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Geschichte
Ereignisse von 1915: Zahllose muslimische Opfer

Gräueltaten armenischer oder pontusgriechischer Freischärler und Freiwilligenverbände, die mit regionalen und sprachlichen Kenntnissen als Vorhut der zaristisch-russischen Armee während des Ersten Weltkriegs von Nordosten ins Osmanische Reich vorstießen, führten dazu, das ab Anfang 1915 muslimische Zivilisten fluchtartig ihre Heimat verließen und unter elendigen Bedingungen sowie Verfolgung in die westlichen Regionen Anatoliens zogen.

Getötete muslimische Frauen und Kinder in der osttürkischen Stadt Kars
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Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Gräueltaten armenischer oder pontusgriechischer Freischärler und Freiwilligenverbände, die mit regionalen und sprachlichen Kenntnissen als Vorhut der zaristisch-russischen Armee während des Ersten Weltkriegs von Nordosten ins Osmanische Reich vorstießen, führten dazu, dass ab Anfang 1915 muslimische Zivilisten fluchtartig ihre Heimat verließen und unter elendigen Bedingungen sowie Verfolgung in die westlichen Regionen Anatoliens zogen.

Partei İttihat ve Terakki

Hatten die Parteivertreter des osmanischen Komitees für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki) diese Gräuel und Verbrechen Vorhergesehen, als sie im Juni 1915 am armenischen Kongress in Erzurum teilnahmen? Dazu muss man auch die Unabhängigkeitsbestrebungen der Griechen in Griechenland oder griechischen Inseln sowie der slawischen Bulgaren in Bulgarien betrachten, die mit Gräuel und Vertreibung der osmanisch-muslimischen Bevölkerung einhergingen und schlussendlich in der Unabhängigkeit der Länder endeten.

Laut dem Militärhistoriker Edward J. Erickson muss sich bei den Vertretern der „İttihat ve Terakki“ Naci Bey und Bahaeddin Şakir der Eindruck in diesem Kontext betrachtet zwangsläufig gefestigt haben, dass die armenischen Notabeln eine Teilung oder Aufteilung des Reiches nicht nur erwogen, sondern mit dem russischen Zarenreich dazu konkrete Pläne zur Umsetzung erörtert hatten. Wie sonst erklärt man sich den Aufschrei von Şakir, der während des Kongress „das ist Verrat“ schreit? Schließlich hatte das osmanische Reich die letzten Jahre zuvor an die 83 Prozent der europäischen Besitzansprüche verloren, an die 69 Prozent der Gesamtbevölkerung des Osmanischen Reiches. Hinzukommen noch die Abermillionen Flüchtlinge aus dem Balkan und Kaukasus, die ein Trauma mit ins Reich tragen.

Kurz vor dem armenischen Kongress in Erzurum hatte die russische Armee bei der Schlacht von Sarıkamış am 15. Januar 1915 den Sieg über die osmanische Armee errungen – dem letzten großen Bollwerk der osmanischen Streitkräfte vor der nordostanatolischen Kasernen-Stadt Erzurum. Mehr als die Hälfte der 120.000 Mann starken osmanischen 3. Armee war in Sarıkamış dabei aufgerieben worden. Nur 150 Kilometer weiter debattierten nun armenische Notabeln im Lichte einer verlorenen Schlacht über die Zukunft des „Reiches“. Wenige Monate nach der Schlacht von Sarıkamış war der „Verrat“ nun nicht nur greifbar, sondern traurige Gewissheit!

Erzurum fällt

Mitte Februar 1916 wird Erzurum nach langwierigen Kämpfen von zaristischen russischen Kräften besetzt. Wenige Tage später wird auch die Schwarzmeer-Küstenstadt Rize eingenommen. Bis zum 15. März 1916 kann die eingeschlossene Osmanische Armee die russische Armee zwar davon abhalten, die Stadt Of einzunehmen, zieht sich aber aufgrund von Mangel an Mensch und Material ungeordnet zurück und die Stadt fällt.

Von der Stadt Of aus intensiviert die russische Armee ihre Strategie, über Sürmene die nächstgrößere Küstenstadt Trabzon als Brückenkopf einzunehmen. Am 18. April 1916 fällt die Stadt Trabzon jedoch, nach dem die russische Schwarzmeer-Flotte die Stadt sturmreif schießt, den Nachschubweg der osmanischen Armee blockiert. Geistliche der christlichen Minderheiten bitten daraufhin die russische Armee, die Stadt zu besetzen. Es kommt zu Plünderungen, Unterdrückung und Massaker an muslimischen Einwohnern, die noch in der Stadt verblieben sind. Freiwillige Verbände von Armeniern und Pontusgriechen, die sich der russischen Armee angeschlossen hatten, ziehen mordend durch den Küstenabschnitt und dringen bis weit in das Landesinnere hinein – die Geburtsstunde der osmanischen Freischärler, die zunächst unabhängig der osmanischen Armee auf Rache gesinnt durch die besetzten Regionen streifen.

