Am 02.12.2019 wurde in der ARD Sendung ・Titel, Thesen und Temperamente・eine sehr einseitige und fragwürdige Sendung in Bezug auf die Gewaltereignisse von Tunceli 1937-1939 (ehemals Dersim) ausgestrahlt.
Die Unterstellungen in der Sendung waren eigentlich gezielte Anschuldigungen und Diffamierungen insbesondere gegen den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der zu diesem Zeitpunkt auf dem Sterbebett lag.
Auch wurden in der Sendung weder die historischen noch gesellschaftspolitischen Hintergründe zu diesem Vorfall durchleuchtet, sodass hier auch eine sehr einseitige Wahrnehmung erreicht wurde.
Von einem öffentlich-rechtlichen Sender muss man aber schon eine differenzierte und ausgewogen politisch-neutrale Sichtweise erwarten, was in diesem Falle aber nicht der Fall war.
Die türkische Regierung hatte eine freundschaftliche Beziehung zu Deutschland aufgrund der freundschaftlichen Beziehungen zum deutschen Kaiserreich und dem Bündnis im ersten Weltkrieg, was als Fortsetzung gesehen werden kann.
Über diesen Vorfall gibt es mehrere miteinander konkurrierende Narrative, wobei die ARD allerdings nur eines als einzig wahr verstanden wissen möchte und die von ihr ausgesuchte Lesart breitenwirksam über TV-Kanäle und Internet reproduziert.
Jedoch findet ein „Historikerstreit“, ein „Erinnerungskampf“ um „Kampferinnerungen“ sozusagen, über die Einstufung der Ereignisse („blutige Niederschlagung eines Aufstands“ oder „Massaker“?
über die Rolle der kemalistischen Führungsriege oder lokaler Akteure sowie die Opferzahl (zwischen 8.000 bis 70.000 Todesopfer) statt.
Während die einen von einer blutigen Niederschlagung eines pro-kurdischen Separatistenaufstands lokaler Feudaleliten gegen die republikanische Zentralregierung ausgehen, behaupten die anderen ein gezieltes Massaker an der Zivilbevölkerung, wobei wiederum gestritten wird, ob ethnische (Zazas oder/und Kurden gegen die Türkei) oder konfessionelle (Sunniten gegen Aleviten) Motive für das staatliche Vorgehen eine Rolle gespielt haben.
Darüber hinaus wird gestritten, ob überhaupt oder inwiefern der todkranke Staatsgründer Atatürk selbst in die Gewaltereignisse involviert war oder ob dessen Nachfolger überhaupt dafür verantwortlich waren.
Das Ganze wird von der als Gedächtnisaktivist tätigen ARD peinlichst verschwiegen und ein Kurden- und Zaza-Thema als ein gesamt-alevitisches Unglück darzustellen, obwohl gerade zusehends in Westeuropa ・ersehen und geleugneten ethnisch türkischen Aleviten in anderen Regionen der Türkei für die anti-islamistisch säkularen Reformen Atatürks besonders dankbar sind und sich nie als Kemalismus-Opfer begriffen haben.
Übrigens waren die Gründe für den niedergeschlagenen Dersim-Aufstand der Widerstand der lokalen Feudalherrschaft gegen die von der kemalistischen Führung beabsichtigte Politik zur Entfeudalisierung, Detribalisierung und Turkifizierung der lokalen Clans (Beseitigung von Stammesprivilegien; Enteignung der Clan-Chefs zugunsten der als Staatsbürger geltenden Dorfbewohner) sowie die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in der bislang jahrhundertelang staatlich kaum penetrierten Provinz und eben nicht: Sunnitische Islamisierung.
Bei der Niederschlagung der Erhebung kamen Teile der Zivilbevölkerung, die bei den bewaffneten Aufständischen sich befanden, gewaltsam ums Leben. Überlebende wurden zwangsweise in andere Provinzen umgesiedelt. Vor dem Beginn der Kampfhandlungen wurden Bewaffnete und Zivilisten mehrfach über die bevorstehende Militärintervention gewarnt.
Diejenigen, die sich zuvor ergaben, wurden verschont. Ob die Zivilverluste als sogenannter Kollateralschaden gelten oder ob es sich bei dem Vorgehen republikanischer Truppen um eine unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ablaufende gedeckte Massaker-Kampagne an der Lokalbevölkerung oder um einen von konfessionalistischen bzw. anti-alevitischen Motiven geleiteten Massenmord handelt, ist Gegenstand von ideologisch erhitzten Diskussionen.
Zudem begeht auch der Artikel vehemente kategorische Fehler, denn die Türkei ist eine laizistische, säkulare Republik.
