Start Panorama Ausland Disney-Entscheidung Atatürk-Film: Türkei machtlos gegen Armenier-Lobby

Disney-Entscheidung
Atatürk-Film: Türkei machtlos gegen Armenier-Lobby

Der US-amerikanische Streamingdienst Disney+ hat die ursprünglich geplante Serie, in der es um den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk geht, abgesetzt.

(Foto: nex24)
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ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Wachsender Lobbyismus schafft gesellschaftliche Ungleichheiten und verfestigt Machtstrukturen im Staat und Mehrheitsgesellschaft. Das Spüren vor allem Auslandstürken in Zusammenhang mit der armenischen Diaspora in der Welt.

Der US-amerikanische Streamingdienst Disney+ hat die ursprünglich geplante Serie, in der es um den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk geht, abgesetzt. Disney+ wollte eigentlich zum 100. Jahrestag der türkischen Staatsgründung, am 29. Oktober, die Serie in der Türkei zeigen. Daraus wird nun nichts.

Das armenische Nationalkomitee von Amerika hatte wochenlang Disney+ massiv dazu gedrängt, die Serie nicht zu veröffentlichen. Seit Ende Juni rief die Armenian National Committee of America (ANCA) den Streamingdienst dazu auf, von der Ausstrahlung einer Atatürk „glorifizierenden“ Serie abzusehen. Der Staatsgründer sei ein Diktator und Völkermörder, an dessen Händen das Blut von Millionen von Menschen klebe. Die Armenier werfen Atatürk vor, wegen seiner Rolle als Offizier in der osmanischen Armee am Völkermord an den Armeniern beteiligt gewesen zu sein.

Ob Atatürk in den Wirren des Ersten Weltkriegs tatsächlich mit der Umsiedlung von Bevölkerungsteilen zu tun hatte, steht zunächst mal offen zur Debatte, zumal er damals mit den Alliierten in Gallipoli schwer beschäftigt war. Ob die Umsiedlung selbst einen sogenannten Völkermord subsumiert, steht wiederum auf einem anderen Blatt.

Das ist für Follower in Sozialen Medien auch nicht entscheidend. Entscheidend ist, wie stark man in Gesellschaft und Politik diese These vertritt. ANCA startete mit dem Hashtag #CancelAtaturk auf sozialen Medien einen Sturm der Entrüstung, den bisher über sechs Millionen Follower geteilt haben. Das ist ein starkes Zeichen.

Ob der Film „Atatürk“ aber von Disney+ aufgrund dieses starken Engagements der ANCA abgesetzt wurde, ist nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass Disney+ mehrere türkische Filme bereits aus dem Portfolio genommen hatte, darunter „Kral Şakir: Geri Dönüşüm“, „Ben Gri“ und „Kaçış“. Und nun traf es eben „Atatürk“. Also doch nur ein Zufall, dass die Forderung der ANCA und die Entscheidung des Streamingdienstes zeitnah zusammenfielen?

Offensichtlich versucht Disney+ seit geraumer Zeit die internationale Filmsparte auszudünnen, weshalb auch viele türkische Filme nicht mehr gestreamt werden. Bob Iger, CEO von Disney+, hatte zuvor erklärt, dass das Unternehmen seine internationalen Originale reduzieren und sich auf weltweite Veröffentlichungen konzentrieren werde. Dabei gehe es um rund 5 Milliarden US-Dollar, die es einzusparen gelte. Ferner wolle sich Disney+ nicht auf Kulturkriege einlassen, so Iger. Das heißt, Disney+ setzte bereits türkische Filme ab, ehe ANCA auf die Idee kam, ein Film ins Visier zu nehmen.

Interessant in diesem Zusammenhang ist aber doch, dass es im Gegenzug nahezu keine gegensätzliche Meinung oder Protest gab, die diesem Social-Media-Massenphänomen, der von der ANCA angestoßen wurde, etwas entgegensetzen konnte. Weder hatte die Ataturk Society of America (ASA) von sich reden gemacht, noch irgendeine andere türkische Organisation in den USA. Zwar hatte die türkische Botschaft in Washington D.C. energisch protestiert, aber das ist in Anbetracht der offiziellen türkischen Lesart in der westlichen Sphäre nicht durchdringend genug.

