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Geschichte
„Türken waren Auslöser und Wetzstein europäischer Identität“

Federführend bei der Spaltung der Völker war Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. In seinen berühmten „Türkenreden“ rief er die Europäer, vor allem die Deutschen, zu einem neuen Kreuzzug gegen die Türken auf.

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von Çağıl Çayır – Historiker

Das Maß der historischen Verantwortung wird in Deutschland verständlicherweise vor allem auf die Zeit des Nationalsozialismus gewichtet. Dabei wird in der Regel jedoch vernachlässigt, dass die Nazi-Ideologie, die die Nazi-Verbrechen geistig vorbereitete, trug und begleitete, sich selbst auf Grundgedanken stützte, die schon seit Jahrhunderten in Europa verbreitet waren und es teilweise immer noch sind.

Maßgeblich für die Nazi-Ideologie waren – zusätzlich zur Judenfeindlichkeit, die es schon im alten Orient gab – vor allem der so genannte Eurozentrismus, der Germanenmythos und der Skandinavismus oder Nordismus und Nordizismus – das exklusive Klischee vom „Nordischen“. Ein kurzer Überblick:

Der Eurozentrismus

Der Eurozentrismus implizierte die Exklusivität und Überlegenheit der Europäer gegenüber dem Rest der Welt, was wiederum ihre kolonialistischen Verbrechen geistig vorbereitete, trug und begleitete — wie die Verfolgung und Versklavung von einheimischen Menschen in Afrika und Amerika, Asien und Australien. Aber auch in Europa, wie bei den Samen in Skandinavien.

Selbst Immanuel Kant stellte – wie viele seiner Zeitgenossen – die „weißen Europäer“ an die Spitze der Menschheit. Der Germanenmythos und der Skandinavismus sowie die fatale „Rassen-“ und Nazi-Ideologie stützten sich grundlegend auf den exklusiven Europa-Gedanken.

Der Germanenmythos

Der Germanenmythos implizierte die Gleichsetzung der Deutschen mit den antiken „Germanen“. Damit waren von Anfang an die verhängnisvollen Stereotype verbunden, denen zufolge die Deutschen die „reinen“, das heißt „unvermischten“ Ureinwohner Europas wären. Der Germanenmythos bildete die Hauptgrundlage der Nazi-Ideologie.

An dieser Stelle ist es wichtig an das Geständnis des Nazi-Propagandaleiters Heinrich Himmler zu erinnern:

„Es ist uns höchst gleichgültig, ob sich die Vorgeschichte der germanischen Stämme in Wirklichkeit so oder anders abgespielt hat […]. Der ganze Tacitus mit seiner Germania ist eine Tendenzschrift. Unsere Wissenschaft vom Deutschtum hat jahrhundertelang von einer Fälschung gelebt. Wir haben das Recht, dasselbe jederzeit zu wiederholen.“1 (Heinrich Himmler)

Das Klischee vom „Nordischen“

Bereits ab dem 16. und 17. Jahrhundert wurde das Klischee vom „Nordischen“ in Skandinavien machtpolitisch und nationalromantisch fetischisiert. Dazu gehörten sehr früh übertriebene, exklusive Vorstellungen wie, dass „alle Menschheitskultur aus Schweden ausgewandert“ wäre.

Schließlich wurde das Klischee vom „Nordischen“ in Europa bis zur Idee einer „Nordischen Rasse“ dem „Nordizismus“ überspitzt. An solchen Vorlagen bedienten sich die Nazis maßgeblich – besonders bei der Pervertierung der Runenschrift und „Nordischen“ Mythologie. Dabei übersteigerten sie den Nordismus und Nordizismus bis zum „Rassenwahn“ und Holocaust.

Fundamentaler Wandel im geschichtlichen Denken

Diese für die modernen „europäischen“ Identitäten grundlegenden, wie zuletzt auch für die Nazi-Ideologie maßgeblichen, exklusiven Ideen waren jedoch nicht selbstverständlich, sondern selbst die Folgen einer massiven kirchlichen Kriegspropaganda gegen die Türken ab der Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Mittelalterhistoriker Michael Borgolte spricht von einem „fundamentalen Wandel im geschichtlichen Denken.“

Denn wie neuere Geschichtsstudien zeigen, glaubten die Menschen im Mittelalter noch fest an die Urverwandtschaft der Völker. So erzählt zum Beispiel die älteste Herkunftslegende der Deutschen, die fränkische Sage aus dem 7. Jahrhundert, von der gemeinsamen Herkunft der Franken und Türken aus Troja.

