Ein Gastbeitrag von Michael Thomas
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts machte sich mein englischer Lieblingspirat Francis Drake mit seinem vielleicht kleinen, aber schnellen Schiff „Golden Hind“ auf die Jagd nach spanischem Gold. Eher zufällig sichtete er an einem Abend an der amerikanischen Küste das mit Schätzen schwer beladene Kriegsschiff, die „Caca Fuego“, auf deutsch „Feuerscheißer“.
Über Nacht ließ er Schleppanker setzen, um den Abstand nicht zu verkleinern und möglichst spät entdeckt zu werden. Morgens holte er den Spanier ein, ließ mit seiner Kanone zur Warnung einen Mast des weitaus größeren Kriegsschiffs herunterschießen – und prompt ergab sich dessen Mannschaft kampflos. Die Beute war gewaltig.
Drakes Geheimnis war ein recht einfaches: nicht aus Menschlichkeit, sondern aus reiner Berechnung hatte er niemals die Mannschaften gegnerischer und geenterter Schiffe getötet oder gefoltert. Im Gegenteil überließ er ihnen sogar einen kleinen Teil der Beute und entließ sie in die Freiheit.
Das hatte zur Folge, dass nicht wenige Schiffe sofort, wenn sie seine „Golden Hind“ entdeckten, die Segel strichen und aufgaben. Oft genug kam es überhaupt nicht zu Seegefechten und Drake nahm die Beute ohne Verluste, ohne Risiko in Empfang. Längst hatten die Geschichten von Seeleuten die Runde gemacht, dass ihr Leben nach der Kapitulation auf See frei und sicher war.
Der Franzose Maximilien de Robespierre kam 1758 als Sohn eines angesehenen Anwalts in Frankreich zu Welt und absolvierte ein Jurastudium. Schnell galt er als Anwalt der Armen und gewann zahlreiche schwierige und aufsehenerregende Prozesse. Zu diesem Zeitpunkt war er entschiedener Gegner der Todesstrafe.
Als Vertreter des „dritten Standes“ war er Delegierter des Nationalkonvents, in den er sehr fortschrittliche, freiheitliche Ideen einbrachte. Durch sein Charisma und seine ausgefeilte Rhetorik errang er dort schnell eine führende Position – und wurde Wortführer infolge der französischen Revolution.
Die Ereignisse nach dem Sieg der Revolutionäre entwickelten eine ungeheure Eigendynamik und Robespierre sah sich mehr und mehr genötigt, zu immer schärferen Maßnahmen zu greifen, um das ersehnte Fernziel eines freiheitlichen Frankreichs zu erreichen, das sich vollständig vom Adel befreit hatte. Schnell sah er sich aufgrund der unerwarteten Probleme und der sich steigernden Radikalität zur Aufgabe seiner einstmals entschiedenen Ablehnung der Todesstrafe gezwungen.
Die Guillotine tötete u.a. auf seinen Befehl Tausende. Schließlich betrieb er im Hintergrund auch federführend den Prozess gegen Marie Antoinette, der Ehefrau des bereits hingerichteten Königs Ludwig XVI und spickte diese groteske Gerichtsverhandlung mit bezahlten Zeugen, falschen Aussagen und an den Haaren herbeigezogen Vorwürfen, um sie ebenfalls hinrichten lassen zu können. Letztlich fiel Robespierre selbst der Guillotine zum Opfer.
Was das alles mit Syrien unserer Tage zu tun hat?
Die siegreichen Truppen der Hajat Tahrir al-Scham (HTS) um Abu Muhammad al-Jolani haben sich den strategischen Vorteil zunutze gemacht, den Francis Drake damals entwickelt hatte: die HTS verzichtete darauf, kapitulierende Einheiten der syrischen Armee hinzurichten oder zu misshandeln. Ihnen wurde einfach erlaubt, ihre Waffen niederzulegen – und zu gehen.
Al-Jolani setzte damit auf den ohnehin geschwundenen Rückhalt des Assad-Regimes bei den Truppen und auf die Hoffnung, entgegen jeder Erwartung ungeschoren davon kommen zu können. Offenbar hatten sich ganze Einheiten den Rebellen kampflos ergeben. Tausende von Soldaten sind in den Irak geflüchtet und haben sich von den Kämpfen entfernt.
Völlig von den Ereignissen überrascht, waren offenbar auch weder Iran noch Russland in der Lage dazu, schnell und umfassend, geschweige denn erfolgreich zu intervenieren. Gerade der Umstand, dass zahlreiche Schlachten gar nicht geschlagen werden mussten, haben den Erfolg von HTS ganz sicher maßgeblich beschleunigt und überwältigend ausfallen lassen.
