ein Gastkommentar von Nabi Yücel
Der Begriff Wandel (türkisch: değişim) ist angesichts der Querelen innerhalb der größten türkischen Oppositionspartei CHP ausgebrannt.
In der Türkei wird seit den Wahlen im Mai die Tagespolitik von der größten türkischen Oppositionspartei CHP mit dem Begriff Wandel (türkisch: değişim) stark beansprucht. Kemal Kılıçdaroğlu, Parteivorsitzender der CHP will das abgetakelte „Schiff“ nach der verlorenen Wahl als Kapitän noch sicher am Kai anlegen, während der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu (CHP) seither einen „değişim“ in der Partei fordert. Wandel bedeutet, dass Kılıçdaroğlu offensichtlich den Chefsessel freigeben soll. Wer diesen freien Platz besetzen und wie dieser Wandel aussehen könnte, lässt İmamoğlu aber bislang offen. Kılıçdaroğlu steht in Zugzwang und beansprucht den Willen zum Wandel nach eigenen Interessen.
Längst ist vielen Kommentatoren des politischen Zeitgeschehens klar, dass der 52-jährige Ekrem İmamoğlu nicht nur in der zweiten Liga mitspielen, sondern ganz groß rauskommen will, seit er das Amt des OB im Jahre 2019 innehat. Selbstverständlich ist Istanbul ein Sprungbrett für politisch Ambitionierte, gilt doch die Metropole als Königsmacher. Hier startete Recep Tayyip Erdoğan seine politische Karriere, bis ins höchste staatliche Amt der Türkei.
Wer sich in Istanbul bewährt, langjährig, der kann sich eines großen Stimmenanteils in der Türkei sicher sein, und die sind Wahlentscheidend. İmamoğlu ist aber ein Unbekannter, der mit nur einer Amtszeit als Bürgermeister der Istanbuler Stadtgemeinde Beylikdüzü 2019 mit geschickter Wahlkampfpropaganda auf den OB-Chefsessel gehievt wurde. Daher kann İmamoğlu in seiner Curriculum Vitae nicht genügend Punkte gesammelt haben, um sich für ein größeres Amt auszuzeichnen. In Istanbul sehen es die Bürger ebenfalls zwiegespalten, zumal seine Versprechungen, die Millionenmetropole innerhalb von wenigen Jahren schöner und lebenswerter zu gestalten, sich im umgekehrten Sinne entwickelt hat.
İmamoğlu wischt das lapidar weg und beschäftigt sich seit Ende der Wahlen noch energischer mit der Partei selbst. Er spricht aber vom Wandel, ohne den Wandel konkret zu benennen. Er umgarnt nun ebenfalls offen die völkisch-kurdische YSP, die Nachfolgepartei der HDP, wie sein Parteichef Kılıçdaroğlu. Und, er geht dabei ebenso raffiniert und berechnend vor, wie einst Kılıçdaroğlu, als er die Macht der Partei anstrebte und aufgrund eines Sex-Videos über den Parteivorsitzenden Deniz Baykal selbst das Amt zugesprochen bekam. İmamoğlu traut man sogar zu, noch gefährlicher zu sein als sein Parteichef; sogar für die Türkei selbst.
Von wegen „Zoom-Konferenz“, die aufgrund eines Lecks innerhalb der schrillen CHP-Teilnehmerschar publik wurde und die CHP-Führung in Zugzwang brachte, ein ernstes Wort auszusprechen. Von wegen, ein „lieber Kerl“, dessen einzige Ambition es ist, die Partei bis zur kommenden Kommunalwahl fit zu machen und gestärkt hervorzugehen. Es geht längst nicht mehr um Istanbul, die Partei selbst, oder die Türkei. Es geht um handfeste Machtinteressen, bei der die Interessen der Bevölkerung auf der Strecke bleiben.
Wer von Wandel spricht, erörtert diesen Wandel vor den Wählern und steht dahinter. Stattdessen setzt Kılıçdaroğlu nun auf dieselbe Taktik wie der OB von Istanbul, der nicht konkretes wiedergibt, aber verspricht, entscheidend dazu beizutragen, dass sich etwas ändert. Nur was?
Bis zu den kommenden Kommunalwahlen im März 2024 sind es nur noch wenige Monate. Als aussichtsreichster OB-Kandidat gilt immer noch Ekrem İmamoğlu – parteiintern, weil es keinen anderen Kandidaten gibt, der es mit einem überaus starken AKP/MHP-Kandidaten aufnehmen könnte. Doch bis dahin muss İmamoğlu all seine Kraft in dieses Amt verwenden und nicht in parteiinterne Streitigkeiten um Sitze und Sessel.
Danach sieht es aber bisweilen nicht aus. Ekrem İmamoğlu setzt weiterhin auf Zermürbungstaktik, um Kılıçdaroğlu zu stürzen und Kılıçdaroğlu setzt beharrlich darauf, sich bis zum Parteikonvent zu retten, dessen Termin noch nicht fest steht. Dazwischen eine ohnmächtige Schar grauer Partei-Eminenz, die dem Treiben tatenlos zuschaut, eine gebeutelte Wählerschaft und eine Metropole, dessen Haushalt sowie Nahverkehr demnächst zusammenbricht.
Vor allem die Wähler fragen sich nun, was mit all dem ist, wovor man noch vor den Wahlen im Mai dringlich gewarnt hatte und wovon heute nichts mehr zu hören ist. Von wegen, die Rechte der Frauen würden unter der bisherigen Regierung massiv beschnitten werden? Damit, mit einem Wandel hatte man ja geprahlt. Stattdessen wird die recht junge Hafize Gaye Erkan von der Regierung zur neuen Notenbankchefin der Türkei ernannt. Und als ob das nicht reicht, wird Gökçen Fırat die erste Frau in der türkischen Geschichte der Marine, die in die Konteradmiralität berufen wird.
Wenn man von Wandel spricht, erfindet sich die amtierende Regierung immer wieder neu, während die Oppositionspartei CHP sich von ihrer besten verkrusteten Seite zeigt. So hat die AKP in ihrer Parteisatzung mit aufgenommen, dass ein Abgeordneter höchstens dreimal wiedergewählt werden darf. Zurzeit überlegt die AKP auch, diese Regelung auf kommunale Ebene auszuweiten, wovor Kommentatoren jedoch warnen. Zwar würde man mit der Abgeordneten-Regelung Kompetenzen fördern, frischen Wind ins Parlament wehen lassen, doch in den Kommunen gehe es um Leistung und Beständigkeit, die die Wähler direkt bestimmen wollen, so die eindringliche Warnung.
Innerhalb der CHP stellt sich diese Frage erst gar nicht. Wer einmal Abgeordneter einer Provinz wurde, der bleibt es auch bis zur Pensionierung, weil die Parteizentrale das will und der Abgeordnete selbst jeden Konkurrenzgedanken ausmerzt. Der Wähler bekommt also stets die selbe Figur aufgetischt, unabhängig davon, ob der Kandidat beliebt ist, etwas zustande brachte oder den Wählerwillen berücksichtigt. Der Wandel, wovon die CHP insgeheim über sich und die Türkei träumt, scheitert dementsprechend bereits an ihnen selbst.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
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