Start Politik Ausland Kommentar Nordsyrien: Europa hat acht Jahre zugeschaut

Kommentar
Nordsyrien: Europa hat acht Jahre zugeschaut

Der Syrien-Vorschlag der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbaur ist beim NATO-Treffen auf wenig Interesse gestoßen. Damit ist der Vorschlag, eine international überwachte Schutzzone in Nordsyrien einzurichten, vorerst ausgebremst worden. Ein Kommentar.

Türkische Streitkräfte in Syrien während der Militäroperation "Friedensquelle" 2019.(Archivfoto: TRT)
Teilen

NATO-Treffen: Profis bremsen Kramp-Karrenbauer aus

Ein Gastkommentar von Nabi Yücel

Der Syrien-Vorschlag der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbaur ist beim NATO-Treffen auf wenig Interesse gestoßen. Damit ist der Vorschlag, eine international überwachte Schutzzone in Nordsyrien einzurichten, vorerst ausgebremst worden; zurecht.

Leicht lächelnd stand Kramp-Karrenbauer neben dem ernst dreinblickenden türkischen Amtskollegen Hulusi Akar. Sonst sieht man den ehemaligen Chef des türkischen Generalstabes, West Point-Absolventen sowie NATO-Verbindungsoffizier, in seiner Rolle als amtierenden Verteidigungsminister eher relaxt. So auch vor Beginn des zweitägigen NATO-Treffens in Brüssel. Wie selbstverständlich grüßte Akar lächelnd und bestimmt die Fotografen mit einem militärischen Salut.

Akar gilt seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei als der zweite Mann in der Türkei, der nach diesem einschneidenden Erlebnis die Außenpolitik der Türkei maßgeblich beeinflusst hat; und immer noch beeinflusst. Er eckt seitdem nicht nur gegen die USA an, sondern tritt auch gegenüber der NATO viel energischer auf; so auch am Mittwoch während dem NATO-Treffen.

Wie erwartet kam der Syrien-Vorschlag der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbaur während des NATO-Treffens nicht gut an. Das hat mehrere Gründe. Zum einen dürfte Hulusi Akar ein Machtwort gesprochen haben, denn NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte am Ende des ersten Tages des Treffens, man habe offen und ehrlich miteinander gesprochen.

Zum anderen hindert die Dynamik in Nordsyrien jedwede Pläne, zumal Europa längst als Zaungast nur zum Zuschauen verdonnert ist. Und als letztes hinterlassen die Einlassungen in der deutschen politischen Landschaft einen Faden Beigeschmack, bei der unweigerlich die Frage aufkommt, was man den letztendlich in Nordsyrien beabsichtigt.

Vor allem die Beweggründe der seit 100-Tagen amtierenden Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, eine internationale Schutzzone auf Nordsyrien – und nicht etwa auf andere Gebiete – einzurichten, stößt sauer auf. Kramp-Karrenbauer macht auch keinen Hehl daraus, in welchen Teil Syriens es sich lohnt, einzuschreiten und in welcher nicht. Wäre die deutsche Verteidigungsministerin so sehr um die Zukunft des syrischen Volkes besorgt, wäre sie längst drauf und dran mit Putin und Assad das Gespräch zu suchen oder zumindest mal ansatzweise die Sanktionen der EU gegen Syrien infrage zu stellen.

Stattdessen versteift man sich unerklärlicherweise in der deutschen Politik auf militärische Abenteuer in Nordsyrien, und nur hier. Kramp-Karrenbauer hat offenbar nicht vor, dem syrischen Volk Stabilität und Sicherheit zu bringen, sondern die Instabilität beizubehalten, außer in Nordsyrien. Nordsyrien scheint unerklärlicherweise eine Priorität zu besitzen.

Mehr als acht Jahre versuchte sich niemand in der deutschen Politik, mit einer wie auch immer gearteten Schutzzone zu profilieren. Mehr als acht Jahre sah man stattdessen zu wie das syrische Volk von einer Metropole in die andere verjagt, weggebommt oder in die Flucht ins Ausland gedrängt wird. Seit mehr als fünf Jahren kann man dabei zuschauen, wie die europäischen Innenminister um syrische Flüchtlinge schachern. Und seit mehr als drei Jahren kommt man dann auch noch nicht einmal dem Deal mit Erdoğan nach, der jetzt endgültig die Faxen dicke hat und droht.

