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Kommentar: Die Bosporus-Brücke und die Gewalt darauf

Der Kampf auf der Bosporus-Brücke ist auch ein Kampf von Erk Acarer und Can Dündar gegen die Ordnung. Ein Kommentar.

(Foto: Wikipedia)
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Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Vor dem 15. Juli 2016 verband seit Jahrzehnten die Bosporus-Brücke die europäische und die asiatische Seite Istanbuls. Nach der Nacht des 15. auf den 16. Juli wurde die Bosporus-Brücke in „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ umbenannt und hat in der türkischen Geschichte einen neuen Platz eingenommen. Für Erk Acarer und Can Dündar ist dieser Tag ein grundlegend anderer Tag, wie sie die Mehrheit des Volkes sieht.

Während des Putschversuches von Teilen des türkischen Militärs, die mit Anhängern der Fethullah Gülen Sekte kollaborierten, wurde die Brücke als strategisch wichtiger Ort zu einem der Schauplätze von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den gegen die Regierung gerichteten Putschisten und dem Volk sowie den türkischen Sicherheitskräften.

Während in anderen Stadtteilen von Istanbul Panzer durch die hellerleuchteten Straßen die Blechlawine zum Teil mit Insassen vor sich herschoben oder überfuhren, Kampfjets knapp über den Häuserdächern die sieben Hügel der Millionenmetropole überflogen, rangen sich die ersten Bewohner durch, sich den gepanzerten Straßensperren zur Auffahrt auf die Bosporus-Brücke zu nähern.

Als die ersten Schüsse in den Nachthimmel fielen, die ersten Projektile der Kampfpanzer die vorgelagerten Brücken-Aufbauten der Polizei trafen, ahnte von den Bewohnern erst einmal niemand, dass die „eigenen“ Soldaten ihre scharfe Munition auch direkt gegen das Volk richten würden. Die ersten Wagemutigen ließen sich von der grotesk wahrgenommenen Situation gerade deshalb auch nicht beirren, den Rückzug anzutreten – schließlich waren es ja eigene „Söhne“ und „Offiziere“, die seit 95 Jahren die Republik und das Volk beschützt hatten. So marschierten sie auf die in Reih und Glied stehenden Maschinengewehre und Glattrohrkanonen, die auf sie gerichtet waren.

Achteinhalb Stunden später, in den frühen Morgenstunden des 16. Juli, konnten 32 Zivilisten und zwei Polizisten die Selbstaufgabe der Putschisten nicht mehr miterleben. Über 200 weitere Zivilisten von Tausenden, die die achteinhalb Stunden an und auf der Brücke hautnah mitverfolgt hatten, die inzwischen die unterschiedlichen Kaliber geradezu an den Pfeifgeräuschen unterscheiden konnten, liefen instinktiv auf die Soldaten zu, die ihre Waffen niedergelegt und sich zu Trauben gebildet hatten, um sich zu stellen. Die Gewalt folgte dann einer Logik, die von Gewalt und der Gegengewalt geprägt ist.

In der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Situationen, in der Gewalt dieser Logik folgte und Gegengewalt erzeugte. Als z.B. das nationalsozialistische Deutschland in Konzentrationslagern, in Polen, in Russland und in weiten Teilen Europas abscheuliche und unvorstellbare Verbrechen beging, setzten die Alliierten alles Erdenkliche ein, um deutsche Städte zu bombardieren und den Tod von Hunderttausenden Zivilisten in Kauf zu nehmen. Die Alliierten setzten Gegengewalt ein, um das Unrecht und die Gewalt zu beenden, eine gerechte, friedliche Lage herzustellen.

Wieso erzähle ich das? In sozialen Netzwerken herrscht mitunter die Vorstellung, eine Person, eine Gruppe, ein Volk oder eine Allianz dürfe sich nicht der Gegengewalt bedienen, um Schaden, Gewalt oder erfahrene Ungerechtigkeit zu überwinden. Erst recht nicht auf der ehemaligen Bosporus-Brücke, der heutigen Brücke der Märtyrer des 15. Juli.

Heute las ich in diesem Zusammenhang einen Tweet von Erk Acarer, einem türkischen Journalisten, der in Deutschland im Exil lebt. Darin echauffierte sich Acarer über die getöteten Putschisten und der Justiz, die die Tötungen ad acta legte. Und wie selbstverständlich gesellte sich auch der ebenfalls im Exil lebende Journalist Can Dündar diesem Tweet. Man könnte meinen, sie würden den toten Putschisten und Soldaten, die an dem Putschversuch beteiligt waren, mehr Aufmerksamkeit schenken, als dem Volk, die sich dagegen gestemmt hatten und ebenfalls tot waren.

Liegt dem etwa ein anderer Beweggrund zugrunde? Hat das etwas mit dem Staat, mit der Staatsführung zu tun? Man kann nur Vermutungen anstellen, aber eines ist gewiss: offensichtlich ist man sich der selbst zugrunde gelegten Gewaltlosigkeit bewusst, sonst würde man das ja nicht ständig ansprechen. Aber warum befasst man sich ausschließlich mit der Gegengewalt und nicht mit der Gewalt an sich?

Das heißt, beide türkischen Journalisten beklagen seit dem 16. Juli 2016 den Tod von sieben Soldaten bzw. Offiziersanwärtern, die auf der Bosporus-Brücke von einer wütenden Menschenmenge überrumpelt und getötet wurden und erst vom Rest abließen, als die Polizei Wasserwerfer einsetzte und die Pistolen in die Luft hielt, um Gewaltanwendung anzudeuten. Noch einmal muss ich anmerken, dass diese zwei Journalisten sich bislang ausschließlich Gedanken um die Gewalt als der Gegengewalt machen. Sprich, es interessiert sie bislang nicht, wie die 32 Zivilisten und zwei Polizisten ums Leben kamen. Dafür kennen sich die zwei aber bei den Todesumständen der sieben Soldaten bzw. Offiziersanwärter offensichtlich bestens aus.

Woher rührt diese Diskrepanz? Auf der einen Seite stehen Gewalttäter, die eine Ordnung, die vom Volk bestimmt wurde, mit Gewalt aufheben wollen. Auf der anderen Seite steht das Volk, die diese Ordnung verteidigt. Schauen Sie, über achteinhalb Stunden haben Tausende Menschen auf, an oder neben der Brücke miterlebt, wie der Nachbar, der eigene Sohn, Vater, Onkel oder Großvater sowie wildfremde Stadtbewohner von „eigenen“ Soldaten beschossen und getötet wurden – und wir sprechen nur von einem Ort von vielen in Istanbul, in der Gewalt ausgeübt wurde. Sie haben achteinhalb Stunden Projektile und Kampfjets um die Ohren fliegen hören, die Schreie der Verletzten mitbekommen, die letzten Atemzüge der Zivilisten miterlebt, über Handy, Polizei oder hinzustoßende weitere Bewohner gehört oder mitbekommen, was in den anderen Stadtteilen an Gewalt gegen die Bevölkerung passiert ist.

Die Gegengewalt, die nach der Waffenniederlegung den Soldaten widerfuhr, war da längst der Passivität überlegen, weil rund 200 Zivilisten durch das Erlebte derart in Rage versetzt waren, die nicht einmal mehr 6 bis 8 Polizisten, die vor Ort derweil die Waffen der ergebenden Soldaten sicherten und nicht in der Lage waren, diese Menschenmenge unter Kontrolle zu bringen. Denn die Menge, die zur Gegengewalt griff, erhob sich und bat der erlittenen Ungerechtigkeit oder Gewalt die Stirn, um eine in dieser Rage empfundene gerechtere, wahrere und friedlichere Lage herzustellen. Die Menge wollte eine Unrechtssituation überwinden und versetzte sich im schlimmsten Fall in die Position der Soldaten, die zuvor diese Menge beschossen hatte, die Absicht hatte sie zu töten und auch tötete.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Ordnung durch den Putschversuch völlig zum erliegen gekommen war. Das Istanbuler Polizeipräsidium war von Kampfjets und Kampfhubschraubern in Grund und Boden beschossen worden. Das Sondereinsatzkommando existierte nahezu nicht mehr, weil gezielte Raketentreffer das Hauptquartier zerstört hatte – samt den Sicherheitskräften darin. Wo keine Ordnung, da herrscht Anarchie. Und diese Ordnung hatten die Putschisten aus den Angeln gehoben.

Sieben Soldaten bzw. Offiziersanwärter, ob von den Putschisten mit falschen Behauptungen zum außerordentlichen Dienst gerufen oder willentlich dabei, ob sie zum Schein in die Luft schossen oder direkt auf Menschen zielten, starben auf dieser Brücke, nach dem sie ihre Waffen niedergelegt hatten, weil es diese Ordnung quasi nicht gab. Für die Menschenmenge war nicht ersichtlich, wer von den Putschisten-Soldaten absichtlich daneben geschossen hatte oder direkt auf die Köpfe zielte. Die Soldaten wurden so das Opfer einer instinktiven, spontanen und unüberlegten Aggression, die sie zuvor selbst unüberlegt oder überlegt angewendet und damit die Ordnung aufgehoben hatten. Sie zwangen sozusagen der Menschenmenge die eigenen Mittel und die Art und Weise auf, zerstörten damit aber auch die Überzeugungen und Ideale dieser Menschenmenge.

Ich kann daher der Logik von Erk Acarer, Can Dündar und anderen nicht folgen, die ausschließlich die „Ungerechtigkeit“ gegenüber den „Gewalttätern“ thematisieren, während die „Gegengewalttäter“ die volle Härte der moralischen Überzeugungen und Ideale spüren und in Haftung genommen werden.

Ja, die Taten gegenüber den unbewaffneten Soldaten war auch ein Verrat an der Achtung gegenüber den putschenden Soldaten an sich, die aus welchen Gründen auch immer, ihre Hoheit über die absolute Gewalt nach Ausübung dessen dann doch abgelegt hatten. Ebenso hatten aber diese zuvor bewaffneten Soldaten, die ein Eid auf das Land, auf das Volk abgelegt hatten, dieses Volk bekämpft und dabei die Hoheit über die Gewalt ausgeübt sowie die Ordnung ausgehebelt. Daraus leitete ein Bruchteil der Menschen, die vor Ort waren, unüberlegt, intuitiv und im Affekt ein Widerstandsrecht ab, um die Verfassungsordnung aufrechtzuerhalten – wohlgemerkt, nach achteinhalb Stunden des Mordens und Tötens, die sie miterlebt hatten. Diese Menschenmenge war sich in der aufgebrachten Lage einig, dass diese Gewalt, die man erlebt hatte die grundlegendsten Regeln missachtet und Menschenleben gefordert hatte, weil auch die Ordnung nicht mehr existierte. In der Konsequenz kam es zur Gegengewalt und Tod.


Gastbeiträge geben die Meinung der Autoren wieder und stellen nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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