Ein Gastbeitrag von Özgür Çelik
Während europäische Nationalismen häufig auf Ausgrenzung, ethnischer Abgrenzung und imperialistischen Bestrebungen beruhen, gründet der türkische Nationalismus auf völlig anderen Prinzipien.
Bereits Yusuf Akçura – einer der bedeutendsten Vordenker dieser Bewegung – betonte, dass der türkische Nationalgedanke nicht aus einem Gefühl der Überlegenheit, sondern aus dem Bedürfnis heraus entstand, die verstreuten türkischen Völker vor äußeren Bedrohungen zu schützen und ihre kulturelle Identität zu bewahren.
Es handelt sich um eine demokratische Form des Nationalismus, die vereinen und nicht spalten will – unabhängig von ethnischer Herkunft. In seinem Werk Üç Tarz-ı Siyaset (Drei Arten der Politik) formulierte Akçura treffend:
„Der türkische Nationalismus strebt nicht die Unterdrückung anderer Völker an, sondern die Erneuerung und den Schutz des eigenen kulturellen Erbes.“
„Der türkische Nationalismus ist demokratisch; er sucht nicht die Vernichtung anderer, sondern die Blüte der eigenen Nation.“
Auch Ziya Gökalp, ein weiterer bedeutender Ideengeber des türkischen Nationalismus, sah die Nation primär als eine Gemeinschaft von Kultur und Sprache – nicht von Blut oder Rasse. Diese Haltung hat tiefe Wurzeln in der türkischen Geschichte: Die Türken fragten nie nach der Herkunft ihres Nachbarn – sie litten, feierten und überlebten gemeinsam.
Daher beschreibt Akçura diesen Ansatz zu Recht als „demokratischen Nationalismus“, gegründet auf dem Prinzip:
„Wir lieben den Menschen, weil er ein Geschöpf Gottes ist.“
Diese Sichtweise unterscheidet sich grundlegend von den nationalistischen Strömungen Europas, die häufig auf Abgrenzung und Überlegenheitsdenken beruhen. Jahrzehntelang versuchten westliche Ideologien, ihre engen Definitionen von Nation und Nationalismus dem türkischen Denken aufzuzwingen.
Doch sie scheiterten – und werden weiterhin scheitern. Denn die türkische Welt liebt den Menschen aus einem tieferen Bewusstsein heraus: aus Ehrfurcht vor dem Schöpfer. Für uns ist die Heimat kein bloß geografisches Konzept – wir lieben Erde, Luft, Wasser und Feuer. Unsere Vaterlandsliebe ist lebendig, umfassend und von einer spirituellen Tiefe, die westliche Materialisten kaum erfassen können.
Der Unterschied zu westlichen Bewegungen
Im Westen mündete Nationalismus oftmals in Rassismus, Kolonialismus und Unterdrückung. Nationale Bewegungen definierten sich dort über die Abgrenzung vom „Anderen“: Wer nicht dazugehörte, wurde ausgegrenzt, entrechtet oder ausgelöscht.
Dem gegenüber steht der türkische Nationalismus, der auf Einbeziehung beruht: Freude und Leid werden gemeinsam geteilt – ungeachtet von Herkunft oder Hautfarbe. In der türkischen Tradition ist derjenige, der mit reinem Herzen neben uns steht, ein Bruder – ganz gleich, welcher Ethnie er entstammt. Diese Denkweise prägt die gesamte türkische Welt seit Jahrhunderten.
Schon im späten 19. Jahrhundert formulierten Denker wie Ali Suavi, Ahmet Ağaoğlu und Mehmet Emin Yurdakul die Idee eines umfassenden kulturellen Nationalismus, gegründet auf Bildung, Wissenschaft und sozialer Gerechtigkeit.
Sadri Maksudi Arsal schrieb in seinem Werk Die soziologischen Grundlagen des Nationalgefühls(Milliyet Duygusunun Sosyolojik Esasları):
„Das Nationalgefühl ist keine biologische Tatsache, sondern ein soziales Phänomen, das sich aus gemeinsamen Erinnerungen, Sprache, Kultur und Willen zusammensetzt.“
„Nation bedeutet nicht Blut, sondern geteilte Ideale, gemeinsame Sprache, gemeinsame Erinnerungen und gemeinsame Hoffnung.“
Es ging den türkischen Nationalisten nie darum, andere zu verdrängen – sondern darum, ein kollektives Bewusstsein zu stärken, das auf Respekt, Menschlichkeit und Solidarität basiert.
Auch Mustafa Celâlettin Paşa, ein polnischer Freiheitskämpfer, der zum Islam konvertierte, betont in seinem Werk Alte und neue Türken (Eski ve Yeni Türkler):
„Die Türken haben in ihrer Geschichte keine Politik der rassistischen Expansion verfolgt; ihr Nationalbewusstsein war stets ein Bewusstsein des Lebens, nicht des Todes.“
„Die türkische Nation unterscheidet sich dadurch, dass sie nicht auf Überlegenheit, sondern auf kultureller Treue und moralischen Werten basiert.“
Diese Aussagen belegen deutlich: Der türkische Nationalismus ist offen, kulturell und friedfertig – kein Werkzeug der Unterdrückung, sondern ein Ausdruck kultureller Selbstbehauptung.
