damals in Zusammenhang mit der FETÖ (Fethullahistische Terrororganisation) ziemlich alleine dagegen angekämpft habe. Obwohl diese Ansichten auch im Netz zu finden sind, erheben noch viele den Anspruch, zu Wissen, was während der Ergenekon-, Balyoz- oder Oda TV-Verfahren stattfand und wer dies veranlasst haben soll. Dabei sind die wirklich interessanten Informationen von eben jenen, die jahrelang inhaftiert wurden, darunter vom Investigativ-Journalisten Nedim Sener, wohl für die Informationsverwertung nicht ausschlaggebend oder gar nicht relevant.

Man hält stoisch daran fest, dass die Regierung alles zu verantworten hat, was in der jüngeren türkischen Geschichte passiert ist. Und warum und weshalb auch immer, werden in der europäischen Medienlandschaft diese Informationen geflissentlich vorenthalten; als gebe es diese Personen wie Atilla Kezek, Ilker Basbug oder Nedim Sener überhaupt nicht. Jene die jahrelang mit diesen Vorwürfen medial hervorgehoben wurden, damit leben mussten und letzten Endes inhaftiert wurden.

Seit es die Menschheit gibt, hatte derjenige die Nase vorne, der Informationen entsprechend erarbeitet oder erlangt hatte, um eine gewisse Macht auf andere ausüben zu können oder daraus einen Vorteil zu erlangen. Wer z.B. vorhersagen konnte, wann die nächste Sonnen- oder Mondfinsternis stattfindet, der konnte davon ausgehen, von anderen dafür geachtet und verehrt zu werden, ja sogar danach jahrzehntelang diese Macht auch auskosten zu können. Dabei ging es nicht darum, etwas vorhersehen zu können, sondern Informationen zu sammeln und entsprechend gefiltert weiterzugeben um sich damit einen strategischen Vorteil zu erschaffen.

Derjenige der wusste, wann exakt eine Mondfinsternis beginnt, wann ein Komet die Erde streift, hatte nicht die Glaskugel benutzt, sondern Erzählungen, Erfahrungen und Informationen von Generationen vor ihm gesammelt und darauf gehofft, dass diese kontinuierlich beobachtete Wiederkehr der Mondfinsternis oder des Kometen auch diesmal stattfindet. Der Vorhersagende hatte, wenn er denn darin falsch lag, nicht viel zu befürchten, außer für einen Scharlatan gehalten oder belächelt zu werden.
Wie schon angedeutet, ist Information zugleich auch Macht und Kontrolle, wenn sie vorteilhaft eingesetzt wird.

Selbstverständlich versucht die Türkei an Informationen zu gelangen und bedient sich dabei dem türkischen Nachrichtendienst MIT und deren Mitarbeitern, die im Ausland diese Informationen beschaffen sollen, auch in Deutschland. Die USA horchten die Bundeskanzlerin Merkel ab und tun es wohl weiterhin, was man zwar „unter Freunden“ nicht machen sollte, aber Deutschland in der Türkei ebenso ungeniert macht. Deutschland ist wie die Türkei angehalten, die Wirtschaftskraft, den Wohlstand und die Existenz aufrechtzuerhalten. Das beinhaltet auch, dies auf Kosten anderer zu bewerkstelligen, denn ein Volk, das nicht satt ist, unzufrieden wird, kann nicht kontrolliert, kann nicht zusammengehalten werden. Wer diese Macht am perfektesten beherrscht, hat die Kunst verstanden, die Wahrnehmung, die Deutungshoheit zu steuern.

Dafür lockert die Bundesregierung auch dreistellige Millionenbeträge, mit denen parteinahe Stiftungen mit Vertretungen auch in der Türkei die Deutungshoheit zu beeinflussen versuchen, z.B. mit dem Istanbuler Residenzprogramm, in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt bzw. der „qantara.de“, die in Kooperation mit dem Goethe Institut und dem Institut für Auslandsbeziehungen über die Türkei berichtet oder Essays und Interviews veröffentlicht. Doch Goethe ist nicht die einzige, es gibt eine Handvoll weiterer Stiftungen, die mit hohen Summen gefördert werden und die auch in der Türkei „Stützpunkte“ betreiben. Vermehrt sind auch deutsche Medien in türkischer Sprache unterwegs – bislang sind es wohl 21, die um türkische Staatsbürger buhlen und sie in ihrem Informationsstand bereichern wollen, meist im negativen Sinne. Darunter die Deutsche Welle, die alles andere als Verständnis für andere „Kulturen und Völker“ fördert.

Die Deutungshoheit hatten während der Ergenekon-, Oda TV- und Balyoz-Verfahren mehrere türkische Zeitungen, TV-Kanäle und Online-Nachrichtenportale gewonnen, in deren Folge sogar 300 Akademiker, Journalisten, Autoren und Rechtsanwälte diese Deutung übernahmen und die Verfahren geradezu anfeuerten und die Urteile teilnahmslos hinnahmen, als wäre es das Ergebnis dieses Tuns, das ihnen zur Last gelegt wurde. Gegenwärtig sind einige verboten, andere geschlossen worden. Heute sind diese Beteiligten der Schauprozesse wieder rehabilitiert, aber die 300 Personen, die einst mit einem Pamphlet die Ergenekon-Ermittlungen anfeuerten, werden nur zum Teil als Scharlatane abgetan oder belächelt.

Das Interessante daran ist, dass die meisten dieser Unterstützer des Pamphlet heute noch von diversen deutschen Vereinigungen, Stiftungen, Politikern oder Regierungsmitgliedern verteidigt werden oder ihnen in Deutschland Asyl gewährt wurde. Das Machtinstrument des Journalismus, die sogenannte Fünfte Gewalt, wird ausnahmslos von allen Staaten benutzt, von der Türkei, den USA wie auch Deutschland. Daran sollten alle denken, ehe sie anfangen, bestimmten medialen Mainstream-Medien sofort alles abzukaufen. Als türkischer Staatsbürger bin ich aber gehalten, den türkischen Mainstreammedien mehr Glauben zu schenken, als denen eines fremden Landes; schon allein aus dem Umstand heraus, dass die anderen Länder nur um ihr Wohl bemüht sind und das türkische Gemeinwohl erst nachrangig erscheint.

Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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