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Kommentar
Prof. Dr. Hans-Christian Günther über Religion, Christentum und Politik

Religion und Politik ist heute ein brisantes Thema, denn wohin man blickt wird aus verschiedensten politischen Perspektiven  Religion immer wieder als Ursache von gewaltsamen politischen Konflikten diskutiert. Ein Beitrag von Prof. Dr. Hans-Christian Günther

Porträt von Johannes Calvin, gezeichnet von Hans Holbein dem Jüngeren. (Screnshot/Wikpedia)
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Von Prof. Dr. Hans-Christian Günther

Religion, Christentum und Politik

I. Religion en Vogue

Religion und Politik ist heute ein brisantes Thema, denn wohin man blickt wird aus verschiedensten politischen Perspektiven  Religion immer wieder als Ursache von gewaltsamen politischen Konflikten diskutiert.

Der Gegensatz zwischen dem Niedergang traditioneller Religion in Teilen des Westens (nicht in den USA; das wird oft übersehen) und dem Beharren auf religiöser Tradition im islamischen Kulturkreis sowie einer dort neu aufkommenden Religiosität, die sich dezidiert als vernunft- und modernefeindlich definiert, dieser Gegensatz ist, verbunden mit unaufhaltsamen Migrationsströme in einer global geöffneten Welt ohne Präzedent.

In dieser Gemengelage wird der (Wieder-) Aufstieg der Religion in Teilen der Welt ein politisch brandheißes Thema. Ja, man betrachtet die Religion geradezu als Speerspitze eines oft heraufbeschworenen ‚Kampfes der Kulturen‘, der nach dem Zusammenbruch der SU angeblich die politische Weltszene prägt. Aus allen Ecken kommen Bücher auf den Markt, die das Risiko oder die Verantwortung der Religionen beschwören und je nachdem von einer Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit der kulturell-religiös bedingten Wertesysteme der Gegenwart ausgehen.

Ein bei allen Unvollkommenheiten und Verkürzungen höchst verdienstlicher Beitrag eines Politikers ist das Buch des deutschen Altkanzlers Helmut Schmidt. Man muss nur sein auf Youtube leicht zugängliches Interview zum Thema‚ Europa und der Islam‘ ansehen, um einen verblüffend einfachen Einblick in die Problematik von Religion und Staat im heutigen Europa zu erhalten: Was Helmut Schmidt über seine Unkenntnis der selbstverständlichsten Fakten zum Islam bekennt, ist ebenso erschreckend wie es verdienstlich ehrlich ist. Und wenn er am Ende zugibt, dass er sich umso weiter vom Christentum entfernt, je mehr er von anderen Religionen erfährt, so steckt auch darin eine Einsicht, der es sich lohnt nachzugehen.

II. Religion – ein problematischer Begriff in abrahamitischer Tradition

In zahlreichen Beiträgen habe ich dargelegt, wie problematisch es ist, wenn wir Europäer das für uns recht sinnentleerte Wort ,Religion’ auf analoge Phänomene anderer Kulturen anwenden.

Ich habe erläutert, wie dieses Wort durch Übertragungen vom paganen auf den völlig andersartigen christlichen Bereich eine Bedeutungsentleerung erfahren hat. Die Rede von ‚Religion‘ ist nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen eine All-round-Floskel geworden. Viele alltagsprachliche Konnotationen gehen in sie ein  und verstellen den Europäern den Blick auf das jeweils Eigene von nicht-europäischer Spiritualität.

An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass die drei sogenannten ‚abrahamitischen Religionen‘ nur eine ganz spezifische Form der Religiosität darstellen, mit Elementen, die anderen Kulturen und in der Tat auch der ‚paganen europäischen Volksreligion’ völlig fremd sind. Ich möchte nur drei Gedanken wiederholen, die m.E. das Verhältnis des Christentums zum Staat grundsätzlich prägen:

1) Alle drei abrahamitischen Religionen sind Offenbarungsreligionen, die allein schon dadurch, dass sie solche sind, ihrem Gott bestimmte Eigenschaften positiv zuschreiben, und vor allem die, dass er sich in seiner Offenbarung den Menschen liebend zuwendet und ihnen den Weg weist zu einer unendlichen Sinnerfülltheit ihrer Existenz.

