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Kommentar
Türkei: Das Wahldebakel der türkischen Opposition

Am Wahlabend haben rund 44 Prozent der türkischen Wähler hautnah erleben müssen, in welche Filterblase sie während des Wahlkampfs hineinmanövriert wurden.

(Screenshot/Twitter)
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Ein Gastkommentar von Nabi Yücel

Am Wahlabend haben rund 44 Prozent der türkischen Wähler hautnah erleben müssen, in welche Filterblase sie während des Wahlkampfs hineinmanövriert wurden. Das Wahlergebnis ist für die Oppositionswähler entsprechend enttäuschend wie ernüchternd.

Die türkischen Wähler haben der Präsidentschafts- und Parlamentswahl eine rekordverdächtige Wahlbeteiligung beschert. Das Ergebnis der Wahlen bestätigte die Prognosen weniger türkischer Umfrageinstitute, verwarf gleichzeitig die Zahlen der lautstarken ausländischen und oppositionellen Stimmen. Wie kommt das?

Zunächst einmal hat das Anti-Erdoğan-Bündnis um den Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu CHP (Bündnis der Nation (türkisch Millet İttifakı)) 35 Prozent einfahren können, während die Volksallianz (Cumhur İttifakı) unter dem derzeitigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan AKP mit 49,5 Prozent knapp die Mehrheit verfehlte.

Nun ist das Gejammere unter Oppositionellen groß und die westliche Welt schaut ratlos zu. Gerade diese Konstellation kostete Kılıçdaroğlu das Motto, bereits bei der ersten Wahlrunde eine Entscheidung herbeizuführen. In zwei Wochen wird die Stichwahl zwischen Kılıçdaroğlu und Erdoğan die Entscheidung bringen. Nüchtern betrachtet erübrigt sich jede weitere Diskussion darüber, wer die Stichwahl für sich entscheiden wird. Die Gründe liegen nämlich auf der Hand.

Denn, während man in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl noch Chancen wittert, ist die Parlamentsmehrheit längst in der Hand der Volksallianz. Auch wenn mit Ach und Krach Kılıçdaroğlu die Präsidentschaftswahl gewinnt, hat er im Parlament nichts zu melden, würde eine amputierte Regierung anführen. Von daher ist schon der Gedanke daran, Kılıçdaroğlu könnte die Stichwahl für sich entscheiden, eine Zumutung.

Das Wahlergebnis war aber bereits Monate zuvor vorauszusehen. Der erste gravierende Fehler war, im Wahlkampf gegen Erdoğan einen Dauerverlierer wie Kemal Kılıçdaroğlu aufzubieten. Der zweite Fehler war zu glauben, mit fünf grundverschiedenen ideologischen Parteien und der YSP an einem Strang, Erdoğan vom Thron zu stoßen.

Wer sich anschickt in der Türkei mit dem politischen Arm der Terrororganisation PKK, der völkisch-kurdischen HDP bzw. deren Nachfolgepartei Yeşil Sol Parti (YSP) in den Wahlkampf zu ziehen, das nationale Lager dafür vernachlässigt oder deren Stimmen nicht berücksichtigt, der hat die Rechnung ohne die Wählerschaft aufgestellt und sich damit den dritten großen Fehler eingefangen.

Der vierte große Fehler von Kılıçdaroğlu war, den vierten Herausforderer der Präsidentschaftswahl und ehemaligen Weggefährten Muharrem Ince auszuschalten, in dem man mit Twitterbots und dunklen Gestalten, hinter der sich offenkundig die Gülen-Sekte bzw. die FETÖ verbirgt, angebliche Sex-Enthüllungen über Ince ankündigt, den propagandistischen Druck auf ihn fokussiert und letztendlich damit zur Aufgabe zwingt.

Noch unglaublicher ist der Umstand, dass die CHP unter Kılıçdaroğlu geradezu das Silberbesteck veräußerte, in dem es drei der Bündnispartner eigene Abgeordnetensitze zusicherte, wenn sie gemeinsam unter der CHP agieren. Der ehemalige türkische Außenminister und Vorsitzende der DEVA, Ali Babacan, Ahmet Davutoğlu von der Gelecek Parti und ehemalige Außenminister unter dem AKP-Kabinett sowie Temel Karamollaoğlu von der Partei der Glückseligkeit erwiesen sich als sehr gute Geschäftspartner, die mit Nichtstun und gerade mal 1 Prozent Stimmenanteile insgesamt, rund drei Dutzend Stühle im Parlament sicherten.