Die ANCA bewies immer wieder, wie man in modernen Gemeinschaften als kleine und vermeintlich schwache Gruppe sich durchsetzen kann. Diese relativ kleine Interessengruppe, die Sonderinteressen verfolgt, mischt sich in die Modernisierung von F-16 Kampfflugzeugen ein, versucht den Verkauf von F-35 Kampfflugzeugen zu verhindern oder setzt sich für den Auslandsmilitäreinsatz in Nordsyrien ein. Wo auch immer die Türkei ihre Interessen verfolgt, konterkariert diese kleine Interessengruppe diese türkischen Ziele.

Das ist kaum verwunderlich, herrscht doch innerhalb dieser Gruppe eine gemeinsame Meinung, ist straff organisiert und hat einen hohen Interaktionsgrad. Damit gewinnt ANCA immensen Einfluss auf die Politik wie auch Mehrheitsgesellschaft, kann in Sozialen Medien Trends setzen und auf Situationen aufmerksam machen, die sie zu beeinflussen versucht.

Und wie sieht es bei türkischen Interessengruppen weltweit aus? Offensichtlich sind sie zu groß, damit schwerfällig, besitzen unterschiedliche Meinungen und können sich nicht auf einen Nenner einigen – oder wieso hört man von denen nichts? Zudem setzt sich offenbar auch der Drang jedes Einzelnen in den Vordergrund, sich politisch zu profilieren, vielmehr die eigenen Interessen zu befriedigen als die Interessen der Gruppe zu verfolgen.

Das Ergebnis ist ernüchternd: Die ASA kam in den USA nicht einmal in die Pötte, um dem Hashtag #CancelAtaturk etwas entgegenzusetzen. Als jedoch die Entscheidung der Disney+ bekannt gegeben wurde, übte man sich in Entrüstung, die seinesgleichen sucht. Etwas zu spät wie ich meine.

Das ist in Europa oder in Deutschland nicht anders. Eine starke türkische Interessengruppe, die die Interessen der Auslandstürken z.B. in Deutschland vertritt, sucht man vergebens. Vielmehr sind es kleine wie große Gruppen, die mehr schlecht als recht Einzelinteressen verfolgen und dabei tunlichst vermeiden, mit anderen Gruppen in Kontakt zu treten oder langfristig zusammen zu arbeiten.

Im Nachhinein zeigt man sich bei gegensätzlicher Entscheidung politischer oder gesellschaftlicher Natur jedoch stets entrüstet, das aber schnell vom Alltag verdrängt. Im Zusammenspiel all dieser Akteure würden sich die Machtverhältnisse in Deutschland oder in den USA aber gravierend verändern. Diesen mit entscheidenden Punkt wollen die Spitzen dieser Interessengruppen offenbar nicht aufgreifen. Dabei würde man damit die öffentliche Diskussion beeinflussen, mit Politikern kommunizieren, die eigene Weltsicht und Interessen voranbringen. Etwas, worauf die Auslandstürken seit Jahrzehnten vergeblich warten.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


Zum Thema

– Rezension –
Buch: Geschichte im Fadenkreuz der armenischen Lobby

In dieser interdisziplinären Arbeit thematisiert Cannon die Zweckentfremdung der Geschichtsforschung für politische Ziele. Weder die Forderung der Türkei, das Thema Historikern zu überlassen noch die Forderung der armenischen Diaspora die Geschehnisse dem moralisch-politischen Urteilsvermögen nationaler Parlamente zu übergeben spiegelt die Realität des Diskurses wider.

Denn Tatsache ist, und das ist das eigentlich Bedenkliche, dass das Thema im Wesentlichen von hochspezialisierten lobbyistischen Gruppierungen öffentlichkeitswirksam immer wieder platziert wird und vielmehr im parlamentarischen Geschäftsbetrieb zirkuliert als in akademischen Lehrkreisen offen und ehrlich behandelt wird.

Buch: Geschichte im Fadenkreuz der armenischen Lobby