Unbekannte Größe: muslimische Flüchtlinge und Todesopfer

Bis heute ist nicht abschließend bekannt, wie viele Zivilisten bei der Einnahme der Stadt Trabzon vertrieben oder getötet wurden. Es gab zwar Bemühungen des Osmanischen Reichsapparats, Binnen- und Auslandsflüchtlinge während ihrer Flucht in die ihnen zugewiesenen sicheren Ziele im Landesinneren oder im Westen mit Lebensmittelkarten und ausreichender medizinischer Versorgung zu unterstützen und bei Ankunft in den Schutzzonen einzuquartieren, doch nicht alle Flüchtlinge registrierten sich während ihrer Flucht vor den feindlichen Kräften bei den Behörden oder Hilfsorganisationen und zogen fernab bekannter Routen durch das Land.

Schätzungen nach wurden allein in der Stadt Trabzon und im Umland bis zu 8.000 Zivilisten ermordet, bis zu 80.000 Zivilisten verließen während des Vormarschs der russischen Armee fluchtartig die Provinz Trabzon. Laut den Dokumenten aus den osmanischen Archiven schätzte die osmanische Reichsführung die Flüchtlinge, die in „Elend“ und unter „unwürdigen Bedingungen“ die Provinzen Erzurum, Trabzon, Bitlis, Van sowie Erzincan bis Ende 1916 unregistriert ins Landesinnere verlassen hatten, auf über 1 Millionen.

In diesen fünf Provinzen lebten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 2,3 Millionen Muslime. Wie groß die Furcht vor den armenischen-, pontosgriechischen Freiwilligenverbänden als Vorhut der russischen Armee war, kann man an den Flüchtlingszahlen erkennen. Wie groß das Elend war, die aufgrund der Ernteausfälle und des harten Wintereinbruchs 1915/1916 unerträglich wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Bis Oktober 1916 schafften es laut osmanischen Dokumenten 79.100 Einwohner aus Trabzon in das 320 Kilometer entfernte Samsun. In Sivas kamen über 300.000 Flüchtlinge aus der östlichen und südlichen Provinzregion Erzurum an. Aus der Provinz Van flüchteten bis zu 80.000 Zivilisten nach Elâzığ und weitere 200.000 aus Van und Bitlis nach Diyarbakir.

Augenzeugenberichte von osmanischen Offizieren

Wie die osmanischen Flüchtlinge diese gefährliche Flucht bewältigten oder nicht überlebten, kann man anhand von Augenzeugenberichten erfahren. Hier sollte ein Buch erwähnt werden:

„Zehn Jahre Krieg“, so heißt das Buch des Generalleutnant Izzettin Çalışlar, der über den Balkankrieg, Ersten Weltkrieg und den Befreiungskrieg handelt.

Das Buch „On Yıllık Savaş“ handelt vom Offizier, der in allen drei großen Kriegen des Osmanischen Reiches gedient hatte; im Balkankrieg, im Ersten Weltkrieg sowie im türkischen Befreiungskrieg. Es sind die Aufzeichnungen von Generalleutnant Izzetttin Çalışlar, der in allen Kriegen sein Tagebuch mit dabei hatte und auch über Atatürk wichtige Notizen hielt.

Es sind vor allem die Notizen über die anatolischen Zustände während des Ersten Weltkriegs, in der das Drama über Hunger, Tod und Flucht sich widerspiegeln. Hier einige Notizen aus dem Buch, insbesondere über die Frontabschnitte in Bitlis:

„Menschen und Tiere sterben vor Hunger“

7. November 1916
Bin von Silvan nach Bitlis aufgebrochen…
Nach der Überquerung der Batman-Brücke, liegt wie ein Toter ein Mann auf der Straße, vor Hunger. Zwischen Brücke und Zielort erneut zwei Männer in ähnlichem Zustand. Es sind Muhacir (Flüchtlinge). Zwischen der Batman-Brücke und Silvan sowie nach der Brücke zwei Pferde, erst vor kurzem verendet, Menschen und Tiere sterben vor Hunger.

9. November 1916
Vor 8 Uhr Aufbruch aus Veyselkarani. Unser Gepäck bereits vor 7 Uhr aufgebrochen. Vor Aufbruch 150 Scheich-Hazret Freiwillige inspiziert. Unterwegs viele Muhacir gesehen. Sind in Richtung Bitlis. Alle hungrig, erbärmlicher Zustand, ein zum Tode gezeichnetes 4-5 jähriges Kind auf der langen Strecke allein, hinter einem Ehepaar. Verfolgt die zwei in etwa 100m. Entfernung weinend. Ich rüge sie wegen dem Kind. „Es ist nicht unseres“ sagen sie. In der Nähe von Destumi zwei Stunden Rast. Ich lasse die Sanitätsstation von Sükrü Efendi begutachten. Die Gebäude sind verwahrlost, kein Nachschub…