2) Diese drei Religionen haben sich zu Beginn in einem geistigen Umfeld durchsetzen müssen, das stark von griechischer Philosophie geprägt war. Erst in Auseinandersetzung mit derselben, entwickelt sich ihre jeweilige Eigenheit und zugleich eine metaphysischen Überformung, die alle drei jenseits ursprünglicher Offenbarungsgehalte seit Jahrhunderten prägt. Sie wurden an einem Maßstab gemessen, der im Christentum am schärfsten auf einen Konflikt zwischen einer – ich möchte einmal sagen – ,Religion per se’ und ihrer rationalen Bewältigung hinauslief , ein dem Christentum inhärenter Konflikt, der uns ideengeschichtlich als Widerspruch von ‚fides‘ (Glaube) und ‚ratio‘ (Vernunft) überliefert ist.

3) Judentum und Islam sind ,Gesetzesreligionen’, die, jedenfalls was den Islam anbelangt, direkt auf staatliche Umsetzung angelegt waren. Deswegen auch kann es in ihnen im Grunde keinen Unterschied zwischen einer öffentlichen und einer privaten Moral geben. Ganz anders das Christentum, welches in all seinen Ausprägungen ursprünglich die Religion einer Gruppe war, der es nicht um Staatsbildung ging und der es aufgrund ihres Status auch gar nicht darum gehen konnte. Sie waren historisch gar nicht in der Lage, sich anders zu definieren als laut dem oft zitierten Herrenwort: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist (Matth. 22: 21).

Christlich-abendländischer Überheblichkeitswahn glaubt im letzten Punkt ein säkulares Staatsverständnis zu entdecken, also jenes Staatsverständnis, das heute unreflektierter Weise zum einzigen oder zumindest besten der Welt erklärt wird. Für sich selbst beanspruchen die westlichen Staaten eine ,vernunftgesteuerte’ freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung zu besitzen.

Und weil es ja das Christentum war, welches den ,Westlern’ dies allererst ermöglicht hat, soll es auch konsequent sein, ‚christliche Werte‘ (oder, wie man heute aus verständlichen Gründen lieber sagt, ‚jüdisch-christliche Werte‘) fest in der Rechtsordnung verankern. Deswegen auch benötigen fortschrittlich-säkulare Christen die Bibel allenfalls noch dazu, um sich zu versichern, dass die Aufnahme etwa eines so zutiefst mitmenschlicher Artikels wie dem der unterlassenen Hilfeleistung in das Strafgesetzbuch nur von eine Kultur zustande gebracht werden kann, die vom Geist des Gleichnisses vom barmherzigen Samariters geprägt ist.

Doch wäre dies wirklich so, warum bekennt dann ein ganz in jener christlich-freiheitlich-säkularen Gesinnung aufgewachsener Politiker vom Gewicht Helmut Schmidts, die Beschäftigung mit anderen Religionen habe ihn vom Christentum entfernt?

 III. Christliche Religion und staatliches Handeln

a) Die Geschichte

Das Judentum ist hier insofern von Interesse, als es zeigt, dass eine an sich  zumindest auf organisierte Umsetzung in einer Gruppe ausgerichtete Religion auch außerhalb staatlichen Handelns eminente kultur- und einheitsstiftende Funktionen erfüllen kann. Gerade dadurch, dass ihm sehr bald seine staatsbildende Funktion abhandenkam, hat sich das Judentum zu einer wichtigen kollektiven Kraft entwickelt.

Trotz der grauenhaften Verbrechen, denen Juden über Jahrhunderte ausgesetzt waren, stiftete die Religion unter ihnen nicht nur eine kulturbewahrende Einheit, sondern hat sie sogar dazu befähigt, einen unverzichtbaren Beitrag zur friedlichen und liberalen Kultur des sie barbarisch verfolgenden christlichen Europas zu leisten.

