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Kabarettist Wolfgang Neuss: „Türkische Verwandte“

Wolfgang Neuss war einer der berühmtesten und berüchtigtsten deutschen Kabarettisten des 20. Jahrhunderts. Dabei war er seiner Zeit weit voraus und wirft heute noch so manches Licht auf die Zukunft.

Wolfgang Neuss (3. v. l.) bei der Verleihung des Berliner Kunstpreises für Film und Fernsehen, 1964. (Foto: Wikimedia)
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von Çağıl Çayır – Historiker

Wolfgang Neuss war einer der berühmtesten und berüchtigtsten deutschen Kabarettisten des 20. Jahrhunderts. Dabei war er seiner Zeit weit voraus und wirft heute noch so manches Licht auf die Zukunft.

Er spielte unter anderem in dem Film-Meisterwerk „Wir Wunderkinder“ mit, produzierte eigene Filme, Platten und Kassetten, trat im Fernsehen auf und setzte sich für die Wiedervereinigung sowie zuletzt für die Legalisierung von Cannabis ein.

Neuss war einer der frühesten und eigenartigsten Aufklärer der Nachkriegszeit. Der ehemalige Bürgermeister von Berlin und deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker bewunderte den Kabarettisten für seinen mutigen Lebensstil und dankte ihm für ein einmaliges Programmerlebnis.

Weizsäcker traf Neuss in der TV-Talkshow „Leute“ im Cafe Kranzler in Berlin 1983. Neuss nannte Weizsäcker dort herzlich „Ritschie“ und spielte ihm die ein oder andere politische Frage zu. Zum Beispiel sprach Neuss die „Hausbesetzer“ in Berlin förmlich heilig und kritisierte dagegen die teure Renovierung des Schloss Bellevue. „Man sollte zuerst den Erdbebenopfern in der Türkei helfen.“

Wolfgang Neuss wurde am 3. Dezember 1923 in Breslau geboren und starb am 5. Mai 1989 in West-Berlin, noch vor der Wiedervereinigung. Er setzte sich Zeitlebens für die Aufklärung der Deutschen ein. Anlässlich der aktuellen Debatten über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, ist es angebracht an ein Gedicht von Wolfgang Neuss zu dem Thema zu erinnern.

Was die Berliner immer vergessen

Was die Berliner immer vergessen,
abgesehen davon, daß sie völlig vergessen,
dass es nicht die Türken sind,
die uns hier aufsuchen, ansuchen, heimsuchen,
die hier aufgenommen werden wollen,
sondern, dass es unsere Verwandten
von früher sind, die wir selber mal waren!

Wir sind da mal hingezogen,
ich mach noch darauf aufmerksam,
Ernst Reuter ist selbst in die Türkei gezogen, ja?,
als – irgendwas, als CIA-Agent,
im Krieg konnte man ja nur als CIA-Agent,
— so war der in der Türkei —
und der alleine hat schon das ganze Volk
nach sich gezogen hier, ja?

Man darf doch nicht vergessen:
dass wir da zwar Fremde sehen, und dass
das auch das schöne Spiel der Erde ist,
dass es immer Fremde sind, die da kommen,
aber: wir sind es doch selbst.

Wir sind es doch selbst, die
vor sechshundert Jahren da mal hingezogen sind,
oder vor achthundert Jahren. – Ganz klar!
Warum hilft uns die Wissenschaft bei diesem Ausländer-
problem nicht, frage doch mal provokativ natürlich, warum:

Die können längst belegen, die Leute,
dass es wir selber sind,
also dass wir zu denen
ein ganz anderes Verhältnis entwickeln könnten
als zu Tante Emma im Osten oder zu
Onkel Paul in Zehlendorf,
dass wir erfreut sein könnten,
»Guten Tag, Emil, wir werden schon zurechtkommen
hier in der Stadt, aber dass ihr wieder da seid! «
– so müsste doch erstmal die Parole lauten:
»Dass ihr wieder da seid! !
Das hätten wir ja nie gedacht,
dass wir uns nochmal wiedersehen! «

(Wolfgang Neuss, Was Die Berliner Immer Vergessen, in: Verstehste? Üben, Üben, Üben! 60 Minuten Rauschmodulation, Kassette, 1983)

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