Hulusi Akar hat diesem Treiben zusammen mit den Amtskollegen in Russland, Washington und dem Iran ein Ende gesetzt. Jetzt kommt die deutsche Amtskollegin und will nun eine längst überfällige und von der Türkei seit 2012 geforderte Schutzzone für sich verbuchen?

Das klappt nicht nur aus diesem Grund, sondern aus vielerlei Gründen. Zunächst einmal müsste Kramp-Karrenbauer Hulusi Akar davon überzeugen, der ebenfalls im NATO-Gefüge ein Veto-Recht besitzt, wie man die Region stabilisiert: Mit oder ohne die YPG. Zum anderen ist ein NATO-Mandat nicht automatisch von der UNO gedeckt. Auch wenn es von Kramp-Karrenbauer nicht beabsichtigt ist, auf die gesamte NATO zu setzen, sondern dafür einige wenige Verbündete zu gewinnen. Ohne UNO-Mandat wird es ziemlich „völkerrechtswidrig“.

Im Gegensatz zu Deutschland, Großbritannien oder Frankreich, besitzen Russland sowie die Türkei eine syrische Eintrittskarte. Russland wurde von Assad eingeladen in Syrien mitzumischen. Assad hat der Türkei per Abkommen (Adana 1998) zugesichert, ihre sicherheitsrelevanten Bedenken am Grenzgebiet in Syrien auch militärisch aus dem Weg zu räumen, wenn es erforderlich ist.

Kramp-Karrenbauer hat nichts von alledem. Vor der UNO werden etwaige Bemühungen, ein Mandat einzuholen vielleicht fruchten, denn Sie müsste nur 9 von 15 ständige wie nichtständige Mitglieder dafür gewinnen, aber letztendlich kann Russland mit einem Veto all das zunichtemachen. Und Russland hat bereits signalisiert, was man von so einer internationalen Einmischung hält.

Wozu also dieser Vorstoß mit Blick auf die NATO? Die meisten NATO-Verbündeten haben inzwischen realisiert, dass dort unten nichts mehr so sein wird wie früher. Nur Frankreich und Großbritannien haben Interesse daran, weiterhin vor Ort ein Wörtchen mitzureden; zumindest erwecken sie den Anschein dort noch den Fuß in der Türangel zu haben. Die USA als NATO-Zugpferd will auf keinen Fall mehr mit Bodentruppen antreten, will aber politisch am Ball bleiben und unterstützt jeglichen Vorstoß.

Kramp-Karrenbauer ist sich sehr wohl bewusst, dass dort unten auch in naher Zukunft kein bleibender Frieden herrschen wird; da macht sich auch die Türkei keine Hoffnungen mehr. Zu lange hält der syrische Bürgerkrieg an, zu viele Akteure haben einfach zugeschaut, wie das Land in einer Gewaltspirale unter geht. Viele Binnen- und Auslandsflüchtlinge sehen daher auch in Syrien keine Zukunft mehr, was sie verständlicherweise nicht auf ihre Kinder übertragen wollen.

Auch wenn die Türkei es schafft, eine gewisse Ordnung in der Schutzzone in Nordsyrien zu etablieren, den Störfaktor YPG-Kurden wird es immer geben und Assad wird mit Putin nicht eher ruhen, bis auch das letzte Rebellennest ausgehoben ist. Schon alleine das schreckt viele syrische Flüchtlinge in der Türkei davon ab, sich wieder in Syrien anzusiedeln. Nur etwa 300.000 syrische Flüchtlinge sind bislang in die gesicherten Zonen in Syrien zurückgekehrt; mit viel Überzeugungsarbeit und Geld.

Ist es etwa das, was die deutsche Verteidigungsministerin am meisten beschäftigt? Eine erneute syrische Flüchtlingswelle, die die Türkei überfordern und überrollen wird? Eine weitere Welle wird Europa nicht verkraften, weder politisch noch gesellschaftlich, dass ist ganz sicher. Das ist offenbar auch der Kernpunkt, der die Verteidigungsministerin zu solchen oberflächlich betrachtet, undurchdachten Plänen bewegt.

