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Kommentar: Wachsender Einfluss der Türkei missfällt Washington und Europa

Die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA waren in den letzten Jahren wegen der Anschaffung des russischen Raketenabwehrsystems S-400 angespannt.

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Ambivalentes Verhältnis zwischen Ankara und Washington

Ein Gastbeitrag von Kemal Bölge 

Die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA waren in den letzten Jahren wegen der Anschaffung des russischen Raketenabwehrsystems S-400 angespannt. Nach US-Angaben gefährdet das Raketenabwehrsystem das Mehrzweckkampfflugzeugs F-35, da das russische System über ein empfindliches Radar verfüge, die Daten über die F-35 abrufen könne.

Bulgarien, Griechenland und die Slowakei, ebenfalls NATO-Mitglieder, sind im Besitz des russischen S-300 Raketenabwehrsystems, einem Vorgängermodell der S-400. Die Frage, die sich stellt, wäre, warum die USA bei der Türkei Sicherheitsbedenken äußern und bei den genannten drei NATO-Mitgliedsstaaten diese Bedenken nicht gelten sollen? Die türkische Regierung hatte die Sicherheitsbedenken der Vereinigten Staaten stets zurückgewiesen, da es die Sicherheit der NATO nicht gefährde, sondern der Selbstverteidigung diene.

Um die Frage nach dem Gründen der US-Politik bezüglich des russischen Flugabwehrsystems gegenüber der Türkei zu beantworten, ist eine chronologische Beschreibung einiger Ereignisse zwischen der Türkei und den USA erforderlich, die die Beziehungen beider Länder belastet haben.