Die jüdische Identität ist religiös mit einer besonders tiefen Wärme und mitmenschlichen Solidarität erfüllt; erst mit der Errichtung eines postkolonialen Staates, mit der Imitation europäisch-säkularen Nationalismus und Kolonialismus, wurde damit begonnen, diese spezifisch jüdische Humanität zu zerstören und gar für Gewalt zu instrumentalisieren.

Der Islam wurde als Staatsreligion konzipiert, tritt bis heute vielfach als eine solche auf und definiert sich selbst als eine Religion des Realismus und der (sozialen) Gerechtigkeit. Mohammed war in der Tat auch ein genialer Staatsmann; und die Scharia ist – entgegen auf reiner Böswilligkeit und Ignoranz ad nauseam wiederholter Gegenbehauptungen -, eine bis heute anwendbares und in ihrer Grundintention höchst realistisches und zur staatlichen Umsetzung ideal geeignetes Regelwerk.  

Die Ignoranz bezüglich Scharia ist freilich so groß, dass es Nicht-Muslimen unbekannt scheint, dass die Scharia weit mehr ist als unmittelbar staatlich umsetzbares Regelwerk. Die Scharia ist umfassende religiöse Verhaltensregel. Weltliches und religiöses Recht wird aus ihr mit komplexen Methoden der Rechtsfindung abgeleitet (fiqh). 

Das Christentum nun hat sich, insofern es staatskonstituierend wurde,  als vielleicht katastrophalste Religion erwiesen. In jeder Hinsicht scheint es dazu ungeeignet, ein christlicher Staat ist eine contradictio in adiecto. Dass die christliche Religion ein säkulares Staatsmodell enthalte, ist ein auf Unwissenheit und heute geradezu auf Infamie hinauslaufender Irrtum.

Nicht anders verhält es sich mit der Behauptung, die christliche Schöpfungsgeschichte (die es gar nicht gibt) sei ein Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Geschlechter, denn geflissentlich übersieht man dabei die zwei Versionen der jüdischen Schöpfungsgeschichte sowie die Tatsache, dass auch der Islam den Menschen zweigeschlechtlich definiert (wie auch sonst).

Betrachtet man die Geschichte europäischer Staatlichkeit auch nur oberflächlich, so muss jedem auffallen, dass sie eine Geschichte des Verbrechens, der Gewalt, der Intoleranz und Überheblichkeit ist, die auf der Welt ihresgleichen sucht. Nicht nur das osmanische Reich war den christlichen Imperien an Toleranz weit überlegen, zum Beispiel hat der Islam im Khanat der Krimtartaren ein geradezu vorbildliches Staatsmodell entwickelt.

Dabei ist es freilich die Tragödie des Christentums und des Islam, dass sie den monotheistischen Absolutheitsanspruch des Judentums, der stricto sensu nur für die eigene Gruppe galt, universalisiert und dadurch das ihm inhärente Gewaltpotential freigesetzt haben. Der Islam hat dies allerdings in einer gemäßigten Form getan, wohingegen das Christentum dieses Gewaltpotential rücksichtslos über seinen gesamten Herrschaftsbereich verbreitete.

Sicherlich ist zunächst jene von Anfang an missglückte Version des sich metaphysisch überformenden und so zu einer geradezu absurden Hybridisierung führenden Christentums in erster Linie der Katholizismus. Das heißt, ich spreche hier von einer bestimmten Version des Christentums, nicht vom Christentum schlechthin. Unglücklicherweise musste das Christentum zu Beginn sich in einem geschichtlichen Umfeld behaupten, wo es nur als Fehlgeburt starten konnte, was aber auch nicht heißt, dass es im weiteren Verlauf keine Versuche gab, aus dem katholischen Dogma auszubrechen.