So undurchdacht ist der Plan aber nicht, nur wenig aussichtsreich. Ohne die Türkei oder Russland zusammen mit Assad mit ins Boot zu nehmen, wird Deutschland unweigerlich scheitern. Und bereits hier hakt es gewaltig. Mehrere Jahre hat man den NATO-Partner Türkei in allen Belangen brüskiert, gedemütigt, Verträge und Abkommen ausgesetzt, Sanktionen angedroht. Nicht anders sieht es bei Russland aus.

Nicht einmal mehr einen lausigen Flüchtlingsdeal vermochte man oder wollte man korrekt und pünktlich einhalten; da war sogar Trump zuletzt viel verlässlicher als die EU. Es ist nicht die Schuld von Kramp-Karrenbauer allein, aber sie und ihre Partei, die Koalitionspartner und die Oppositionsparteien waren es, die das Treiben in der EU gedeckt, den Flüchtlingsdeal zum Schluss verwässert und mit fadenscheinigen Begründungen den Geldfluss in der Pipeline in Richtung Türkei gedrosselt haben.

Noch immer sind seit 2016 von den Milliardenbeträgen für die Flüchtlingsversorgung in der Türkei – wenn auch von der EU bewilligt – noch nicht geflossen. Noch immer plappert man im Betreuten-Denken das nach, was die syrisch-kurdische YPG/PKK lautstark propagandistisch von sich gibt. Zudem haben sich im Dunstkreis der deutschen politischen und medialen Landschaft „Flüsterer“ breitgemacht, die tief im bürgerlichen Lager die Narrative und Perspektiven verankern und diese sich die Politik zu eigen gemacht hat. Auch gegenwärtig wird Kramp-Karrenbauer von eben diesen Flüsterern belagert, die vorgeben, was in Nordsyrien zu machen ist, welche angeblichen Verbrechen und Desaster unter der Kontrolle der Türkei zu befürchten sind.

Solange das anhält, ist Kramp-Karrenbauer, ist Deutschland zum Scheitern verurteilt. Gerade weil man jahrelang diese Narrative und Perspektiven in Deutschland gegen die Türkei verankert hat, ist es ein Kraftakt und politisch tödlich, sich ausgerechnet jetzt dagegenzustemmen. Deshalb ist man auch nicht in der Lage, der Türkei in dieser Hinsicht auch nur im entferntesten noch einen Deal anzudrehen, ohne dabei politisch selbst immensen Schaden zu nehmen.

Um den Anschein aufrechtzuerhalten, hat deshalb z.B. der deutsche Außenminister Heiko Maas schon mal ein Machtwort in Richtung Türkei gesprochen, um dort dann kleinlaut zu werden. Aber nicht einmal mehr das klappt, denn ausgerechnet sein türkischer Amtskollege twittert ihm entgegen, er solle seine Füße stillhalten, ansonsten sei er herzlich Willkommen.

(Screenshot)

Man tut eben weiterhin das, was man seit Jahren gegenüber dem Wahlvolk getan hat: weiterhin gegen die Türkei wettern und hoffen, dass die Türkei noch eine Weile mitspielt. Zudem erwartet man offenbar, dass das deutsche Volk selbst zur Räson kommt, wenn es merkt, dass alles aus dem Ruder gerät, wenn man der Türkei jetzt nicht unter die Arme greift. Es ist eine Gratwanderung, die die herrschende deutsche Politik da hinlegen muss, die am Ende über die Zukunft Europas entscheiden wird.


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


Auch interessant

– Militäroffensive in Syrien –
Erdogan: Adana-Abkommen von 1998 erlaubt Offensive in Syrien

Die USA und EU bezeichneten den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien völkerrechtswidrig und als Invasion. Ankara wurde aufgefordert die türkischen Streitkräfte abzuziehen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat am Mittwoch erneut – wie zuvor auch sein russischer Amtskollege Wladimir Putin – auf das Adana-Abkommen zwischen Ankara und Damaskus hingewiesen. Dieses Abkommen erlaube der Türkei eine Intervention in Syrien.

Erdogan: Adana-Abkommen von 1998 erlaubt Offensive in Syrien