Chronologische Beschreibung einiger Ereignisse der letzten 60 Jahre

  • Im Dezember 1963 kommt es in Zypern zu gewaltsamen Angriffen auf die zyperntürkische Volksgruppe, in dessen Verlauf zyperngriechische Paramilitärs Massaker an der türkischen Zivilbevölkerung verüben. Die Türkei als Garantiemacht erwägt daraufhin eine Militärintervention, die jedoch durch einen Brief von US-Präsident Johnson an Präsident Inönü unterbunden wird.
  • Am 20. Juli 1974 interveniert die türkische Armee auf Zypern, um die türkische Volksgruppe auf der Insel vor zyperngriechischen Extremisten zu schützen, die das Eiland an Griechenland (Enosis) anschließen wollten. Die Türkei beruft sich bei ihrer Aktion auf den Garantievertrag von 1959. Trotz dieses juristischen Sachverhalts verhängten die Vereinigten Staaten gegen das NATO-Mitglied Türkei ein Waffenembargo. Als Reaktion beschloss die damalige türkische Regierung die Schließung sämtlicher US-Stützpunkte im Land.
  • Mehrere NATO-Staaten führen am 1. Oktober 1992 im ägäischen Meer (Adalar Denizi) ein Seemanöver durch, bei dem der türkische Zerstörer TCG Muavenet durch zwei Sea-Sparrow Luftabwehrraketen (NSSM), die vom US-Flugzeugträger USS Saratoga abgefeuert wurden, getroffen. Bei diesem Angriff kommen der Kommandant und vier weitere Soldaten des türkischen Kriegsschiffes ums Leben und 22 weitere Marinesoldaten werden verletzt.
  • Die US-Regierung unter Präsident Bush hatte sich wegen des Angriffs damals bei der türkischen Regierung zwar entschuldigt und von einem „Versehen“ gesprochen, aber ein besonderes Merkmal dieser Rakete besteht darin, dass sie zwei parallel arbeitende CW-Feuerleitradare besitzt. Das erste Radar der Sparrow dient zur Beleuchtung des Ziels, um einen präzisen Zielanflug zu gewährleisten und das zweite zur Herausfilterung der Clutter, die an der Meeresoberfläche entstehen. Damit ist ein „Versehen“, wie die US-Regierung und die US-Navy behauptet hatte, ausgeschlossen.
  • In der nordirakischen Stadt Sulaimaniya (Süleymaniye) wurde am 4. Juli 2003 das türkische Hauptquartier einer Spezialeinheit von US-Soldaten umstellt. Unter dem Vorwand einer Attentatsvorbereitung auf den Gouverneur von Sulaimaniya werden die türkischen Spezialkräfte überwältigt, gefesselt, ihnen Säcke über dem Kopf gestülpt und zum „Verhör“ nach Bagdad gebracht. Dieser demütigende und skandalöse Vorfall sorgt in der Türkei für große Empörung und ist bis heute nicht vergessen. Die Soldaten werden nach 60 Stunden wieder freigelassen. Politische Beobachter halten die Gefangennahme als Rache der Vereinigten Staaten für die gescheiterte Abstimmung im türkischen Parlament (1. März 2003) zur Stationierung von US-Soldaten in der Türkei im Vorfeld des zweiten Irak-Krieges.
  • Ein Teil der türkischen Armee versucht am 15. Juli 2016 mit Waffengewalt die gewählte Regierung von Präsident Erdoğan zu stürzen. Der Putschversuch misslingt, da die türkische Bevölkerung tapfer Widerstand gegen die Putschisten leistet. Die Verschwörer schießen wahllos auf die Zivilbevölkerung und bombardieren das türkische Parlament. Bei den Auseinandersetzungen kommen mehr als 250 Menschen ums Leben, über 2.000 werden verletzt. Die türkische Regierung beschuldigt Mitglieder des in den USA lebenden Chefs der Fetullahistischen Terrororganisation Gülen für den Putschversuch verantwortlich zu sein.
  • Der damalige Oberbefehlshaber des US-Zentralkommandos, General Joseph Votel, macht wenige Tage nach dem Putschversuch während des Aspen Security Forums in Colorado hierzu eine Anmerkung. Einige engste Verbündete des US-Militärs in der türkischen Armee seien nach dem Putschversuch im Gefängnis. Er sei besorgt und beunruhigt über die Situation in der Türkei. Mit „engsten Verbündeten“ bezieht sich Votel auf Mitglieder des Gülen-Netzwerks. Das türkische Justizministerium stellte beim US-Justizministerium mehrfach einen Antrag mit Beweismitteln zur Auslieferung des Beschuldigten Gülen an die Türkei, der von den Vereinigten Staaten abgelehnt wurde.
  • Trotz mehrfacher Anfragen der türkischen Regierung zum Kauf von Flugabwehrraketen des Typs Patriot waren die USA nicht bereit, diese an die Türkei zu verkaufen. 2017 kündigte die Türkei daraufhin an, russische S-400 Flugabwehrraketen zu erwerben, die 2019 geliefert werden. Im Dezember letzten Jahres hatten die USA wegen der Anschaffung des russischen S-400 Flugabwehrsystems CAATSA-Strafmaßnahmen gegen den NATO-Partner Türkei angekündigt. Diese Maßnahmen waren ursprünglich gegen Staaten wie Russland, Iran oder Nordkorea verabschiedet worden, um bestehende Strafmaßnahmen noch einmal zu verschärfen. Die Sanktionsankündigung gegen einen Verbündeten ist ambivalent, weil die Türkei damit mit Staaten wie Iran oder Nordkorea auf eine Stufe gestellt wird.

Gegensätzliche Interessen führen zu Spannungen

Wie aus den Fallbeispielen deutlich geworden ist, kam es in den letzten 60 Jahren immer wieder zum Streit zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten. Dabei ging es um die grundsätzliche Außen- und Sicherheitspolitik der Türkei in der Region, die sich mit den Interessen Washingtons überschneidet. Während des Kalten Krieges traten diese gegensätzlichen Interessen wegen des gemeinsamen Feindes des Warschauer Pakts nicht offen zutage. 

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der „Neuausrichtung des Nahen Ostens“ durch die USA erhöhten sich die Spannungen mit der Türkei, da Ankara seine Interessen in der Region gefährdet sah und Terrororganisationen wie die PKK von Washington und anderen westlichen Verbündeten massiv unterstützt wurden. 

Der US-Plan einer Neuordnung des Nahen Ostens führt zum Zerwürfnis

Die US-Invasion des Irak mit Millionen toter Zivilisten, der Umsturz von Muammar al-Gaddafi in Libyen und des Zerfalls der staatlichen Ordnung. Der 2011 mit Unterstützung der USA begonnene Bürgerkrieg in Syrien und die umfangreichen Waffenlieferungen Washingtons an die PKK/YPG haben die Türkei zum Handeln gezwungen.

