
Ein Gastbeitrag von Özgür Çelik
Gestern war der 8. Mai. Die Welt gedenkt dem 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Ja, 1945 schwiegen die Waffen, Berlin fiel, Nazi-Deutschland kapitulierte. Und der Westen erklärte sich erneut zum „Retter der Menschheit“. Doch wir fragen: Welche Menschheit, in wessen Namen?
Während die Welt die großen Verbrechen Deutschlands verurteilt, verschweigt sie einen anderen Teil der Wahrheit: Die Sieger dieses Krieges waren bereits zuvor Täter eines anderen Krieges – des kolonialen Vernichtungskrieges. Wer hat in Algerien, in Indien, in den Tiefen Afrikas, in den Bergen Lateinamerikas und in den stillen Inseln des Pazifiks getötet, versklavt, Sprachen und Kulturen ausgelöscht?
Die wahre Geschichte steht nicht in den Büchern der Sieger, sondern in den Tränen der Unterdrückten geschrieben.
Yusuf Akçura schrieb bereits vor über hundert Jahren:
“Die europäischen Völker reden von Menschenrechten und Freiheit – aber das gilt nur für ihre eigenen Bürger. Für die Völker des Ostens sind sie entweder Sklaven oder Kunden.”
Was wir heute erleben, ist die lebendige Bestätigung dieser Worte. Die Menschenrechte des Westens sind ein Maßstab, der sich nach seinen eigenen Interessen biegt. Ihre Gerechtigkeit kennt keine Grenzen – und ihr Gewissen wiegt niemals schwerer als Öl oder Gold. Deshalb dürfen wir am 8. Mai nicht nur den Nationalsozialismus verurteilen, sondern auch die vielen „stillen Nazis“ des Westens entlarven.
Hitler wurde zum Sündenbock gemacht, um die eigenen Verbrechen zu vertuschen. Doch wir vergessen nicht:
Neben den Opfern in Auschwitz,
gab es Opfer in Algerien,
verbrannte Körper in Vietnam,
und erschossene Kinder in Palästina –
alle sind Opfer der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Heute führt Israel gegen das palästinensische Volk eine brutale Unterdrückungspolitik – mit Methoden, die denen der Nazis erschreckend ähneln. Wie kann eine Nation, die einst selbst Opfer eines Völkermords war, nun einen anderen begeht? Warum sieht die Weltgemeinschaft zu?
Wer schweigt, macht sich mitschuldig.
Attilâ İlhan fragte einst:
“Welcher Westen? Immer wieder: welcher Westen?”
Denn dieser Westen erzählt keine Geschichte – er schreibt sie. Mit Blut, Lügen und Waffen.
Sadri Maksudi Arsal verteidigte das Konzept einer Nation als geistige und kulturelle Einheit – im Gegensatz zum westlichen Rassismus. Unser Nationalgefühl ist nicht auf Überlegenheit gegründet, sondern auf gemeinsamen Schmerz, gemeinsamen Stolz, gemeinsames Schicksal. Unsere Liebe zur Heimat ist keine aggressive Ideologie, sondern eine tiefe, menschliche Verbundenheit.
Doch der Westen hat nicht nur kolonisiert – er ist in unsere Gedanken eingedrungen.
Sultan Galiyev warnte früh:
“Die Völker des Ostens dürfen nicht den Intellektuellen des Westens vertrauen, sondern ihrer eigenen revolutionären Seele.”
Was haben wir getan? Wir haben ihre „Intellektuellen“, ihre „Demokratie“, ihre „Modelle“ vergöttert. Und während sie in unsere Medien, unsere Bildung, unsere Häuser eindrangen, spalteten sie uns: in Aleviten und Sunniten, Türken und Kurden, Linke und Rechte. Sie säten Zwietracht und wir nannten es „Modernisierung“.
Es ist Zeit zu erwachen!
Es ist Zeit, diesem blutigen Spiel Einhalt zu gebieten. Die Stimme der unterdrückten Völker muss lauter werden. Unsere reine Liebe darf von diesen blutigen Händen nicht beschmutzt werden! Die Völker des Ostens sind Brüder. Horon und Halay, Semah und Zeybek, Trauer und Fest – all das sind unsere Formen des Miteinanders. Diese Erde gehört weder der westlichen Wut noch der östlichen Stille.
Vergesst nie:
„Das Licht kommt aus dem Osten.“
Gegen das trügerische Glitzern des Westens tragen wir das wahre Licht der Wahrheit. Das türkische Volk muss wachsam sein. Es ist an der Zeit, nicht nur Zuschauer zu sein – sondern Gestalter.
Dieser Aufruf ist kein bloßer Zorn –
Er ist der Ruf zum Erwachen.
Er ist nicht nur Klage über die Vergangenheit –
Er ist der Bauplan für die Zukunft.
Türkisches Volk!
Erhebe dich und kehre zu deinen eigenen Werten zurück!
Erinnere dich an deine geschichtliche Verantwortung und deinen zivilisatorischen Auftrag!
Vergiss nicht: Unsere Identität gründet sich nicht nur auf Herkunft, sondern auf einem gemeinsamen Schicksal!
Jetzt ist der Moment gekommen:
Die Welt braucht eine neue Stimme des Gewissens – und diese Stimme muss von uns kommen.
Sei wachsam, sei standhaft – denn die Geschichte ruft uns erneut zur Verantwortung.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
Zum Autor
Özgür Çelik studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Fachgebiete sind die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sowie zwischen der EU und der Türkei, türkische Politik, die türkische Migration und Diaspora in Deutschland