Darüber hinaus wird eine fragwürdige Analogie und eine Kollaboration mit dem NS-Regime unterstellt. Doch selbst der prominente Kurdologe Martin van Bruinessen lehnt die von der ARD propagierte Völkermordthese ab. Nach der Lektüre von Inspektorenberichten, Durchsicht von Militär-Archiven und der Vergegenwärtigung von den damaligen offiziellen Stellungnahmen kann man auch zu dem Schluss kommen, dass im staatlichen Diskurs und in der damaligen öffentlichen Meinung konfessionelle Faktoren irrelevant bei der Beurteilung der als primitiv und feudal empfundenen Stammesgesellschaft gegen die notwendige Modernisierung“ waren.
Vor und nach Dersim gab es auch separatistische Aufstände kurdischer oder zazaischer Clans sunnitischer Herkunft, die auch blutig niedergeschlagen wurden, was auch nicht als „Massaker an Muslimen“ verklärt wird.
Dass die Dersimi, im Gegensatz zu ihren sunnitischen Co-ethnics, sich nicht als Kurden oder Zazas, sondern vielmehr „nur“ als Aleviten begriffen haben, muss nicht zwangsläufig heißen, dass sie von Ankara auch als Aleviten betrachtet wurden, zumal die lokalen Clan-Chefs bei ihrer Erhebung den Machtkampf mit dem zentralistischen Einheitsstaat und die Ethnizität-Thematik im Vordergrund sahen.
Dieses Dersim-Thema wird zur Heranführung der mehrheitlich türkischen Aleviten auch an pro-kurdischen/zazaischen Aktivisten verstärkt verarbeitet und führt auch zu ihrer weiteren Entfremdung von den anderen Türken in Deutschland.
Besonders Atatürk wurde und wird bis heute bei Aleviten als Gegenpol zur Rückständigkeit begriffen, was wieder einige Teile kurdischer oder zazaischer Aktivisten stört. Forscher_innen in Deutschland neigen daher mit gleichgesinnten Verbandsfunktionären in den von alevitischen Kurden und Zazas dominierten Vereinigungen immer mehr dazu, kurdische/zazaische Dersim-Traumata als gesamtalevitisch umzudeuten und dabei völlig die Sichtweise von den von ihnen als „kemalistisches Konstrukt“ geleugnete türkische Aleviten völlig zu ignorieren und somit die kemalistische Ära genau wie alle anderen Epochen in der Türkei auch als eine für alle Aleviten finstere Zeit darzustellen.
Merkwürdigerweise sind das dann auch die gleichen Vereinigungen, die selber das Gedenken an den 500. Jahrestag, der mithilfe kurdisch-sunnitischen Talfürsten begangenen osmanischen Massakers an den türkischen Aleviten in 1514, vermutlich auch aus Rücksicht auf kurdische Befindlichkeiten geflissentlich unterlassen haben. Dafür wollen sie lieber die von ihnen vernachlässigten türkischen Aleviten, von denen es auch viele auf dem Balkan in Griechenland und auch in Bulgarien („Alianen“) gibt, weiter entkemalisieren.
In der Übergangsphase vom Osmanischen Reich bis zur Gründung und Konsolidierung der Republik gab es lokale Aufstände, die teilweise vom Ausland (westl. Alliierte) unterstützt wurden. Da die Türkei sich innenpolitisch gegen separatistische, feudale und islamistische Widerstände konsolidieren musste, konnte sie keine Ressourcen aufbringen, um andere Regime auch noch normativ zu ächten.
Wenn es wirtschaftliche Beziehungen mit Deutschland oder der Sowjetunion gab, war das selbstverständlich und interessengeleitet. Lenin hat übrigens selbst Waffen nach Ankara während des türkischen Unabhängigkeitskriegs (1919-1922) über den Seeweg geliefert, weil westliche Alliierte der gemeinsame Feind waren, was auch dazu führte, dass französische Kanonenboote die Lieferungen mit Angriffen auf die türkischen Schmugglerkreuzer zu unterbinden versuchten. Das muss nicht heißen, dass Atatürk mit dem „KPdSU-Regime“ kollaboriert hat. In der Politik spielen Interessen eine Rolle.
Wenn die Türkei heute auch aktuell Waffen gebraucht, dann mussten eben diese importiert werden wie damals, von wem auch immer. Das gilt für aktuelle Thematik mit den F-35 oder für den „S-400 Deal“ der Türkei mit Russland, wo nach einer Einigung ein Vertrag zustande kommt.
Mit freundlichen Grüssen
Levent Taşkıran
Türk-ÜniD e.V.
Vorstandsvorsitzender
Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.
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