Ebenso erzählt die älteste Herkunftslegende der Isländer von der türkischen Herkunft der Nordländer. Die Türken wurden sogar mit den in Europa höchst verehrten Trojanern (Link) gleichgesetzt. Doch nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 wurden derartige Verwandtschaftssagen zu lästig für die Kirchenherrscher und gewaltsam zerbrochen!

Die Türken waren Auslöser und Wetzstein ‚europäischer‘ Identität

Federführend bei der Spaltung der Völker war Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. In seinen berühmten „Türkenreden“ rief er die Europäer, vor allem die Deutschen, zu einem neuen Kreuzzug gegen die Türken auf.

Dabei schloss er die Türken dämonisierend aus der alten mythologischen Gemeinschaft der Völker aus und führte das neue Konzept von Europa als Festung sowie auch den Germanenmythos als Schlachtbegriffe gegen die Türken ein.

Dadurch prägte er nicht nur das negative Fremdbild der Türken, sondern auch das exklusive Selbstbild der Europäer und Deutschen folgenschwer. Der Historiker Johannes Helmrath schreibt: „Die Türken werden zum traumatischen Auslöser und zum Wetzstein ‚europäischer‘ Identität.“

Die Spitze des Eisbergs

Vor dem Hintergrund von Eurozentrismus, Germanenmythos, Nordismus und Nordizismus stellt sich die Nazi-Ideologie als Spitze eines exklusiven Eisbergs heraus, der nach 1453 durch die massive Türkenkriegspropaganda der Kirche vom Festland abbrach.

Dabei hing die für Europa identitätsstiftende Türkenfeindlichkeit der Kirche auch mit Islamfeindlichkeit zusammen. Folglich erfordert die Aufklärung der Nazi-Ideologie auch die Aufklärung der Türken- und Islamfeindlichkeit in Europa. Denn hieraus ergab sich erst die katastrophale Spaltung der Völker, die zu Eurozentrismus, Germanenmythos, Nordismus und Nordizismus sowie zuletzt zum „Rassenwahn“ der Nationalsozialisten in Deutschland und Holocaust führte.

Das bedeutet eine entscheidende Erweiterung des historischen Verantwortungsbewusstseins. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und der europäisch beeinflussten Welt.

Es gilt zu bemerken, dass Eurozentrismus, Germanenmythos und Nordismus inzwischen kritisiert, doch Türken- und Islamfeindlichkeit immer noch nicht grundlegend problematisiert werden. Zudem ist die Grundannahme der Fremdheit und Gegensätzlichkeit zwischen den Völkern und Kulturen immer noch weit verbreitet.

Dagegen deuten neuere Studien auf die lange Vorgeschichte der Kulturkontakte über Eurasien. Dadurch werden die früheren Trennungen zwischen Türken und Europäern verworfen und stattdessen ihre Gemeinsamkeiten erforscht. Daraus ergibt sich ein erneuter fundamentaler Wandel im geschichtlichen Denken. Hin zur Wiedervereinigung der Völker.


Autor

Çağıl Çayır studierte Geschichte und Philosophie an der Universität zu Köln und ist als freier Forscher tätig. Çayır ist Autor von „Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der alttürkischen und ‚germanischen‘ Schrift‘“ und ist Gründer der Kultur-Akademie Çayır auf YouTube. Seine Arbeiten wurden international in verschiedenen Fach- und Massenmedien veröffentlich


Quellen:

Michael Borgolte, Europas Geschichten und Troia. Über die Zeit, als die Türken Verwandte der Lateiner und Griechen waren (Europa im Mittelalter 24), in: Ders./Lohse, Tillmann/Scheller, Benjamin (Hrsg.), Mittelalter in der größeren Welt. Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung, Berlin 2014, S. 211-227.

Johannes Helmrath, Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) – Ein Humanist als Vater des Europagedankens?, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1327>.

Christopher B. Krebs, Ein gefährliches Buch. Die »Germania« des Tacitus und die Erfindung der Deutschen, München 2012.

Dieter Mertens, Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln et. al. 1991, S. 45 – 90. (Elektronischer Sonderdruck)

1 Hunger, Ulrich, Die Runenkunde im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Ideo­logiegeschichte des Nationalsozialismus (Europäische Hochschulschriften 3. Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 227), Frankfurt am Main et al. 1984, S. 454.


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