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Familie Akyüz
Hessen: Türkische Familie nach Jahrzehnten abgeschoben

Fünf Kinder, deren Lebensmittelpunkt seit ihrer Geburt Deutschland war, wurden zusammen mit ihren Eltern in der Nacht zum 4. Dezember 2020 in die Türkei abgeschoben.

Familie Akyüz (Foto: Privat)
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Sontra – Fünf Kinder, deren Lebensmittelpunkt seit ihrer Geburt Deutschland war, wurden zusammen mit ihren Eltern in der Nacht zum 4. Dezember 2020 in die Türkei abgeschoben.

Der Vater lebt schon seit 30 Jahren in Deutschland, alle Kinder sind dort geboren. Die Polizei soll bei der Abschiebung nicht gerade zimperlich vorgegangen sein. Angehörige und Freunde der Familie Akyüz haben nun eine Petition gestartet, die die Annullierung der Abschiebung der Familie zum Ziel hat.

Nach Aussagen des Familienvaters von fünf Kindern, Mahmut Akyüz, lebt er schon seit seinem 11. Lebensjahr in Deutschland. Mit seiner Frau Fatma wurde das hessische Sontra zu ihrer Heimat. Dort wurden auch alle Kinder der Familie, Ferdi (19), Bilal (18), Mesut (17), Sahra (15) und Mohamed (13) geboren. Die Kinder seien dort in ihren Schulen und in ihrem deutschen Umfeld stark verwurzelt. Ferdi, der Älteste, habe gerade seinen Realschulabschluss absolviert und sei auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz.

Die Brüder Bilal und Mesut besuchten beide eine Berufsfachschule und die beiden jüngsten Geschwister Sahra und Mohamed gingen im Gymnasialzweig der örtlichen Gesamtschule in die 9. bzw. die 7. Klasse. Wie die Werra-Rundschau berichtet, sei die Abschiebung für die ganze Familie sehr überraschend und nicht nachvollziehbar gekommen.

Mahmut Akyüz wandte dazu bei der Werra-Rundschau ein, die Duldung der Familie sei nicht abgelaufen gewesen. “Man hat uns behandelt wie Terroristen”, wird Mahmut Akyüz zitiert. Das Vorgehen der Polizei sei brutal gewesen. Die Polizei habe nachts gegen 2 Uhr die Haus- und Wohnungstüren aufgebrochen und sich so Zugang zur Wohnung der Familie verschafft. Wie die Werra-Rundschau weiter berichtet, sei laut Aussage der Familie, Mahmut Akyüz sowie sein Sohn Bilal gefesselt worden, Mutter Fatma wurden angeblich am Frankfurter Flughafen Fußfesseln angelegt.

Laut dem Sprecher der Polizeidirektion Werra-Meißen, Alexander Först, sei dies aus Eigensicherheitsgründen notwendig gewesen. Das Verhalten des Vaters war nach dessen Aussagen in einem sehr emotional aufgewühlten Zustand und daher schwer einschätzbar gewesen. Auch bei der Mutter seien aus reinen Sicherheitsgründen die Fußfesseln zum Einsatz gekommen. Die Bundespolizeidirektion vom Flughafen Frankfurt a.M. sagte dazu, dies seien Hilfsmittel des unmittelbaren Zwanges.

Der Grund der Abschiebung sei bisher noch völlig unklar, für die Familie sei die Abschiebung mehr als überraschend gekommen. Die Sprecherin des Regierungspräsidiums (RP) Kassel, Katrin Walmanns, begründete die Abschiebung gegenüber der Werra-Rundschau so: “Alle Familienmitglieder sind seit Langem vollziehbar ausreisepflichtig. Die Frist zur freiwilligen Ausreise ist ungenutzt verstrichen. Daraufhin wurde die Ausreise zwangsweise durchgeführt.”

Wann allerdings diese Frist abgelaufen sein soll, darüber könne das RP aufgrund des Datenschutzes nichts sagen. Dem widerspricht der Familienvater Mahmut Akyüz, die Duldung seiner Familie sei nicht abgelaufen gewesen. Sie seien weder über die Fristen noch über die Abschiebung selber informiert worden. Die dazugehörigen Informationen wären ihnen erst am Flughafen überreicht worden. Laut Werra-Rundschau hätte das RP Kassel hierzu erklärt, dass Betroffene zu Beginn über die Abschiebung aufgeklärt werden und sie würden dabei aufgefordert, das Nötigste zusammenzupacken. Am Flughafen würden sie dann der Bundespolizei übergeben.

