Ein Gastbeitrag von Ahmet Inam
Als Deutschland in Not war, kamen Menschen aus fernen Ländern – darunter viele aus der Türkei – in der Hoffnung, willkommen zu sein. Denn wer Hilfe erfleht und sie empfängt, sollte auch die Hand, die sie reicht, mit Offenheit ergreifen.
Doch die erste Generation der Gastarbeiter musste bald erkennen, dass sie nicht als geschätzte Gäste, sondern als geduldete Arbeitskräfte betrachtet wurden – nützlich, solange sie die mühsamste und schmutzigste Arbeit verrichteten. Man duldete sie, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, und nicht als Teil der Gesellschaft, sondern als Arbeiter auf Zeit.
Ihre Hände sollten das Land mit aufbauen, doch ihre Füße sollten es bald wieder verlassen. Finanzielle Anreize wurden geboten, um sie zur Rückkehr zu bewegen, und viele nahmen das Angebot an. Doch nicht alle kehrten zurück – nicht alle konnten, nicht alle wollten. Denn während sie Deutschland brauchten, brauchte Deutschland längst auch sie.
Die erste Generation der Gastarbeiter lernte die deutsche Sprache – langsam, mühsam, neben der körperlichen Erschöpfung der schweren Arbeit und den abwertenden Blicken, Hänseleien und Beschimpfungen so mancher deutschen Kollegen. Sie hofften, dass sie mit jedem Wort, das sie verstanden und sprachen, ein Stück mehr Akzeptanz gewinnen würden.
Noch größer war ihre Hoffnung für ihre Kinder: Wenn sie in Deutschland zur Schule gingen, die Sprache gut beherrschten, dann, so dachten sie, würden sie nicht nur geduldet, sondern endlich willkommen sein. Doch die Realität sah anders aus.
Viele ihrer Kinder fanden sich nach der Grundschule auf Sonderschulen wieder – teils aus gerechtfertigten, oft aber aus fragwürdigen Gründen (die bloße Existenz dieser Schulform war bereits ein Zeichen von sozialer Ausgrenzung). Die Mehrheit wurde in die Hauptschulen eingewiesen, während nur wenigen das seltene Glück zuteilwurde, den Weg ins Gymnasium zu finden. So nahm der Lebensweg vieler Migrantenkinder früh eine Richtung, die ihre Zukunft in Deutschland von vornherein mit unausweichlichen Hürden versah.
Später, als die Stimmen lauter wurden, dass sich „die Ausländer und ihre Kinder“ doch bitte in die Gesellschaft integrieren sollten, war die zweite Generation längst dabei, diesen Weg zu gehen. Sie machten Ausbildungen, wurden Meister in ihren Handwerken, studierten, wurden Ärzte, Juristen, Wissenschaftler und Ingenieure. Doch anstatt Anerkennung oder mehr Toleranz zu erfahren, mussten sie feststellen, dass die vorgebliche Toleranz erneut eine trügerische war. Nun hieß es, sie würden Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen.
In ihren Herkunftsländern gab es zu dieser Zeit oft keine religiöse Freiheit – in Deutschland hingegen schon. Viele Muslime freuten sich über die Möglichkeit, ihren Glauben offen ausüben zu können. Mit eigenen Mitteln bauten sie Moscheen – nicht aus Zurückgezogenheit, sondern aus finanzieller Not oft abseits der öffentlichen Plätze. Doch bald war von „Hinterhofmoscheen“ die Rede, von „Radikalisierung“.
Ebenso, wie man von „Ghettoisierung“ sprach, als Gastarbeiterfamilien in bestimmten Vierteln zusammenzogen, nicht aus Ablehnung der Gesellschaft, sondern weil das Leben dort bezahlbar war – und ein kleines Stück Heimat versprach. Dieses Gefühl von Heimat entstand nicht nur durch das Zusammenleben mit Menschen aus ihrer ursprünglichen Heimat, sondern auch durch Deutschland selbst, das ihnen Freiheiten bot, die sie aus verschiedenen Gründen wie Militär, Ideologie oder Wirtschaft zuvor nicht gekannt hatten.
Als die Muslime auf die teils politischen, teils aufrichtigen Vorschläge reagierten, mit anderen Glaubensgemeinschaften in einen Dialog zu treten – was auf kommunaler und nachbarschaftlicher Ebene längst erfolgreich praktiziert wurde –, wurde ihre Bereitschaft zum offenen Austausch nach dem 11. September schnell von Politikern und Medien infrage gestellt.