Hier ist in der Tat die Reformation eine der wichtigsten positiven Zäsuren in der europäischen Geschichte. Von ihren Hauptexponenten ist nicht zu erwarten, dass sie mit einem Schlag alle Fehlentwicklungen korrigierten, doch durch ihren Rückgriff auf die Heilige Schrift, ihre zumindest partielle Abkehr von metaphysischer Überformung und vor allem durch ihre Abkehr von den extremsten Auswüchsen staatlichen Religionsmissbrauchs haben sie immerhin einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass Europa sich überhaupt kulturell, geistig und staatlich weiterentwickeln konnte.

Die Reformation kann sogar das Verdienst für sich beanspruchen, der katholischen Kirche den Anstoß zu einer Erneuerung gegeben zu haben, durch die der Katholizismus sich im französischen 17. Jh. noch einmal an die Spitze der europäischen Kultur setzte und im französischen Absolutismus ein Staatsmodell entwickelte, das in seiner Konsequenz, inneren Stimmigkeit und in seinem zeitweise enormen politischen Erfolg besticht. Doch diese Veränderungen standen auf tönernen Füßen. Seit dem 18. Jh. entwickelt der Katholizismus sich zu einer Fußnote der Geschichte und gleicht einem einzigen Rückzugsgefecht.

Neben dem neuen Staatsverständnis Luthers, das eher Türen öffnete, als in sich selbst Verdienste zu haben, entwickelt die Reformation in Calvins ‚Genfer Gottesstaat’ tatsächlich ein christliches Staatsmodell, das Respekt abnötigt und durchaus mit erfolgreichen islamischen Staatsmodellen zu vergleichen ist.

Leider ist Calvins Leistung dadurch verdunkelt, dass die unglückliche Hinrichtung Servets fast das einzige ist, was man von seinem Staatsmodell weiß. In seinem Modell verband Calvin echte religiöse Observanz mit einer daraus begründeten sozial verantwortlichen und – trotz Servet – in der Behandlung religiös und politisch Verfolgter tolerant-menschlichen Lebensform. Auch Calvins persönlicher Lebenswandel, seine Integrität und auf echter Frömmigkeit gegründete Menschlichkeit, nötigt Respekt ab, den man zwar manch anderem Christen auch zubilligen kann, doch kaum einem an den Schalthebeln politischer Macht sitzenden Christen.  

 b) Moderne Problemlagen

Das Hauptverdienst der Reformation bestand darin, Europa eine geistige Kultur zu ermöglichen, die in staatlich verordnete und pervertierte Religionsform nicht verstrickt ist. Dazu gab es auch schon früher Ansätze, und nicht erst seit der Renaissance, aber ohne die Zerschlagung des katholischen Monopols auf politische und religiöse Kontrolle, konnten sie nicht fruchtbar werden.

Ich denke nach dem bislang Gesagten ist deutlich: der säkulare Staat und die ihn hervorgebrachte Epoche der Aufklärung entsprechen mitnichten einer christlichen Ausrichtung, nein, genau umgekehrt: erst eine Kultur, die sich auf eine pervertierte Religiosität staatlich gründete, bedurfte einer Aufklärung und konnte dann in einem säkularen Staatsmodell explodieren. Eine Religion, die zu staatlicher Umsetzung ungeeignet war, musste irgendwann zu einer nicht mehr religionsverankerten Staatlichkeit führen.

Doch es erwies sich als verhängnisvoll, dass Vernunft zur Pseudobegründung einer nicht auf Vernunft gegründeten Religiosität instrumentalisiert worden wurde, so dass es zu einer radikalen Revindizierung der Vernunft als alleinigem Maßstab menschlichen Denkens kam. Keine zivile Gesellschaft, keine Vernufterkenntnis konnte auslöschen, dass die europäische Kultur von den Werten ihrer jahrhundertelangen Religiosität geprägt war, weswegen sich nur das Modell eines pseudoreligionsneutralen Staates entwickeln ließ.

Neben einer öffentlich gültigen ,Minimalmoral’ sollte sich nun eine private, religiös bedingte Moralität und Sinnbestimmung frei entfalten können. Theoretisch klafften öffentliche und private Moral auseinander, so wie das einst in der klassischen Antike in Europa der Fall war, wo die Religion in ihrer ursprünglichen Funktion als ein Set bloßer Akte des Sakralen zunächst Staatsreligion war, während private Moral allenfalls in einer ,philosophischen’ Ausdeutung ihrer prinzipiellen Inhaltslosigkeit gegründet sein konnte.