Mit Bauernschläue versuchte derweil Kemal Kılıçdaroğlu während des Wahlkampfs das syrische Flüchtlingskontingent, außer Landes zu reden, während der dritte Herausforderer, Sinan Oğan von der Zafer Partisi, diese Rolle aufgrund der politischen Richtung und mit Beihilfe seines Parteiaushängeschilds Ümit Özdağ längst ausübte und damit streitig machte.

Mehr schlecht als recht verurteilte und kritisierte man die angeblich schlecht angelaufenen Hilfen der Regierung an die Bevölkerung der vom Erdbeben betroffenen 11 Provinzen des Landes, was letztendlich darin endete, dass die amtierenden Regierungsparteien in dieser betroffenen Erdbebenregion sogar zulegen konnte, statt Federn zu lassen. Offenkundig sind die Betroffenen des Erdbebens mit der Regierungsarbeit doch zufrieden und haben mehrheitlich für Erdoğan gestimmt.

Nun ist das Gejammere unter den Oppositionellen groß. Statt aber vor der eigenen Haustür zu kehren und rückblickend eine Bilanz zu ziehen, beschränkt man sich mit Seitenhieben und abstrusen Verschwörungstheorien oder zieht über die Wählerschaft her, die eine falsche Entscheidung getroffen habe.

Dabei ist das Wahldebakel überschaubar, die Fehler offenkundig zu sehen. Ein kurzes Fazit:

📍Die türkischen Umfrageinstitute lagen bis auf zwei namentlich bekannte ziemlich daneben. Mit Ihnen aber auch die europäische Medienlandschaft, die dem Herausforderer von Erdoğan große Chancen einräumten. Vielleicht sollte man auf die richtigen Stimmen hören, statt sich in der Filterblase aufzuhalten.

📍Kemal Kılıçdaroğlu hat nach dem Wahldebakel ziemlich schnell resigniert reagiert. Seine Presseauftritte in der Nacht kann man mit „Hallo, guten Abend, lebe noch“ interpretieren. Ein würdiger Abschluss oder eine Kampfansage zur Stichwahl sieht anders aus.

📍Die CHP hat bei dieser Wahl gezeigt, dass sie trotz Beteiligung der Kleinstparteien im Bündnis nichts hinzugewonnen hat. Alleine heimste man 25 Prozent ein, mit den fünf weiteren Kleinparteien ebenfalls 25 Prozent.

📍Die Kleinparteien der Millet Ittifakı (Davutoğlu, Babacan, Karamollaoğlu) fuhren insgesamt rund 1 Prozent ein, sackten aber dafür 35 Sitze als Diäten von der CHP ein.

📍Die Betonung von Kılıçdaroğlu während des Wahlkampfs, Selahattin Demirtaş und Osman Kavala freizulassen, kostete sehr viele Stimmen aus dem nationalen Lager (Milliyetci).

📍Trotz der Hiobsbotschaften und Abspaltung und Zusammenschluss im Bündnis der Nation, konnte die Regierungskoalitionspartei MHP ihre Stimmen nicht nur halten, sondern hinzugewinnen.

📍Die parlamentarische Mehrheit liegt immer noch bei der Volksallianz. Damit ist das Ziel und Wahlversprechen der Bündnis der Nation, die Rückabwicklung des Präsidialsystems in „gestärkte Parlamentssystem“ für weitere 5 Jahre nicht realisierbar.

📍Barış Atay und linke Konsorten, die mit dem Zaunpfahl gegen die amtierende Regierungsparteien zeigten, haben es nicht ins Parlament geschafft. Drohungen und wüste Beschimpfungen alleine bringen keine Stimmen ein.

📍Die Töne gegenüber Kemal Kılıçdaroğlu und Meral Akşener (IYI Partei) werden rauer. Die ersten oppositionsnahen Claqueure fordern schon Rücktritte.

📍Die Opfer und Hinterbliebenen des Erdbebens in der Türkei müssen den Wahlausgang der Bündnis der Nationen ausbaden. Die Wut aufgrund der Enttäuschung über den Wahlausgang in den 11 Provinzen nimmt unter Oppositionsanhängern krasse Formen an und ist nur beschämend aufzunehmen.

📍Kılıçdaroğlu hat einen weiteren großen Fehler begangen: sich an Goliath angelehnt. Der Türke mag es nicht, wenn sich jemand an das Ausland lehnt und diese das auch noch zum Ausdruck bringen. Stichwort Kati Piri, Joe Biden, Cem Özdemir, Grünen.

📍Die völkisch-kurdische HDP / Yeşil Sol Parti hat nicht nur Stimmen verloren, sondern im Kern Federn gelassen, auch in kurdischen Hochburgen.