Die Muslime, die an einen gleichwertigen Austausch glaubten, wurden eines Besseren belehrt. Es wurde ihnen gesagt, dass sie nur dann geduldet würden, wenn sie sich kollektiv, im Namen ihres Glaubens und ihrer eigenen muslimischen Identität, für die Terroranschläge entschuldigten – obwohl sie diese selbst zutiefst verabscheuten. Geduldig nahmen sie an einer Konferenz teil, die ständig ihre Religion nicht als Teil der Lösung, sondern als Kern des Problems betrachtete.
Und immer wieder wurden und werden sie mit der unausweichlichen Erwartung konfrontiert, sich ständig zu erklären. Zusammenleben – wahrer Dialog – sieht anders aus! Mädchen mit Kopftüchern, die in den 80er- und 90er-Jahren noch unter dem Schutz gegen laizistische, antireligiöse Ideologen standen, wurden nun von allen Seiten plötzlich als Gefahr und als Symbol für die Unterdrückung der Frau abgestempelt und diskriminiert.
Viele Musliminnen hofften, dass sie in Deutschland – im Gegensatz zu den muslimischen Ländern damals – mit ihren Kopftüchern Berufe erlernen, studieren und arbeiten könnten – all das, was in Bezug auf Menschen- und Frauenrechte von ihnen „erwartet“ wurde. Doch bald mussten sie erkennen, dass diese Form der Toleranz nur von begrenzter Dauer war.
Die Forderungen nach Transparenz wurden immer lauter. Muslime sollten sich mehr der Gesellschaft öffnen und sich aus ihren vermeintlichen „Hinterhöfen“ befreien. Viele Muslime stimmten dieser Forderung zu, nicht um den Staat oder die rechtsextremen bis hin zu anti-islamischen Forderungen von links bis rechts zu befriedigen, sondern in der Hoffnung, in der Gesellschaft mehr Akzeptanz zu finden und einen friedlichen Zusammenhalt zu schaffen. Doch diese Hoffnungen wurden von den Schlagworten über die „Islamisierung Deutschlands oder Europas“ erstickt.
Dass viele mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, bedeutet noch lange nicht, dass sie mehr toleriert oder endlich akzeptiert werden. Die meisten Menschen mit Migrationshintergrund haben auch hier die Toleranz missverstanden. Deutscher zu sein auf dem Papier bedeutete nicht zwangsläufig, ein Deutscher zu sein.
Dies betrifft selbst jene, die sich die von Politik und Medien stets beschworene „deutsche Leitkultur“ – was auch immer man darunter verstehen mag – zu eigen gemacht hatten und glaubten, Deutschsein bedeute, sich in jeglicher Form – was alles dazu gehören mag? – anzupassen. Doch sobald sie sich von der herrschenden Meinung abwandten (wie zuletzt beim Thema Gaza), wurde ihnen unmissverständlich klar gemacht, dass sie trotz ihrer Bemühungen um Assimilation weiterhin als „anders“ wahrgenommen wurden – jedoch niemals als wirklich deutsch.
Diese Art von missverstandener Toleranz, die Menschen mit Migrationshintergrund (werden auch von Zeit zu Zeit Gastarbeiter, Fremde, Ausländer, Flüchtlinge, Asylanten, Muslime etc. aber nie wirklich Deutsche genannt) erfahren mussten, wurde ihnen vor allem von den Medien und der Politik zuteil, während die deutsche Gesellschaft zum großen Teil – in einer langen Entwicklung – ihnen oft mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft begegnete.
Die anfängliche Zahl der „Fremden“ mag für viele Deutsche eine Herausforderung gewesen sein, doch die Mehrheit der Bürger öffnete schnell oder allmählich ihr Herz und beide Seiten lernten durch Nachbarschaft, Kollegialität und das tägliche Miteinander, was Toleranz bedeutete. Ohne die Unterstützung und Zuneigung meiner „deutschen Oma“, die uns in meiner Kindheit immer mit Rat und Tat zur Seite stand und bürokratische Hürden meisterte, wäre unser Leben in Deutschland wesentlich schwieriger gewesen.
Ein kleiner Teil der Gesellschaft blieb ideologisch in den Vorstellungen des NS-Regimes verhaftet, auch wenn diese nicht offen zur Schau gestellt werden konnten. Das hielt einige jedoch nicht davon ab, terroristische Anschläge zu verüben, wie die Fälle von Mölln und Solingen zeigen. Bis zum Millennium war die öffentliche Ablehnung solcher Taten deutlicher ausgeprägt als heute. Viele Migranten hielten aufgrund dieser antirassistischen Reaktionen an den Toleranzversprechungen dieses Landes weiterhin fest.
