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Freitagsbotschaft: Ist diese Welt (dunya) minderwertig?

Manche Muslime sind nicht rückständig geblieben, weil sie sich dem Diesseits gewidmet haben, sondern gerade deshalb, weil sie sich mit dieser Welt nicht mehr beschäftigt haben. Der Koran schreibt ein aktives Verhältnis zum Leben, zu den Dingen und Ereignissen vor - dennoch haben manche Gelehrte ein passives Verhältnis zu der weltlichen Dinge (dunya) propagiert.

Imam Benjamin Idriz, (Foto: Islamische Gemeinde Penzberg)
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#Freitagsbotschaft: Ist diese Welt (dunya) minderwertig?

Von Benjamin Idriz

Manche Muslime sind nicht rückständig geblieben, weil sie sich dem Diesseits gewidmet haben, sondern gerade deshalb, weil sie sich mit dieser Welt nicht mehr beschäftigt haben.

Der Koran schreibt ein aktives Verhältnis zum Leben, zu den Dingen und Ereignissen vor – dennoch haben manche Gelehrte ein passives Verhältnis zu der weltlichen Dinge (dunya) propagiert. Und obwohl der Koran dreimal häufiger über das Diesseits als über das Jenseits spricht, wird in muslimischen Gesellschaften bisweilen alles, was mit dem Diesseits und mit materiellen Dingen zu tun hat, herabwürdigt und als minderwertig betrachtet.

Diese feindliche Art und Weise des Denkens in Bezug auf das Diesseits (dunya) hat den muslimischen Menschen, von der realen Welt und somit auch von Produktivität und Arbeitsenthusiasmus entfremdet. Dieses Ungleichgewicht kann die Ursache für das Scheitern sowohl im Diesseits als auch im Jenseits werden. Gott warnt: „Und wer in diesem (Leben) blind ist, der wird (auch) im Jenseits blind und noch weiter vom Weg abgeirrt sein“ وَمَن كَانَ فِي هَٰذِهِ أَعْمَىٰ فَهُوَ فِي الْآخِرَةِ أَعْمَىٰ وَأَضَلُّ سَبِيلً (17/al-Isra, 72).“

Diese Welt, dunya, ist in ihrem Wesen nicht schlecht, verdorben oder verachtenswert, wie es die Rhetorik mancher muslimischen Prediger propagiert. Das, was in dieser Welt schlecht ist, sind die schlechte Taten und nicht die Welt an sich. Die Muslime haben anderen seit Langem das Feld der Entwicklung und des Fortschritts überlassen. Heute kann die materielle Zivilisation nur durch Wissenschaft und Wirtschaft weiterentwickelt werden. Einerseits reden die Muslime darüber, wie es schlecht ist, sich dieser materiellen Welt zu widmen, andererseits kritisieren wir, dass Muslime rückständig bleiben.

Es ist nicht unerwünscht, Geld zu verdienen und reich zu werden, aber es ist nicht erwünscht und sogar verboten, geizig zu sein, Geld für schädliche Dinge auszugeben und die Zakat (Abgabe) nicht zu entrichten. Arbeit, Verdienst und überhaupt die Beschäftigung mit den weltlichen Dingen – das ist genau das, was Gott vom Menschen erwartet (9/at-Tawba, 105), weil er nur so seinen sozialen Verpflichtungen nachgehen kann. Muslime sind nicht rückständig geblieben, weil sie sich dem Diesseits gewidmet haben, wie es sonst die Glaubensrhetorik propagiert, sondern gerade deshalb, weil sie sich mit dieser Welt nicht mehr beschäftigt haben.

Im Islam gilt das Prinzip wonach im Grunde alles erlaubt ist, solange es nicht verboten wird. Mit anderen Worten, die Freiheit ist die Regel und das Verbot ist die Ausnahme. Die feindselige Grundeinstellung zu dieser Welt hat mit ihrer eifrigen Fokussierung auf das Jenseits jedoch eine lange Liste von Verboten und Tabus im Islam hervorgebracht. Der Grund für das Fehlen einer harmonischen Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits liegt darin, dass das Verhältnis zwischen beiden als vertikal betrachtet wird.

