Ein Gastbeitrag von Özgür Çelik
Es ist eine bittere Wahrheit, die sich durch die jüngsten geopolitischen Entwicklungen zieht:
Das palästinensische Volk zählt in der strategischen Kalkulation der westlichen Führungsmächte nicht mehr. Es ist, nüchtern betrachtet, entbehrlich geworden – ein Bauernopfer im großen Spiel um Macht, Märkte und Kontrolle. Die Menschlichkeit bleibt auf der Strecke, wo Realpolitik herrscht. Und sie herrscht.
Netanjahu bricht Waffenruhe
Am 18. März brach Benjamin Netanjahu eine Waffenruhe, die wenige Tage vor Donald Trumps erneuter Amtseinführung in Kraft getreten war. Binnen Stunden wurden über 400 Menschen durch Bombenangriffe getötet.
Die Motivation? Nicht militärische Notwendigkeit – sondern politisches Überleben. Netanjahu musste den Krieg verlängern, um seine Koalition mit rechtsextremen Partnern zu retten. Und die Welt schaute zu.
Seither wurden Tausende weitere palästinensische Zivilisten getötet, überwiegend Frauen und Kinder. Die ohnehin verheerende humanitäre Situation hat sich zur Katastrophe ausgeweitet. Hunger, Krankheit, Tod – in Gaza fehlt es an allem: an Wasser, an Strom, an medizinischer Versorgung. Die letzte intakte Entsalzungsanlage ist zerstört. Ganze Stadtviertel sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Und niemand hält Israel auf.
Palästina im Schatten der Macht
Wer politisch willens ist, könnte Leben retten. Doch der Wille fehlt. Stattdessen erleben wir ein perfides Kalkül: Israel wird freie Hand gelassen, weil es im Sinne amerikanischer Interessen agiert.
Gaza ist zur geopolitischen Schachfigur geworden – nicht mehr Ort der Versöhnung, sondern Ventil geopolitischer Spannungen. Die USA konzentrieren sich auf den Pazifik, auf China – alles andere ist Nebenschauplatz. Die Ukraine, der Iran, der Nahe Osten – sie werden instrumentalisiert, nicht befriedet. Und Gaza wird zum Ort der „Machtdemonstration ohne Risiko“.
In dieser zynischen Logik ist kein Platz für Empathie. „Es kommt keine Hilfe nach Gaza“, sagt Israels Verteidigungsminister. Ein Satz, der sich einreiht in eine Reihe erschütternder Aussagen und Entscheidungen.
Größte ethnische Säuberung seit dem Zweiten Weltkrieg
Israels Regierung spricht offen über eine „freiwillige Umsiedlung“ der Bevölkerung – eine rhetorische Vernebelung für das, was in Wahrheit die größte ethnische Säuberung seit dem Zweiten Weltkrieg sein könnte. Die Armee hat weite Teile des Gazastreifens zu „No-Go-Zonen“ erklärt. Menschen fliehen – und werden wieder bombardiert.
Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Netanjahu und seinen früheren Verteidigungsminister erlassen. Der Vorwurf: Vernichtungsabsicht. Vergleichbar mit Srebrenica, mit Ruanda.
Doch in Washington, in Budapest und anderswo wird Netanjahu weiterhin mit allen Ehren empfangen. Völkerrecht? Menschenrechte? Lippenbekenntnisse – solange sie politisch bequem sind.
Auch im Westjordanland eskaliert die Lage. Dort betreibt Israel die größte Militäroffensive seit Jahrzehnten. Über 40.000 Menschen wurden bereits gewaltsam vertrieben. Neue Siedlungen entstehen – völkerrechtswidrig, aber offiziell „anerkannt“. Die Hoffnung auf einen palästinensischen Staat stirbt mit jedem dieser Schritte ein Stück mehr. Und Europa schweigt.
Währenddessen sind es Bilder – ein amputiertes Kind, der Tod einer mutigen Fotografin –, die kurzzeitig aufrütteln. Doch sie bleiben vereinzelt. „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ Das Grauen erreicht uns nicht mehr – oder wir lassen es nicht mehr zu. Der Krieg in Gaza ist längst ein Krieg gegen Kinder. Gegen ihre Körper. Gegen ihre Zukunft. Und gegen unser aller Gewissen.
In den USA wird Kritik an Israels Politik zunehmend sanktioniert. Wer sich öffentlich für Palästina ausspricht, riskiert Job, Ruf, Karriere. Die Meinungsfreiheit, auf die man so stolz ist, wird zur Farce.
Netzwerk aus politischen, wirtschaftlichen und medialen Interessen
Dahinter steht ein komplexes Netzwerk aus politischen, wirtschaftlichen und medialen Interessen, das jede echte Debatte unterdrückt. Wer den Mut aufbringt, die israelische Regierung zu kritisieren, wird diffamiert, zensiert, ausgegrenzt. Dabei wäre es gerade im Namen des Judentums notwendig, Netanjahus Kurs zu stoppen.
Zionismus ist keine Religion. Kritik daran kein Antisemitismus. Und es ist ein Gebot der Menschlichkeit, jüdisches Leben zu schützen – auch vor einer Politik, die im Namen Israels Gräueltaten begeht.
Europa steht an einem Scheideweg. Es hat Einfluss – wirtschaftlich, diplomatisch, moralisch. Doch es nutzt ihn nicht. Israels wichtigster Handelspartner ist die EU. Ein Drittel der Rüstungsgüter kommt von hier.
Das Assoziationsabkommen verpflichtet zur Einhaltung des Völkerrechts. Doch statt zu handeln, schaut man weg. Spanien und einige wenige Staaten fordern Konsequenzen – der Rest schweigt.
Was bleibt, ist ein erschütternder Befund: Die historische Schuld am Holocaust wird von manchen Staaten zur „Staatsräson“ erhoben – und zur Legitimation einer bedingungslosen Solidarität mit Israel.
Doch ein historisches Verbrechen kann kein Freibrief für neue Verbrechen sein. Wer aus der Geschichte wirklich lernen will, muss heute handeln. Und sich klar gegen das Grauen von Gaza stellen.
Denn Gaza ist nicht nur eine humanitäre Tragödie. Es ist ein moralisches Fanal. Ein Prüfstein für all die Werte, die der Westen so gern beschwört: Menschenrechte, Gerechtigkeit, Völkerrecht. All diese Prinzipien verkommen zur Phrase, wenn man sie selektiv anwendet – bei Russland konsequent, bei Israel schweigend. Diese Doppelmoral zerstört Vertrauen – in Europa, in Amerika, in der ganzen Welt.
Die Welt taumelt von Krise zu Krise. Während der Nahe Osten brennt, richtet sich der geopolitische Fokus bereits wieder woandershin: Taiwan, Iran, Russland. Doch jeder Brandherd, den wir nicht löschen, brennt tiefer. Und Gaza steht in Flammen.
Palästina ist die erste Währung, in der dieses System seine Rechnung begleicht. Doch es könnte auch der Ort sein, an dem die Menschlichkeit zurückkehrt – wenn wir es wollen.
Wer heute zu Gaza schweigt, soll morgen nicht sagen, er habe es nicht gewusst – denn das, was dort geschieht, geschieht im grellen Licht unserer Gleichgültigkeit.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
Zum Autor
Özgür Çelik studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Fachgebiete sind die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sowie zwischen der EU und der Türkei, türkische Politik, die türkische Migration und Diaspora in Deutschland