Von Kemal Bölge
Gestern vor 15 Jahren, am 6. April 2006, wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel vom NSU-Killerkommando ermordet. Er wurde 21 Jahre alt. Zur Tatzeit saß ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, Andreas Temme, im Café.
Dieser muss, bevor er das Geschäft verließ, den hinter dem Tresen in einer Blutlache liegenden Yozgat gesehen haben. In mehreren Befragungen und als Zeuge im NSU-Prozess in München bestritt Temme den von tödlichen Schüssen getroffenen Halit Yozgat auf dem Boden gesehen zu haben. Das OLG hielt die Aussage von Temme 2016 dennoch für glaubwürdig.
Britisches Forscherteam widerlegt Temmes Aussage vor Gericht
Das britische Forscherteam Forensic Architecture der Goldsmith University kam allerdings zu einem anderen Ergebnis. Nach Ansicht der Wissenschaftler muss Temme den am Boden liegenden Halit Yozgat gesehen haben, als er die 50-Cent-Münze auf den Tresen legte. Außerdem hinterlasse der Schuss aus einer Waffe (Ceska 83) in geschlossenen Räumen einen verbrannten Geruch von Schießpulver, den Temme wahrgenommen haben müsste.
Fallanalyse von Profiler Alexander Horn ging bereits 2006 von Ausländerhass als Tatmotiv aus
Der NSU hatte von 2000 bis zu seiner Selbstenttarnung 2011 quer durch Deutschland neun gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft sowie eine Polizistin ermordet. Hinzu kommen drei Sprengstoffanschläge mit Dutzenden verletzten und 15 Raubüberfälle, ohne dass die Polizei trotz intensiver Ermittlungen auf ihre Spur gekommen wäre. Der bayerische Kriminalbeamte und Profiler Alexander Horn ging in einer operativen Fallanalyse bereits 2006 von Ausländerhass als Tatmotiv aus.
Das Bundeskriminalamt (BKA) glaubte der Fallanalyse nicht und ließ weiter in Richtung Organisierte Kriminalität ermitteln. Statt nach den wahren Tätern zu suchen, wurden die Opferfamilien von der Polizei jahrelang beschuldigt und kriminalisiert.
Die Bundesanwaltschaft und auch das Oberlandesgericht in München gingen während und nach dem NSU-Prozess von einem isoliert agierenden NSU-Trio aus. Nachforschungen der Nebenklageanwälte zum NSU-Komplex investigativer Journalisten und parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern lassen berechtigte Zweifel an einem isoliert handelnden NSU zu, zumal sich der NSU selbst als ein „Netzwerk von Kameraden“ sah.
Terrororganisation NSU war durchsetzt mit V-Leuten des Verfassungsschutzes
Zahlreiche Personen, die zum Unterstützerkreis des NSU gehörten, waren Spitzel bzw. V-Leute unterschiedlicher Verfassungsschutzämter. Nachdem der NSU 2011 aufgeflogen war, wurden bei verschiedenen VS-Ämtern beim Bund und in den Ländern Akten zu V-Männern in der rechtsextremistischen Szene geschreddert. Wenn es nichts gab, was diese V-Leute über den NSU wussten, warum wurden diese Dokumente dann vernichtet, statt sie dem Gericht zur Verfügung zu stellen?
Staatsanwaltschaft Köln leitete wegen der Vernichtung von Akten keine Ermittlungen gegen Verfassungsschutzmitarbeiter ein
Eine Anzeige der Nebenklage-Anwälte im NSU-Prozess gegen einen Referatsleiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz, der Akten schreddern ließ, hatte für diesen Mitarbeiter keine Konsequenzen. Die Staatsanwaltschaft in Köln hatte darauf verzichtet, Ermittlungen gegen den Mitarbeiter des BfV aufzunehmen.
Weshalb hat die Staatsanwaltschaft in Köln kein Ermittlungsverfahren eingeleitet? Nach Ansicht des ehemaligen Vize-Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Fritsche, ging es beim Akten-Schreddern um Staatsgeheimnisse.
Wenn das stimmt, könnte der oberste Dienstherr der Staatsanwaltschaften, der Justizminister, interveniert oder darauf bestanden haben, dass in diesem Fall nicht ermittelt werden darf.
Nach dem Gerichtsverfassungsgesetz Paragraf 146 ermitteln Staatsanwälte in Deutschland weisungsgebunden, d. h. sie arbeiten auf Anordnung des Justizministers und in den Bundesländern ist der Landesjustizminister und auf Bundesebene der Bundesjustizminister der oberste Dienstherr.
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Das Zeugensterben im Zusammenhang mit der NSU-Terrorzelle geht weiter. Ein weiterer vermeintlicher Selbstmord wird aus Karlsruhe gemeldet. Es handelt sich dabei um den Ex-Verlobten einer bereits 2015 verstorbenen Zeugin, deren vorheriger Freund im September 2013 in einem Auto verbrannte, bevor er zum Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter aussagen sollte.
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