Türkische Nationalisten im Exil und ihr Schicksal
Außerhalb Anatoliens litten viele türkische Völker unter schwerster Repression. Der bolschewistische Terror nach der Oktoberrevolution raubte zahlreichen Turkvölkern nicht nur ihre politische Autonomie, sondern zielte auch auf die Auslöschung ihrer kulturellen Identität ab.
Sultan Galiyev, einer der bedeutendsten und tragischsten Persönlichkeiten dieser Epoche, träumte von einer pan-türkischen Einheit, gegründet auf sozialer Gerechtigkeit und Unabhängigkeit. Er wurde von Stalin verhaftet, jahrelang gefoltert und 1940 ermordet.
Seine gesamte Familie fiel systematischer Verfolgung zum Opfer. Galiyev war ein Vertreter des „nationalkommunistischen“ Ansatzes, der sich weigerte, die kulturelle Identität seines Volkes der sowjetischen Assimilierungspolitik zu opfern.
Ebenso verdienen Namen wie Zeki Velidi Togan, Abdullah Tukay, Mağcan Cumabayev, Hüseyinzade Ali Turan, Çolpan oder Vahidov Erwähnung – Intellektuelle, Dichter und Aktivisten, die oft unter Lebensgefahr für den Erhalt türkischer Kultur und Identität kämpften. Viele endeten in Arbeitslagern, andere verbrachten ihr Leben im Exil.
Der Stalinismus war nicht nur ein politisches, sondern auch ein kulturelles und menschliches Verbrechen – ein Genozid gegen jene Völker, die sich ihre Eigenständigkeit bewahren wollten. Die Türken Zentralasiens, der Wolga-Region und Sibiriens wurden unterdrückt, deportiert und ermordet.
Die Geburt der Türkischen Republik – Der Triumph des Nationalgeistes
Die Gründung der Türkischen Republik markierte den Sieg eines humanistischen und kulturellen Nationalismus. Vordenker wie Yusuf Akçura, Ziya Gökalp, Ahmet Ferit Tek, Halide Edib Adıvar, Müfide Ferit Tek, Hamdullah Suphi und viele weitere leisteten Pionierarbeit für ein modernes, unabhängiges Staatswesen.
Atatürk fasste den Geist dieser Bewegung in seinen berühmten Worten zusammen:
„Ne mutlu Türküm diyene!“
(„Wie glücklich ist derjenige, der sich Türk nennt!“)
Und:
„Yurtta sulh, cihanda sulh.“
(„Frieden im Land, Frieden in der Welt.“)
Diese Worte verkörpern die Essenz eines Nationalismus, der auf Frieden, Brüderlichkeit und Humanität basiert – im scharfen Gegensatz zu aggressiven und ausgrenzenden Nationalismen des Westens.
Neue Bedrohungen, gleiche Prinzipien
Auch heute begegnen wir denselben Mustern:
Westliche Mächte – insbesondere die USA und europäische Staaten – verfolgen außenpolitische Strategien, die ethnische, religiöse und politische Bruchlinien verschärfen. Im Syrienkonflikt etwa unterstützten sie Gruppen, die gezielt auf die Zerstückelung bestehender Staaten hinarbeiten.
Die dort lebenden Turkmenen, ein alttürkisches Volk, wurden systematisch marginalisiert und ignoriert. Eine Marionettenregierung ohne echte Repräsentation wurde etabliert.
Gleichzeitig sucht die Europäische Union wirtschaftliche Zusammenarbeit mit zentralasiatischen Republiken, ohne die kulturelle Unterdrückung der dort lebenden Turkvölker anzusprechen. Im Vordergrund stehen Öl, Gas und geopolitische Interessen – nicht Menschenrechte oder kulturelle Identität.
Die unsterbliche Seele des Türkentums
Trotz Unterdrückung, trotz politischer Intrigen lebt der Geist des türkischen Nationalismus weiter – nicht als Chauvinismus, sondern als Streben nach Freiheit, Würde und Menschlichkeit.
Der 3. Mai 1944 – der Tag des Widerstands der türkischen Jugend in Ankara – bleibt eine ewige Mahnung: Wer für seine Identität kämpft, kämpft zugleich für die Menschlichkeit.
Wir Türken lieben den Menschen um seiner selbst willen.
Wir lieben die Erde als unsere Mutter.
Und wir verteidigen unsere Freiheit mit der Kraft unserer Ahnen.
Die Stimmen von Galiyev, Akçura, Togan und Millionen anderen, die für diese Werte litten und starben, sind nicht verstummt.
Im Gegenteil – ihre Lieder hallen heute lauter denn je durch Steppe, Berge und Flüsse des gesamten türkischen Kosmos.
Und sie sagen uns:
„Ein freier Mensch ist ein Mensch, der seine Wurzeln kennt – und sie niemals verrät.“
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
Zum Autor
Özgür Çelik studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Fachgebiete sind die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sowie zwischen der EU und der Türkei, türkische Politik, die türkische Migration und Diaspora in Deutschland