Indes, eben diese theoretische Inhaltslosigkeit ging der christlichen Religion ab, und die säkularer Staaten seit dem 18. Jahrhundert waren auf eine Kollision öffentlicher und privater Moral angelegt In der Praxis führte dies dazu, dass die demokratischen, ,vernunftgesteuerten’ Gesellschaften sich immer aggressiver als jüdisch-christlich definieren und der christlichen Religion eine absolute Priorität eingeräumt wird, oft sogar in Form staatlicher Finanzierung ihrer Funktionäre, während andere Religionen allenfalls auf Duldung hoffen dürfen. Von einer Gleichberechtigung anderer Religionen kann im heutigen Europa nicht im Entferntesten die Rede sein.

Unerträglich wird das alles, wenn etwa in Deutschland Kirchenvertreter (die allen Ernstes von Sexualneurotikern erwarten, Wein in Blut zu verwandeln und dies als ,vernünftig’ ansehen) maßgeblich beeinflussen können, wie in Kommissionen über ethische Fragen entschieden wird. Wie können sich Kirchenvertreter im Verein mit Politikern als demokratisch legitimiert betrachten, Entscheidungen zu treffen, die dem mehrheitlichen Willen diametral entgegenstehen und welche zu beurteilen eigentlich der modernen Naturwissenschaft obliegt? Was an solchen Staaten religionsneutral, demokratisch oder gar vernünftig ist, kann niemand, der bei klarem Verstand ist, erkennen.

So bleibt zunächst einmal festzuhalten: die Aufklärung in Europa und im Westen ist gründlich gescheitert: sie hat weder religionsneutrale, noch vernunftgesteuerte Staaten hervorgebracht, sondern solche, die im Grunde genommen wesentlich unvernünftiger und verbrecherischer sind als mittelalterliche.

Unvernünftiger,  weil sie noch heute, im Zeitalter moderner Naturwissenschaft, einer Personengruppe, die in einer Art Karnevalskostüm umherläuft und an Wunder glaubt, das Recht einräumt, in gesellschaftlich-politischen Fragen maßgeblich mitzusprechen. Verbrecherischer sind die modernen westlichen Staaten, weil dem westlich-christlichen Überlegenheitswahn heute technische Mittel zur Verfügung stehen, deren Zerstörungskraft jede Vorstellungskraft überschreitet – jedenfalls war letzteres einmal so, heute scheint Massenmord so selbstverständlich geworden, dass ihn kaum noch jemand wahrnimmt, und Titel renommierter Zeitungen dazu mahnen, die Deutschen müssten das töten lernen – als ob wir nicht zur Genüge gezeigt hätten, das wir das besonders gut können.

 d) Gegenwartsanalysen

Bisher habe ich von ehemaligen Auswüchsen der westlich-säkularen Staaten geschrieben, die mit der Vorrangstellung eines zur Farce gewordenen Christentums kooperierten. Inzwischen nun, wo diese Farce immer weniger Rückhalt in der europäischen Bevölkerung findet, hat sich der säkulare Staat selbst an die Stelle der Religion gesetzt und wirkt jetzt sogar noch tyrannischer als die christliche Staatsreligion.

Säkulare Staaten haben die moderne Religion des liberalen Staates und seiner unantastbaren Werte, der Menschenrechte, geschaffen – so, als wären Werte mathematisch beweisbar und könnten tatsächlich wie Naturgesetze universal gültig sein. Dies aber widerspricht nicht nur der aktuellen Wertepluralität in einer globalen Welt, sondern auch unserem aktuellen westlichen Denken, wenn wir uns nicht belügen.

