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Historiker: Das Wolfsbild ist ein gemeinsames Erbe der Menschheit

"Die aktuell in Politik und Medien polarisierte Debatte über das türkische Wolfsbild bietet eine Chance für die intellektuelle Begegnung der Kulturen."

Bildausschnitt aus der deutschen Ausgabe des türkischen Comics „Tarkan“ von Sezgin Burak. Der Silberne Sattel 1. Die Geburt Tarkans (Tarkan 60), Simavi Publishing Co. Ltd., London 1974, S. 6.
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Ein Gastbeitrag von Çağıl Çayır

Die aktuell in Politik und Medien polarisierte Debatte über das türkische Wolfsbild bietet eine hervorragende Chance für die intellektuelle Begegnung der Kulturen. Denn den „Wolf“ finden wir nicht nur bei den Türken und Römern, sondern zum Beispiel auch auf den Wappen der Spanier, Engländer und sogar Deutschen. In Deutschland kommt der Wolf heute noch oft als Wappentier vor. Zum Beispiel in Wolfsburg, Passau und Remagen.

Der Ursprung und die Bedeutung des Wolfes in den deutschen Wappen ist meist ungeklärt. Es finden sich aber auch Vermischungen und Parallelen mit Drachen. Zum Beispiel in der Flagge von Wales. Selbst die Karoliner trugen einen sogenannten Drachenbanner.

Diesen Brauch lernten die Karolinger wahrscheinlich von den Römern, welche ihn wiederum wahrscheinlich von den Dakern aus den Karpaten oder den so genannten Skythen und Sarmaten aus Mittelasien lernten.

In den Karpaten war der Wolf bereits seit der sogenannten Hallstatt-Zeit (10. bis 8. Jahrhudnert v. u. Z.) als Symbol der dort lebenden Völker verbreitet und trug eine große religiöse Bedeutung.

Dabei stammt der Drachen- bzw. Wolfsbanner der Daker selbst wahrscheinlich aus Kleinasien, wo sich ältere Überlieferungen zur religiösen Vermischung von Wölfen, Löwen und Drachenbildern finden – wie auf der Stele von Nebukadnezar aus dem 12. Jahrhundert v. u. Z.

Noch früher finden sich religiöse Wolfs-Bilder aus dem Altai-Gebirge in Süd-Sibirien. Dort ist der Wolf seither mit dem sogenannten Schamanismus verbunden – vor allem als himmlischer Hilfsgeist. Beispielsweise findet sich in der sogenannten Karakol-Kultur das Bild eines Schamanen mit Wolfskopf und Federschmuck auf einer etwa 4000 Jahre alten Grabsteinplatte.

Aus dem Altai-Gebirge stammen auch die Türken, die nach ihrer Staatsgründung im 6. Jahrhundert mit ihren Wolfsbannern ins kürzlich christianiserte Römische Reich nach Konstantinopel kamen und die Römer wieder an ihren früheren Wolfskult erinnerten.

Eine Rekonstruktion aus Kasachstan zeigt einen solchen alttürkischen Wolfskopfbanner aus Gold. Auf dem Foto ist außerdem eine alttürkische Inschrift zu sehen. Diese stammt vom türkischen Staatsmann Tonyukuk dem Weisen aus dem 8. Jahrhundert und berichtet von der Gründung und Geschichte des alttürkischen Staates, das zuweilen vom Altai bis zur Krim reichte.

Rekonstruktion eines türkischen Wolfskopfbanners aus dem 7.-8. Jahrhundert n. u. Z. vor dem Denkmal des Weisen Tonyukuk in der Mongolei. Foto: Prof. Dr. Tuğrul Çavdar.

Zur Gründung der modernen Republik Türkei nach dem Ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte der Wolf erneut eine wegweisende und identitätsstiftende Rolle. So sollte ein Wolf auch das nationale Symbol der modernen Türken werden, die sich nunmehr wissenschaftlich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen wollten. Zum Beispiel schlug der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk selbst das Wolfsbild als Emblem für das erste Institut für Türkologie an der Universität von Istanbul vor.

Ebenso findet sich das nationale Wolfsbild auf den ersten modernen türkischen Geldscheinen.

In den 1960er und -70er Jahren spielte der Wolf desweiteren in der berühmten türkischen Comic- und Filmserie „Tarkan“ eine Hauptrolle. Der türkische Comic wurde auch auf Deutsch herausgegeben und war auch bei deutschen Lesern sehr beliebt. Allerdings wurde der Comic nach einigen Beschwerden und Indizierungen, meist wegen angeblicher Nacktheit, in Deutschland, später auch in Österreich und der Schweiz verboten.

Bildausschnitt aus der deutschen Ausgabe des türkischen Comics „Tarkan“ von Sezgin Burak. Der Silberne Sattel 1. Die Geburt Tarkans (Tarkan 60), Simavi Publishing Co. Ltd., London 1974, S. 6.

Ein modernes und sehr berühmtes Beispiel für den Wolfskult ist das Lied „Wolf Totem“ von der international gefeierten mongolischen Metallband „The Hu“. Das offiziele Musikvideo mit Untertiteln auf sieben Sprachen auf YouTube hat über 100 Millionen Aufrufe und 1,4 Millionen „Mag ich“-Bewertungen. Die Sprachen der Untertitel sind: Englisch, Russisch, Mongolisch, Spanisch, Türkisch und Ungarisch.

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Türkischer Nationalfussballer Merih Demiral zeigt doppelten Wolfsjubel

Das aktuelleste und wohl bekannteste Beispiel für die kulturelle Beliebtheit des Wolfes ist der Torjubel des türkischen Nationalfussballers Merih Demiral, der sein 2:1 im EM-Achtelfinale 2024 gegen Österreich mit zwei Wolfszeichen in Richtung der türkischen Zuschauer krönte.

(Foto: Screenshot/Youtube)

Das Wolfsbild ist dabei nicht nur ein türkisches, sondern ein gemeinsames Erbe der Menschheit und kann uns vor exklusiven Selbst- und Fremdbildern befreien und schützen. Denn die Spuren des Wolfes führen uns rund um die Welt. Dabei entdecken wir in der Vielfalt der Wolfsbilder spannende Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Kulturen. Somit eröffnet das Wolfsbild einen bislang unbekannten, doch sehr weitreichenden und vielersprechenden Weg für die intellektuelle Begegnung der Kulturen.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


Autor

Çağıl Çayır studierte Geschichte und Philosophie an der Universität zu Köln und ist als freier Forscher tätig. Çayır ist Autor von „Runen in Eurasien. Über die apokalyptische Spirale zum Vergleich der alttürkischen und ‚germanischen‘ Schrift‘“ und ist Gründer der Kultur-Akademie Çayır auf YouTube. Seine Arbeiten wurden international in verschiedenen Fach- und Massenmedien veröffentlich


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