Ein solches vertikales Verhältnis postuliert, dass die Schönheiten dieser Welt verachtet werden sollten, um Seligkeit im Jenseits zu erreichen. So wird bei manchen Muslimen die Sauberkeit des Körpers, der Kleidung und der Umwelt weniger geschätzt als die Reinheit der Seele. Als Folge solcher Überzeugungen müssen wir im Orient in zahlreichen muslimischen Städten stark verschmutzte Straßen beobachten. Dieses profan-heilige Verhältnis zwischen Diesseits und Jenseits, dieser starke Kontrast, führt zu dem Konflikt zwischen īmān als Überzeugung und amel-salih als Aktion, zwischen dunya als dem Ort der Aktion und akhira als dem Resultat der Aktion.

Im Koran werden besonders stark die „Taten für das Wohl der Menschheit“ (amel-salih عمل صالح) betont. „Amel-salih“ ist nicht primär das rituale Gebet, das Fasten oder das Lesen des Korans, sondern sind die Taten welche alle Lebensbereiche umfassen. Die Rituale Handlungen geben dem Menschen die Motivation für seine Aktivitäten im Bereich des amel-salih. Es geht also um ein individuelles aber auch um ein allgemeinmenschliches Engagement, um Bemühen und Einsatz für das Wohl der Gesellschaft und für eine fortschrittliche Veränderung im sozialen Leben.

Dann geht es auch um das Engagement des Menschen in folgenden Bereichen: Politik, Wirtschaft, Kultur, Kunst, Wissenschaft, Technologie, Medizin usw. bis hin zum Engagement für die Menschenrechte und Gleichberechtigung und Gleichbehandlung aller Menschen, wie auch die Bekämpfung von Diskriminierung, Ausgrenzung und Feindseligkeit.

In Bezug darauf ist die Erfindung eines technischen Gerätes genauso wertvoll wie die Verrichtung der fünf täglichen Gebete. Einem Schüler Hausausgabenhilfe zu leisten, ist genauso eine gute Tat wie das Lesen des Korans. Materielle Unterstützung oder Mitarbeit beim Aufbau einer Schule, eines Krankenhauses oder sozialen Zentrums, verspricht einem Muslim genauso die Seligkeit im Jenseits. Das ist ebenso verdienstvoll, wie die Unterstützung oder Mitarbeit eines Gläubigen beim Aufbau einer Moschee. Seine Stimme gegen alle Formen der Unterdrückung, gegen Geschlechter- und Rassendiskriminierung und gegen jedes Übel öffentlich zu erheben, ist nicht weniger nützlich und moralisch wie die Stimme beim Gebetsruf zu heben.

Der Koran lädt ein, das Leben im Diesseits ernst zu nehmen und den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und die Förderung des Guten als Glaubensgebot zu verstehen. Der Gläubige ist derjenige, der die Balance zwischen Diesseits und Jenseits halten kann:
وَابْتَغِ فِيمَا آتَاكَ اللَّهُ الدَّارَ الْآخِرَةَ وَلَا تَنسَ نَصِيبَكَ مِنَ الدُّنْيَا ۖ وَأَحْسِن كَمَا أَحْسَنَ اللَّهُ إِلَيْكَ وَلَا تَبْغِ الْفَسَا

دَ فِي الْأَرْضِ إِنَّ اللَّهَ لَا يُحِبُّ الْمُفْسِدِينَ
„Suche stattdessen durch das, was Gott dir gewährt hat, das (Gute des) kommende(n) Leben(s), ohne dabei deinen eigenen (rechtmäßigen) Anteil in dieser Welt zu vergessen; und tue (anderen) Gutes, wie Gott dir Gutes getan hat; und suche nicht Verderbnis auf Erden zu verbreiten“ (28/al-Qasas, 77).

Aus diesem kausalen Verhältnis zweier Welten geht hervor, dass Gottes Gnade im Jenseits ohne gute Taten im Diesseits nicht zu erwarten ist. Ein Vers, der dem betenden Gläubigen täglich über die Zunge kommt, müsste ihn ständig an diese Balance erinnern:

رَبَّنَا آتِنَا فِي الدُّنْيَا حَسَنَةً وَفِي الْآخِرَةِ حَسَنَةً
„O unser Erhalter! Gewähre uns Gutes in dieser Welt und Gutes im kommenden Leben!“ (2/al-Baqara, 201).

Diese beiden Welten sollten sich im Bewusstsein und im Alltag, in allen Aktivitäten eines Gläubigen in einem ständigen Prozess der gegenseitigen Ergänzung, eigentlich in einer innigen Einheit befinden. Der Weg zu Gott und dem Jüngsten Tag führt über die Manifestation und Verwirklichung jedes menschlichen Wesens in seinem diesseitigen Leben in dieser Welt und Gesellschaft.

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