In seinem neuen Gewand entpuppt sich der säkulare Staat als das, was er eigentlich schon immer war: die Reaktion auf ein von Anfang an missratenes Staatsmodell und  zugleich als dessen Zerrbild. Zwar propagiert der angeblich aufgeklärte moderne westliche Staat eine bequeme Scheinfreiheit, etwa wenn konservative Politiker wie die 68er-Generation leben oder evangelische Pastoren in hohen Staatsämtern ihr Freiheitsverständnis demonstrativ als bekennende Ehebrecher zur Schau stellen.

Aber in der Praxis hält man es doch so, dass jeder, der sich nicht den zu Kolonialzeiten verkündeten und doch noch immer unbedingt und universal gültigen Menschenrechte fügt, leicht durch Bomben dazu erzogen wird, ein Mensch im Sinne dieser Menschenrechte zu werden. Diese Gewalttätigkeit nach außen ist nicht nur Zynismus moderner Politik, sie ist die unmittelbare Folge des Ursprungs jener Rechte in der Aufklärung, einer Aufklärung, die – so ganz nebenbei – die Überlegenheit europäischer Kultur zementiert und Rassismus und Kolonialismus theoretisch untermauert hat.

Echte Toleranzmodelle sucht man heute besser in ,unaufgeklärten’ Kulturen, zum Beispiel im ostasiatischen Raum, wo man ein Dokument echter staatlich sanktionierter Toleranz bereits aus dem 3. Jh. in den berühmten Edikten des Ashoka findet. Einen Vertreter religiöser Toleranz wie Mahatma Gandhi sucht man selbst unter christlichen Theologen, die eine große Offenheit gegenüber anderen Religionen an den Tag legen, vergeblich.

Einen wirklich religionsneutralen und vernunftgesteuerten Staat gab es einmal in der VR China: dort ist der Staat tatsächlich areligiös, und er räumte ursprünglich jeder Religion das gleiche Recht ein, sich innerhalb der Verfassung religiös auszuleben, verbat  sich jedoch, dass Religionsvertreter durch Mission den sozialen Frieden stören. In Japan ist das heute noch so. Es ist an sich befreiend und wohltuend, wenn man Länder wie China und Japan bereist und feststellt, wie metaphysisch unaufgeregt dort politische Entscheidungen getroffen werden. Aber die jüngste Entwicklung in China, wie etwa die Behandlung der muslimischen Uiguren und Christen zeigt auch die Gefahren, selbst solch eines Staatsmodells. 

IV. Was kann ein reformierter christlicher Glaube heute zu Politik und Gesellschaft beitragen?

Bisher könnte der Leser den Eindruck haben, als ob ich dem Christentum jegliche Fähigkeit, einen positiven Beitrag zu den politischen Problemen der heutigen Welt beizutragen, abspräche. Nichts wäre falscher.

Wovon ich schrieb, war die Religiosität der offiziellen Kirchen,  keineswegs das Christentum an sich. Äußere Voraussetzung für einen positiven Einfluss des christlichen Glaubens heute wäre allerdings eine neue, wesentlich radikalere Reformation: die katholische Kirche vor allem, aber auch die offiziell protestantische, samt den Evangelikalen, die die Mehrheit der US-Bürger zur Leugnung der Evolution veranlassen, sowie den Lauwarmchristen, die auf eine Art Wellnessmehrwert aus sind, vor allem aber jegliche metaphysische Religion hat in unserer heutigen Welt nichts mehr verloren.

Der Abgang institutionalisierter Kirche ist nur zu begrüßen, und jede staatliche Hilfe (vor allem finanziell), aber auch jede Privilegierung, jede Bindung an das gesellschaftliche Establishment muss beseitigt werden, erst dann können Christen sich auf das besinnen, was den Kern ihres Glaubens eigentlich ausmacht.

Nun wäre es anmaßend, wenn ich behaupten würde, ich wüsste besser als jeder andere, was dieser Kern ist. Alleine durch eine solche Behauptung würde ich mich schon völlig diskreditieren. Ich spreche somit hier nur für mich, und ich kann nichts anderes erhoffen, als dass vielleicht auch andere in dem, was ich sage, etwas finden, das ihnen auf ihrem eigenen Weg hin zu etwas, das höher ist als alle Vernunft, hilft. Und damit sind wir bereits im Zentrum des Problems.