📍Inflation, Korruptionsvorwürfe oder gravierende Folgen des Erdbebens, damit konnte die Opposition die Bürger nicht überzeugen. Offensichtlich kann der Bürger sehr wohl unterscheiden, was das Land bedroht und nicht bedroht. Soviel steht fest: Man schenkt den Werten der Nation viel mehr Gewicht, als dem Materiellen.

📍Die Kritik an der Opposition wächst. Der Wahlkampf und Wahlabend sei miserabel geführt worden. Unter anderem steht die Nachrichtenagentur ANKA in der Kritik. Man fordert von der Opposition, sich bei der ANKA nicht mehr mit Zahlen einzudecken.

📍Im März 2024 stehen in der Türkei die Kommunalwahlen an. Wohl deshalb setzt der Istanbuler OB Ekrem İmamoğlu alles daran, diesen Posten zu sichern und die gegenwärtigen Wahlen vorerst abzuhaken. Die Oppositionsanhänger befürchten aber, dass İmamoğlu Istanbul verlieren wird; in Ankara sieht es mit Mansur Yavaş nicht besser aus.

📍Diejenigen, die die völkisch-kurdische HDP / Yeşil Sol als Schlüsselpartei anpriesen, haben recht behalten; darin, dass man mit dieser Partei nicht kungeln sollte. Die Wahlen haben gezeigt, dass die Partei keineswegs eine Schlüsselrolle spielt.

📍Das kommunistisch-sozialistisch-völkische TikTok-Bündnis namens „Emek ve Özgürlük İttifakı“ (Linksbündnis), hat gerade mal etwas mehr bekommen (10,5%) wie die MHP allein (10,1%) eingefahren hat.

📍Für alle Parteien sollte nunmehr das Credo gelten: wer Abgeordnetenkandidaten aufstellt, die nur als Marktschreier taugen, bleiben darauf sitzen. Wer tatkräftig arbeitet und Leistungen erbringt, hat die Wahl im Stand gewonnen.

Nur versprochene oder verteilte Nudelrationen, zeigen von Zwiebeln und Kartoffeln, überzeugt in der Türkei niemanden mehr. Straßen, Tunnel, Brücken, Schnellzüge, Kampfdrohnen und unbemannte Kampfjets oder Flugzeugträger, mehr Lohn, mehr Lebensqualität, das sind Themen, die den Wähler vom Hocker stoßen.

📍Es ist ruhig geworden; um all die angeblichen Wahlungereimtheiten, die Oppositionsanhänger bis in die Nacht hinein vortrugen und damit noch das sinkende Fähnlein schwenkten. Es gibt an den Wahlen und Auszählungen nichts zu rütteln. Im Ganzen war auch dieses Jahr alles vollkommen rechtskonform und demokratisch. Die Türkei hat eines der ältesten Wahlkulturen der Welt.

📍Während Russland erklärt, die türkischen Wahlen und das Ergebnis des türkischen Volkes anzuerkennen, grübelt man in der EU und USA noch immer, wie man das Ergebnis madig reden kann.

📍Sinan Oğan, der dritte Präsidentschaftskandidat muss jetzt abwägen: verhandle ich mit einem Bündnis, die von Atatürkisten und Sozial- und Linksnationalisten entkernt wurde oder wende ich mich zähneknirschend der Altpartei zu, von der ich komme und die bislang als Schmelzsicherung für die AKP diente?

📍Es gibt Hunderttausende Tipps zum Wahlergebnis alleine in den zahlreichen Teestuben der Türkei, die mit dem Wahlausgang stimmiger sind als all die Bewertungen von Oppositionellen, Umfrageinstituten oder Experten und TV Moderatoren. Vor allem der Westen sollte das beherzigen, statt angebliche Türkei-Experten ins Feld zu führen.

📍Statt vor der eigenen Haustür zu kehren und Verantwortung für das Wahlergebnis zu tragen, keift man gegenüber den im Ausland lebenden Türken.

📍 Die dekadenten Liberalen, die im trüben Wasser schwimmenden Linken, die am Flugschalter mitfiebernde Gülen-Sekte sowie Hypotekenverwalter im Kandil-Gebirge sind von türkischen Realität dermaßen entrückt, man könnte sie gleich wieder umarmen und fest zudrücken.

📍Schweden wird wohl warten müssen. Scheint nicht so, dass der NATO Beitritt in nächster Zeit durch das türkische Parlament abgesegnet wird; ob mit oder ohne Kılıçdaroğlu / Erdoğan, völlig bumbs.

Übrigens, die Wähler im Ausland sind aufgerufen, zwischen dem 20 und 24. Mai bei der Stichwahl ihre Stimmen erneut abzugeben.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von NEX24 dar.


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