Doch spätestens nach dem 11. September und dem weltweiten Aufstieg einer zionistischen Agenda, die Terror ausschließlich mit dem Islam und den Muslimen verknüpfte, erlebte die Mehrheitsgesellschaft eine verzerrte Wahrnehmung der Muslime. Mit reißerischen Schlagworten, Verleumdungen, Lügen und verzerrten Darstellungen über Muslime (und weiteren nichtmuslimischen Migranten) wurde die Gesellschaft regelrecht bombardiert, und das mühsam erarbeitete Miteinander in Deutschland begann zu zerbrechen.
Was einst als willkommenes Miteinander gefeiert wurde, verwandelte sich Stück für Stück in Misstrauen und Ablehnung. Was einst von der Bürgerschaft positiv aufgenommen wurde, kehrte sich allmählich ins Gegenteil. Jede noch so kleine oder große Verfehlung eines Migranten wurde zur großen Schlagzeile, während ähnliche Delikte von Deutschen kaum Beachtung fanden.
Während rechtsradikale oder christliche Terroristen als psychisch kranke Einzelfälle – aber nie als Terroristen – behandelt wurden, die angeblich Hilfe benötigten, waren muslimische Terroristen sofort „islamistische Terroristen“. Diese Entwicklung ermöglichte es, dass Nazis ihre krankhaften Ideologien offen auslebten, in Landräte gewählt wurden und dass antimuslimische Rassisten, ob mit oder ohne muslimischen Namen, zu „Islamexperten“ ernannt wurden.
Ihr Hass und ihre Vorurteile setzten sich zunehmend durch, und selbst ehemals sozial-links eingestellte Parteien drifteten immer weiter nach rechts. Sie beschuldigten Andersdenkende des Antisemitismus und stellten sich gegen Proteste gegen den Völkermord einer rassistisch-zionistischen Regierung.
Der Aufenthalt in Deutschland, das die meisten Migranten anscheinend wieder einmal fälschlicherweise als ihre Heimat betrachteten, wurde erneut mit Bedingungen belegt – diesmal auch von Politikern, die sich selbst als tolerant, weltoffen und sozial bezeichneten, aber aufgrund ihres Populismus in Wirklichkeit eine Atmosphäre der Ausgrenzung und Intoleranz schufen.
Möge meine „deutsche Oma“ in Frieden ruhen. Dank vieler Freunde, Lehrer, Kollegen, Nachbarn, Professoren, Dialogbeauftragter, Kommilitonen sowie säkularer und gläubiger Mitbürger wurde mir in der Vergangenheit mehr das Gefühl vermittelt, Teil dieser Gesellschaft zu sein (was jedoch nicht bedeutet, dass ich keine gegenteiligen Erfahrungen gemacht habe).
Diese und all die anderen gleichgesinnten, respektvollen und freundlichen Deutschen sind – wenn ich (naiv) mir den Anteil der AfD-Wähler ansehe und (naiver) daran hoffe – nach wie vor in der Mehrheit. Doch die gleichen Zahlen zeigen leider, dass sich die Entwicklung zu schnell in eine bedenkliche Richtung bewegt, vor allem durch die einseitige, oft rassistische und anti-islamische Berichterstattung der Medien, die allzu bereitwillig von rechten Politikern aufgegriffen wird.
Auch Politiker anderer Couleur zögern nicht, diese pauschalen Zuschreibungen für ihre Wahlkampfrhetorik zu instrumentalisieren. Viele Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich deshalb – unter dem Einfluss von Medien und Politik, verstärkt durch die Dynamik sozialer Netzwerke – in diesem Land weder willkommen noch geduldet. Diese Entwicklungen wiederum schüren Spannungen, die letztlich nur denen zugutekommen, die Ausgrenzung und Ressentiments für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren.
Wenn von „falsch verstandener Toleranz“ die Rede ist, dann bedeutet das, dass Menschen mit Migrationshintergrund nie wirklich respektvoll akzeptiert wurden. Wer von Toleranz spricht und dabei die wahre Akzeptanz in der Gesellschaft ausklammert, hat nie an ein wirklich vielfältiges und harmonisches Zusammenleben geglaubt.
Wer Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben, hier geboren sind, Steuern zahlen, sich an die Gesetze halten, die Sprache beherrschen, Berufe ausüben, Unternehmen gründen und den deutschen Pass besitzen – alles Merkmale einer gelungenen Integration – weiterhin nur toleriert und nicht wirklich als Teil der Gesellschaft akzeptiert, kann nicht von einer weltoffenen Gesellschaft oder einem offenen Land sprechen! Es gibt sie, die falsch verstandene Toleranz, doch nicht in der Weise, wie sie von Medien und Politikern häufig vorwurfsvoll dargestellt wird.
„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen. “
Goethe