Das Scheitern der institutionalisierten Religion liegt zu einem guten Teil an der Arroganz einer Institution, am besten oder gar alleine über etwas Bescheid zu wissen, über das es so etwas wie Bescheid-Wissen gar nicht geben kann. M.E. setzt jede Annäherung an das Religiöse zuallererst Demut, die Erfahrung der eigen Schwäche, Unvollkommenheit, Fehlbarkeit und Zerbrechlichkeit als Indiz des eigenen Verwiesenseins auf ein Höheres voraus.

Diese Demut verbietet auch jeden Anspruch auf Priorität der eigenen Religion gegenüber einer anderen. Das bedeutet nicht einen Verzicht auf absolute Zuwendung zu der je eigenen Form von Religiosität, es bedeutet, diese absolute Zuwendung als eine je eigene zu erfahren, die zum Anderen hin öffnet, nicht ihn vereinnahmt. Gerade eine Religion, die einen Absolutheitsanspruch beinhaltet, wie Christentum oder der Islam, lässt gerade in diesem Absolutheitsanspruch Raum für das Anerkennen des anderen.

Die absolute Zuwendung, die diese Religionen fordern, versteht sich ja aus der absoluten Zuwendung des sich in Liebe offenbarenden Gottes zu dem so ganz anderen, von Schwäche und Fehlbarkeit geprägten Menschen. Erstere ist die Antwort auf jene so unerhörte Einladung des Absoluten, dem Menschen in all seiner Schwäche einen Weg zur Erfahrung der göttlichen Vollkommenheit zu eröffnen.

Diese Erfahrung des Von-Gott-Angenommen-Seins öffnet den Menschen zur Annahme des Mitmenschen als des in all seiner Andersheit gleich Wertvollen, sie fordert in ihrer letzten Konsequenz geradezu eine Einstellung wie diejenige Gandhis, der religiöse Toleranz vielleicht so prägnant wie kein anderer in das Wort gefasst hat: ,Meine Religion ist meine Mutter, und so ist sie für mich die beste und schönste. Und ebenso ist die Religion des anderen dessen Mutter und deshalb für ihn die beste und schönste.’

Echte religiöse Erfahrung ist m.E. mit jeder Absolutsetzung einer Form von Religion unvereinbar. Die Erfahrung des alles Menschliche Überschreitenden führt zu der Einsicht, dass alle Religionen, ebenso wie alles, was ein einzelner Mensch in ihr erfahren kann, nur unendlich kleines Stückwerk ist im Angesicht der unendlichen göttlichen Wahrheit.

Sie führt weg von Arroganz und Überlegenheitsanspruch zu Demut und Anerkenntnis, weg von Missionierung zum Bedürfnis des Lernens von anderen Religionen,zu der Einsicht, das alle Religionen komplementäre Einsichten in Dasselbe, nie Fassbare, doch immer neu zu Erringende sind. Dass dieser Demut das ,christliche’ Europa mehr als jede andere Kultur bedarf, ist nach dem oben Gesagten offenkundig.

Doch damit eröffnet sich die Frage, was das Spezifische dieses Fensters auf die göttliche Wahrheit ist, das das Christentum auszeichnet. Ich kann diese Frage hier nur sehr oberflächlich angehen, doch müsste ich es auf eine Formel bringen, so würde ich sagen: das Christentum ist die Religion der Aufhebung des Leides im Leid.

Der christliche Gott ist der Gott, der sich seiner Macht begibt, der Leid nicht in seiner Allmacht hinwegnehmen, sondern nur im Mit-Leiden aufgehoben sein lassen kann. Wer ihn auffordert, vom Kreuz zu steigen, und sich als der Allmächtige zu offenbaren, für den bleibt dieser Gott stumm. Er bleibt mit seinem Leid und seiner Verzweiflung allein.