Bei sicherheitsbegleiteten Flügen würden Betroffene im Flugzeug begleitet. In einem Videochat mit der Werra-Rundschau erzählten die Familienmitglieder, dass sie bei Verwandten in Istanbul untergekommen seien. Nach Informationen der Zeitung war die Stimmung bei dem Gespräch sehr emotional aufgeladen. “Wir sind alle traumatisiert”, sagte Mahmut Akyüz. Dabei ließen sie die Nacht der Abschiebung noch einmal Revue passieren. Sie wären von einem lauten Poltern im Haus aufgewacht. Für den 13-jährigen Mohamed Akyüz sei die Situation besonders dramatisch gewesen,

“Die haben die ganze Zeit ihre Hand an der Waffe gehalten”, berichtet er immer noch traumatisiert. “Ich habe so sehr gezittert, ich konnte mich kaum bewegen und kaum atmen”, schilderte die 15-jährige Sahra die Situation. Doch das Drama setzte sich am Flughafen fort. Laut den Aussagen des Vaters durften sie nichts mitnehmen und auch keine Anrufe tätigen und niemandem Bescheid geben. Damit die Beamten ihm die Handfesseln anlegen konnten, habe sich ein Polizist mit seinem Knie auf seinen Bauch gestützt. Davon habe er immer noch Schmerzen.

Mahmut Akyüz hatte Angst, dass man ihnen etwas antun würde. Er behauptet auch, dass dies keine normale Abschiebung gewesen sei. Nachdem im Auto auch der Sohn Bilal mit Kabelbindern gefesselt worden sei, hätte man der Mutter am Flughafen in Frankfurt Fußfesseln angelegt. Drastische Maßnahmen wurden der Familie auch am Flughafen auferlegt. Sie mussten sich demnach alle nackt ausziehen, dabei seien sämtliche Körperöffnungen kontrolliert worden. Für den 19-jährige Sohn Ferdi Akyüz war dieses Erlebnis besonders menschenunwürdig.

Ziemlich tragisch ist die Situation für die Kinder. Alle fünf in Deutschland geboren und aufgewachsen, haben sie deutsche Schulen besucht und beherrschen die deutsche Sprache besser, als Türkisch. “Ich fange jetzt von vorne an”, sagte die 15-jährige Sahra Akyüz in dem Video-Chat. Der Sprecher der Polizeidirektion Werra-Meißner beschreibt den Vorgang der Polizei im Haus der Familie Akyüz allerdings als weniger hektisch. Er betonte, dass die Familie durch die Polizei eine ausführliche Begründung sowie Aufklärung zur Abschiebung erhalten hätte.

Ebenfalls sei ihnen genügend Zeit zugestanden worden, um persönliche Dinge zu regeln, zu packen und die Information gefühlsmäßig zu verarbeiten. Der Polizeisprecher betonte dabei gegenüber der Werra-Rundschau, dass die Polizei auf Aufforderung des Regierungspräsidiums gehandelt hätte. Die Familie sei nach seinem Kenntnisstand seit mehreren Jahren vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Auch die Fesseln bei den einzelnen Familienmitgliedern sowie die nackte Untersuchung sei aus Sicherheitsgründen gerechtfertigt gewesen.

Derartige Verfahren fänden bei Flügen, die von Polizisten begleitet würden, immer statt. Angehörige und Freunde der Familie Akyüz haben nun eine Petition gestartet, die die Annullierung der Abschiebung der Familie zum Ziel hat. Darin betonen sie, dass es den Prinzipien der Menschlichkeit widerspricht, was dieser Familie angetan wurde. Wörtlich steht in der Petition, die von Leon Volkenant, Rabia und Leyla Akyüz unterzeichnet ist, folgendes:

Es widerspricht unseren Prinzipien von Menschlichkeit, dass dieser Familie durch unseren Staat ein so großes Leid zugetragen wird. Die beiden Eltern und ihre 5 Kinder, die der türkischen Sprache nicht einmal mächtig sind, befinden sich nun völlig hilflos, irgendwo in der Türkei. Die größtenteils minderjährigen oder gerade erst erwachsenen Kinder und ihre Eltern wurden ohne Vorwarnung und ohne bekannten Grund aus ihrer Heimat gerissen, von ihren Freunden und Verwandten getrennt und ihrer Existenzgrundlage bestohlen, die die Eltern 21 Jahre lang für sich und ihre Kinder hier in Deutschland errichtet haben.

Eine weitere Unterstützerin:

Kinder ausländischer Eltern in Deutschland müssen sich darauf verlassen können, dass sich Anstrengung in unserer Gesellschaft lohnt und sie nicht jederzeit abgeschoben werden könnten. Ein Gefühl von Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Ein Aufwachsen auf einem Schleudersitz dagegen, nach 13 bis über 20 Jahren nachts aus der eigenen Gesellschaft gerissen zu werden, traumatisiert die Betroffenen, ihr gesamtes Umfeld und sendet ein fatales politisches Signal von Willkür und Ignoranz, schürt Unsicherheit. Noch dazu während einer Pandemie und kurz vor Weihnachten eine solche Entscheidung zu treffen und umzusetzen, macht fassungslos.

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