Flankiert von Ansprachen der HTS, die Zivilbevölkerung maximal zu beschützen, in die Freiheit führen zu wollen und keinen Unterschied in Ethnie und Religion zu machen, hat offenbar zu großer Unterstützung im syrischen Volk geführt.
Die Geschichte der Rebellengruppe HTS dagegen ist schwieriger. Ihr Anführer, Al-Jolani, war Teil einer Bewegung, die sich Al-Qaida angeschlossen hatte und später mit Abu Bakr al-Baghdadi zusammenarbeitete, der später bekanntlich den „Islamischen Staat“ gründete und sich „Kalif“ nannte. Das erklärte Ziel Al-Jolanis und seiner Gruppe war immer die Errichtung eines islamischen Staates Syrien sunnitischen Zuschnitts und die Vertreibung der iranischen Shiiten aus dem Land, die direkt mit dem Iran kooperieren.
Zu dieser Zeit betonte Al-Jolani, Christen und Alewiten würde keine Beachtung geschenkt. HTS betont, dass die Errichtung eines Staates nach „islamischem Recht“ das erklärte Ziel sei. Noch in jüngerer Vergangenheit versuchte Al-Jolani, mit den bewaffneten Gruppen Harakat Nour al-Din al-Zinki, Liwa al-Haq und Jaysh al-Sunna zusammenzuarbeiten. Alle genannten Gruppen verfolgen größtenteils salafitische, djihadistische Ziele und sehen den Islam im Zentrum jeder Staatsidee für Syrien und haben sich der HTS angeschlossen.
Nun muss man sich besorgt die Frage stellen, wie und durch wen der neue, syrische Staat wieder auf Beine gestellt werden kann, die alle im Staat vertretenen Ethnien und Religionen nicht nur auf Dauer toleriert, sondern als gleichberechtigten Bürgern einen Rechtsstaat garantieren kann.
Wir alle wissen zweifelsfrei, dass keine salafistische oder sonstige, extreme islamische Idee dies leisten kann. Mir persönlich scheint nur wenig glaubhaft, dass die siegreichen Rebellen zugunsten eines neuen Syrien vollständig zurücktreten und auf die Macht verzichten werden, die sie soeben errungen haben.
Ich habe kein Vertrauen in eine Gruppe eines salafistisch-djihadistischen Zuschnitts, ein Land, das inmitten einer kriegsgeschüttelten Nachbarschaft liegt, erfolgreich einem geregelten Neuaufbau zuführen zu können, zumal die Natur der kriegerischen Auseinandersetzung direkt ihre inneren Ziele berührt.
Israel ist bereits überaus nervös; es befestigt die Golan-Höhen und fliegt Bombenangriffe auf Ziele in Syrien. Angeblich, um Massenvernichtungswaffen dem Zugriff der Rebellen zu entziehen, die unter Assad hergestellt und gehortet wurden. Tatsächlich könnte ein neues Syrien die Aufforderung an Israel ergehen lassen, den Golan freizugeben und sich zurückzuziehen, da das Gebiet rechtlich immer noch zu Syrien zählt.
Wird das der „Robespierre-Moment“ für Al-Jolani?
Kann er es unter dem Druck der Ereignisse auch weiterhin sicherstellen, dass die einstigen Ziele seiner Rebellenunion, die aus extremen, ja tatsächlich islamistischen, salafistisch-djihadistischen Ideen bestehen, zugunsten eines für die Welt moderaten, akzeptablen Syrien ausgesetzt bleiben? Kann Al-Jolani zuverlässig verhindern, dass sich der neue Staat Syrien durch trivialen Judenhass und Unterdrückung anderer Religionen und Ethnien kennzeichnet?
Wird Syrien das Schicksal Afghanistans erspart bleiben, dessen Taliban ebenfalls zunächst und vorübergehend signalisiert hatten, durch neue Progressivität und bis dato unbekannte Liberalität ihren Platz am Tisch der Welt erarbeiten zu wollen? Wir wissen alle, wohin Afghanistan abgedriftet ist, welche Stimmen dort Macht erhalten haben.
Ich bin für vorschnelles Vertrauen und für Blindheit im Moment eines Sieges zu alt. Es muss genau jetzt gelingen, der HTS Ketten anzulegen. Man mag ihnen Denkmäler errichten und gern Plätze nach ihnen benennen, man darf ihnen Orden ans Revers heften und sie Bücher schreiben – aber nicht regieren lassen.
Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.
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