Nur derjenige, dem es gelingt, in der Ohnmacht Gottes die unerhörte Zuwendung Gottes zum Leid des fehlbaren, zerbrechlichen Menschen zu erfahren, der erfährt, dass nicht er als einzelner, sondern dass Gott in seinem Leid leidet. Und so verwandelt sich in jenem Blick auf das Leid des ohnmächtigen Gottes am Leid der Welt das eigene Leid in das Leid der Welt. Nicht das Leid wird hinweggenommen, hinweggenommen wird das Ich. Und jenes ichlose Leid ist ein leidloses Leid.

Dieses ichlose Leid leidet nicht am eigenen Leid, es leidet am Leid des anderen, es leidet das Leid der Welt. Die Erfahrung dieses ichlosen Leides als des Leids der Welt an der Welt ist der Kern des Mit-Leidens im christlichen Sinne, die Essenz des menschgewordenen Gottes des Christentums, der überall dort ist, wo eine Kreatur leidet, und jedem Menschen in der Aufgabe des Ichs den Weg zu jenem leidlosen Leid der Welt zeigt.

Dass diese Religion gerade in unserer heutigen Welt, wo trotz allen Fortschrittes, ja in allem Fortschritt das Leid nie dagewesene Dimensionen angenommen hat, wo das unendliche Leid von unzähligen Menschen immer mehr Menschen bekannt wird, eine ungeheuer wichtige Rolle spielen könnte, ist nur allzu offenkundig.

Das kann sie jedoch nur, wenn sie diesen ihren Kern wiederfindet, indem sie jede gesellschaftlich verbindliche Rolle aufgibt und nicht anderes ist als der Versuch jedes einzelnen ,Christen’ sich dem Leid des anderen zu öffnen, das Leid des anderen nicht zu übersehen, sondern seinen Blick im Gegenteil ganz auf das Leid, das allgegenwärtige Leid des anderen Menschen zu richten. Diese Religiosität kommt mit keiner Kultur, keiner Religion in Konflikt, sie ist etwas rein Privates, aber gerade in diesem rein Privaten eine ungeheuer tief reichende gesellschaftliche Macht, die sich nicht von oben, sondern im Gegenteil von unten her, in tätiger Solidarität mit dem Schwachen, dem Leidenden, versteht.

Das Christentum verdankt seine Stelle als Weltreligion vor allem der Leistung eines Mannes, des Apostels Paulus, der aus der wohl in jeder Hinsicht beschränktesten Religionsgemeinschaft, die man sich vorstellen kann, eine Religion für alle Menschen gemacht hat. Geglückt ist das durch seinen Blick für das Wesentliche einer speziellen Erfahrung Gottes. Der Blick auf das Wesentliche öffnet zugleich den Blick auf die je aktuellen Bedürfnisse der Welt. Immer wenn ich die Briefe des Apostels Paulus lese, kann ich nur diese einmalige Verbindung von Weltklugheit, pragmatischem Realismus und Spiritualität bewundern.

Paulus hat den Kern der christlichen Religiosität zu einer Antwort auf die Probleme der Menschen seiner Zeit und seines Lebensraums gemacht. Ob das Christentum in unserer heutigen Welt überlebt, hängt davon ab, ob es zu jenem Geist der Besinnung auf das Wesentliche zurückkehren kann, der zugleich Pragmatik und Realitätssinn bedeutet. Nur ein solcher wäre zu einer Reformation an Haupt und Gliedern fähig. Einen Mann wie den Apostel Paulus hat das Christentum in seiner langen Geschichte nicht mehr gesehen.

Die Reformation war im Vergleich zu seinem Reformwerk eine Fußnote. Eine wirkliche Reformation müsste weit über Paulus selbst hinaus und hinter ihn zurückgehen, aber ich möchte doch mit einem berühmten Wort dieses Mannes schließen, das mir den Geist, in dem das Christentum heute gesellschaftlich wirksam sein könnte, in unvergleichlicher Prägnanz auszudrücken scheint:

,Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen (Galater 6:2).’   


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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Prof. Dr. Hans-Christian Günther

Geb. am 28.4.1957 in Müllheim / Baden

Professor für klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität. Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung