Start Gastbeiträge Geschichtswissenschaft Antitürkismus in der Forschung – Nachwuchsforscher grenzen Türkvölker aus

Geschichtswissenschaft
Antitürkismus in der Forschung – Nachwuchsforscher grenzen Türkvölker aus

Çayır: "Diese Form der akademisch verbrämten Türkenfeindlichkeit ist nicht nur unwissenschaftlich – sie ist gefährlich."

Goldene Kronen der Xiongnu- und Türken-Könige mit Vogelfigur, 3. Jh. v. Chr. Innere-Mongolei, China und 6.-8. Jh. n. Chr., Orchon-Tal, Mongolei. (Foto: Çağıl Çayır.)
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Ein Gastbeitrag von Çağıl Çayır

Köln/Oxford – Eine wissenschaftliche Studie sorgt für Aufsehen – und für Unbehagen. Die Linguist*innen Svenja Bonmann und Simon Fries, ausgebildet an der Universität zu Köln und nun tätig in Köln und Oxford, behaupten in einer aktuellen Untersuchung, die europäischen Hunnen hätten altsibirische Wurzeln und sprachen vermutlich eine jenisseische Sprache.

Doch was auf den ersten Blick nach einer harmlosen These klingt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als hochpolitische Konstruktion: Denn alles in dieser Theorie – von der geografischen Herkunft bis zur Sprachverwandtschaft – spricht eigentlich für eine Nähe zu den frühen Türken. Und genau diese wird mit auffallender Entschlossenheit ausgeschlossen.

Eine wissenschaftlich nicht haltbare Ausgrenzung

Die altsibirische Herkunft? Entspricht den bekannten Wanderungswegen der frühen Turkvölker. Die nomadische Lebensweise? Der Tengrismus? Die Rolle der Frauen? Der Himmelsvogel auf den Kronen der Könige der Xiongnu und Türken? Der Wolf? Die Knochenspiele?

Kopf der Statue des türkischen Königs-Bruders Köl Tigin und Fragment der Statue der türkischen Königs-Schwägerin, 8. Jh., Orchon-Tal, Mongolei – Ausstellung im Nationalmuseum der Mongolei in Ulaanbaatar, Mongolei. (Foto: Çağıl Çayır.)

Selbst genetische Untersuchungen deuten auf Überschneidungen hin, die weit über den Altai, Sibirien, Zentralasien, Europa und Anatolien – bis nach Nord- und Südamerika – reichen.

Elch-Figuren aus dem Sibirien und der Mongolei, aus der Skythen- und Türken-Zeit, links aus vergoldetem Holz (5.-3. Jh. v. Chr., Altai) und rechts aus silber (8.Jh. n. Chr, Orchon-Tal), Aus den Gräbern von Pazyryk und Bilge Kağan. (Foto: Çağıl Çayır.)

Doch statt diese offensichtliche Nähe und weltweite Verflechtung anzuerkennen, konstruieren die Forscher eine ethnolinguistische Barriere: Die Türken seien „erst später“ nach Zentralasien eingewandert – als nachträgliche „Fremdkörper“ in einer Geschichte, in der sie real längst eine Hauptrolle spielen.

Diese Form der akademisch verbrämten Türkenfeindlichkeit ist nicht nur unwissenschaftlich – sie ist gefährlich.

Das „Angulus-Syndrom“ – Europas Angst vor der Nähe

Der Mediävist Dieter Mertens nannte diese Abwehrhaltung einst das „Angulus-Syndrom“ – das Gefühl Europas, sich durch die Türken kulturell und historisch in die Ecke gedrängt zu fühlen. Seit der Eroberung Konstantinopels 1453 diente der „Türke“ nicht nur als politischer Gegner, sondern als tief verankerter Gegen-Mythos zur eigenen Identität.

Diese Feindbildlogik prägt bis heute nicht nur populäre Narrative, sondern auch den akademischen Elfenbeinturm. Nicht trotz, sondern gerade wegen der realen Nähe versucht man, die Türken durch sprachliche, historische oder ethnologische „Schnittmuster“ auszuschließen.

Vom Forschungsdiskurs zur gesellschaftlichen Kälte

Diese Ausgrenzung ist kein Einzelfall – sie steht in einer kontinuitätsreichen Linie: vom frühneuzeitlichen Feindbild über die rassentheoretischen Ideologien des 19. Jahrhunderts bis hin zur intellektuellen Ignoranz gegenüber den NSU-Morden.

Als zwischen 2000 und 2007 eine neonazistische Terrorzelle neun Migranten – acht davon türkischer Herkunft – ermordete, wurde der Fall von Polizei und Medien zunächst als „Döner-Morde“ bagatellisiert. Das eigentlich Erschütternde aber ist: Die tiefsitzende Türkenfeindlichkeit, die dieses institutionelle Versagen ermöglichte, wurde von deutschen Intellektuellen kaum je offen thematisiert.

Der neue Elitendiskurs: Türken aus der Geschichte streichen

Heute setzen junge Wissenschaftler*innen aus Köln und Oxford diesen Ausschluss auf subtilere Weise fort – nicht mit Waffen oder Gesetzen, sondern mit Fußnoten, Fachbegriffen und Pressemitteilungen.

Doch auch das ist eine Form von Gewalt.
Eine symbolische Gewalt, die entscheidet, wer als Ursprung gelten darf – und wer nicht. Wer zur eurasischen Geschichte dazugehört – und wer an ihrem Rand bleiben soll.

Es geht um mehr als Wissenschaft

Wenn eine Theorie, die für eine Nähe zu den Türken spricht, in ihr Gegenteil verkehrt wird – dann ist das kein Versehen. Es ist ein Reflex. Es ist ein Syndrom. Und es ist ein Skandal.

Wissenschaft muss nicht türkisch sein. Aber sie darf auch nicht antitürkisch sein. Wer Erkenntnis mit Ausgrenzung verwechselt, macht nicht die Geschichte klarer – sondern dunkler.

 


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


ZUM AUTOR

Çağıl Çayır studierte Geschichte und Philosophie an der Universität zu Köln und ist als freier Forscher tätig. Çayır ist Autor von „Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der alttürkischen und ‚germanischen‘ Schrift‘“ und ist Gründer der Kultur-Akademie Çayır auf YouTube. Seine Arbeiten wurden international in verschiedenen Fach- und Massenmedien veröffentlicht.


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