Die Anschaffung der russischen S-400 Flugabwehrraketen durch die Türkei sind nicht der eigentliche Grund für die Verabschiedung von Strafmaßnahmen seitens der US-Administration, sondern die entschlossene Politik der türkischen Regierung gegen Terrororganisationen wie die PKK oder Daesh/IS. Kurz nach dem Putschversuch von 2016 hatte die türkische Armee im August des gleichen Jahres grenzüberschreitende Operationen in Syrien durchgeführt, beidem türkische Kommando Spezialkräfte gegen Daesh/IS-Terroristen aufopferungsvoll gekämpft haben.

Westliche Arroganz und Doppelmoral gegenüber der Türkei

Nach dieser Intervention folgten weitere Militäroperationen der türkischen Armee gegen Stellungen der PKK/YPG in Syrien und auch im Irak. Westliche Regierungen, Parlamente und Medien hatten der türkischen Armee in Syrien eine „Invasion“ syrischen Territoriums vorgeworfen, die nicht vom Völkerrecht gedeckt sei, darunter auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages, aber die gleichen Institutionen spielen sprichwörtlich die drei Affen, wenn es um die völkerrechtswidrige Besetzung von cirka 30 Prozent syrischen Staatsgebiets in Nordostsyrien durch die US-Armee und der PKK/YPG geht.

PKK/YPG fördert illegal Erdöl in besetzten Gebieten Syriens

Die Terrororganisation fördert in diesen okkupierten Gebieten Syriens rechtswidrig Erdöl und verkauft dieses geklaute Öl über ein US-Erdölunternehmen auf dem Weltmarkt. Damit wäre der Tatbestand der Finanzierung einer Terrororganisation erfüllt. Die Vereinten Nationen wären hier gefordert, aber da die USA im UN-Sicherheitsrat sind, wird es nie zu Maßnahmen gegen Washington kommen.

Die Strategen im Pentagon hatten diesen Aspekt berücksichtigt und benannten die PKK in Syrien kurzfristig in „Demokratische Kräfte Syriens“ (SDF) um. Die ist selbstverständlich nicht in der Liste der Terrororganisationen. Man sollte einmal die Staaten, die die Türkei wegen ihren Militärinterventionen in Syrien kritisieren, fragen, was sie gegen eine Terrororganisation unternehmen würden, die an ihrer Grenze die Sicherheit ihres Staatsgebiets bedroht.

Deutsche Tornado-Kampfflugzeuge flogen ohne UN-Mandat über Syrien

Deutsche Tornado-Kampfflugzeuge flogen ohne UN-Mandat mehr als vier Jahre Aufklärungsflüge über Syrien, angeblich um die Terrormiliz IS in Syrien und im Irak zu bekämpfen. Weder die Grünen noch die Linken im Bundestag haben gegen diesen Völkerrechtsbruch etwas unternommen, denn über die Abstimmung im Bundestag berichteten nur wenige Medien in Deutschland. Die türkische Armee bekämpfte die Terrororganisation Daesh/IS ohne die Hilfe der „westlichen Verbündeten“ und hinterher beklagen sich diese, dass sie nicht gefragt wurden. Der scheidende US-Präsident Trump hatte 2016 erklärt, dass Daesh/IS von der „Obama Regierung gegründet“ wurde, um den Nahen Osten neu zu gestalten.

Wachsender Einfluss der Türkei missfällt Washington und europäischen Staaten

Der US-Regierung sind die grenzüberschreitenden Militäroperationen der türkischen Armee gegen die PKK/YPG ein Dorn im Auge, die sie trotz des Putschversuchs von 2016, nicht verhindern konnte.

Seit Jahrzehnten werden Terrororganisationen wie die PKK oder FETÖ von den USA und anderen europäischen Staaten massiv unterstützt. Darüber hinaus missfällt es den Vereinigten Staaten und anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich etc. die zunehmende Entwicklung von eigenen Waffensystemen der türkischen Rüstungsindustrie, da mit diesen Waffensystemen die Türkei auf diese Staaten nicht mehr angewiesen ist und kein Druckmittel gegen Ankara mehr existiert.

Neben der militärischen Stärke der türkischen Armee sind die USA mit dem wachsenden Einfluss der Türkei im Nahen Osten, im Kaukasus, in Afrika und auf dem Balkan unzufrieden. Die Türkei hat sich in den letzten 20 Jahren zu einer einflussreichen regionalen Macht in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht entwickelt, und das ist der eigentliche Grund für die Politik der USA und anderer europäischer Staaten gegenüber der Türkei.


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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