10. November 1916
Wegen Husten und des schlecht aufgestellten Zeltes sowie dem Wind nicht ruhig schlafen können. Nach 1 Uhr aufgewacht. Gegen den Husten Tee getrunken. Erneut schlafen gelegt. Nach 5 aufgewacht. Armee sendet persönlich chiffrierte Nachricht in der mitgeteilt wird, das sich eine feindliche Stellung in Richtung Bitlis bewegt und 30 Bataillone angefordert werden. Vor 7 Uhr von Duhan Militärposten aufgebrochen. 12.30 Uhr in Bitlis. Rafet Pascha und Gefolge erscheinen eine Stunde danach. Auf dem Weg wollten einfache Soldaten (Freiwillige) Trauben und Äpfel verkaufen. Als man sie mit Banknoten bezahlen wollte, weinten sie und beschwerten sich. Wir gaben ihnen recht. Auf dem Weg Menschenleichen und Skelette…

„Rafet Pascha ist nicht gekommen, weiß er nicht“

12. November 1916
Rafet Pascha hat wegen Unwohlsein um Rückkehr gebeten. 12 Uhr, Aufbruch zum 14. Regiment. Auf dem Weg begegnet uns Regimentskommandeur Ali Bey und grüßt uns. 2 Stunden später Ankunft. Bis zum späten Abend Regiment inspiziert, für gut befunden. Rafet Pascha hat hierfür 4 Stunden veranschlagt, er war nie da, weiß es nicht.

Am Abend Raki-Büfett serviert. Den anderen auch. Die Nähe zwischen Soldat und Vorgesetzten nicht sonderlich gut befunden. Mit neuen Kommandeur Ali Fuat Bey dies besprochen. In der Nacht schlecht geschlafen, Husten.

13. November 1916
Um 8 Uhr Aufbruch zum linken Frontflügel des 14. Regiments. Bis zum Keltepe eine Stunde gebraucht. Es liegt in diesem Bereich Schnee. Hier Kommandeur der Abteilung und die Post gesehen. Mit allen Vorgesetzten Schützengräben und Ausrüstung besprochen.

Mit Abteilungskommandeuren die feindlichen Bewegungen und Vorstoßversuche erörtert, ein zwei Pläne nahe gelegt. Badehu-Abteilung zurück gekehrt. Es ist vor 11 Uhr. Gegessen und um 00.15 Uhr Aufbruch nach Bitlis. Ali Bey begleitet uns den halben Weg. Auf dem Weg etwa 300 Milizen begegnet und befragt. Sie sind der linken Front zugeteilt worden. Sie sagten, sie seien hungrig. Habe sie nach Bitlis befehligt und Befehl gegeben sie zu verköstigen. Habe meine Haare gewaschen. Ruhe mich jetzt aus. Es ist 4.20 Uhr.

„10 – 15 muslimische Frauenköpfe gefunden“

16. November 1916
Badehu-Bitlis Krankenstationen inspiziert. Sauber befunden. Scheich Hazret, ein Arm amputiert, habe mich mit ihm getroffen. Auf eingegangenen Berichten reagiert und mehrere Haushalte durchsuchen lassen. 10 – 15 muslimische Frauenköpfe gefunden. Von dort zurück. Die Serefiye genannte Moschee besucht, Tierkadaver überall. Ist verwüstet. Unterwegs verwaisten 12-jährigen Ömer getroffen. Hab ihn zu mir genommen. Als sie ihn sehen, werden weitere drei ohne Väter und Mütter gebracht, denen ich nur mit Geld dienen konnte.


Dieser Gastbeitrag gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.



Zum Thema

– NEX24 Interview –
Französischer Historiker: „Die Verbrechen der armenischen Milizen sind in Vergessenheit geraten“

Bénard: An einem Winterabend saß ich mit türkischen Freunden in einer Kneipe, wo wir uns gewöhnlich einmal die Woche treffen, um Karten zu spielen. Die Nachrichten liefen im Fernseher. Als erste Schlagzeile verkündete der Journalist, dass Präsident Chirac und sein erster Minister Lionel Jospin am 29.1.2001 ein Dekret verabschiedet haben, in dem stand, dass Frankreich den Völkermord an den Armeniern anerkannte.

Die Ankündigung ließ meine Freunde verstummen. Nach einer langen Zeit des Schweigens fingen sie an zu erzählen. Ich hörte zu, ohne mich an den Gesprächen zu beteiligen. Sie kamen aus einer kleinen Stadt namens Bayburt, in der Osttürkei. 1915 nahmen Armenier die jungen und alten türkischen Bewohner der Stadt gefangen und sperrten sie in drei Scheunen auf dem Stadthügel unterhalb der Festung ein. Sie stecken die erste, dann die zweite an. Zum Glück für die dritte Scheune kam die türkische Armee rechtzeitig und vertrieb die Mörder. Die türkischen Soldaten befreiten die Gefangenen. Aber leider wurden Hunderte bei lebendigem Leib verbrannt.

Wie alle Franzosen war ich überzeugt, dass gegen die Armenier ein Völkermord begangen worden war, und dass sie in diesem Konflikt nur Opfer gewesen waren und auf gar keinen Fall Täter. Ich kannte meine Freunde seit langem und konnte nicht an deren Worten zweifeln. So fasste ich meinen Entschluss und begann über die türkisch-armenischen Ereignisse von 1915 zu recherchieren.

Französischer Historiker: „Die Verbrechen der armenischen Milizen sind in Vergessenheit geraten“