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Kommentar: Erdogan kontrolliert die Türkei nicht

"Es herrscht ein Irrglaube darüber, der türkische Präsident Erdoğan allein hätte die Kontrolle über die Türkei. Jenes Land also, das seit 1923 durchgehend eine klug austarierte Politik verfolgt hat, in der die territoriale Integrität, Ordnung und Sicherheit Dogmen darstellen und entsprechende Opfer erbracht werden, werden müssen." Ein Kommentar.

(Archivfoto: tccb)
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Die Türkei und das Primat der Politik

Ein Gastbeitrag von Nabi Yücel

Es herrscht ein Irrglaube darüber, der türkische Präsident Erdoğan allein hätte die Kontrolle über die Türkei. Jenes Land also, das seit 1923 durchgehend eine klug austarierte Politik verfolgt hat, in der die territoriale Integrität, Ordnung und Sicherheit Dogmen darstellen und entsprechende Opfer erbracht werden, werden müssen.

In Europa herrscht ja die einstimmige sture Meinung in Politik und Medien, dass die türkische Regierung unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan, aufgrund des vorherrschenden Präsidialsystems augenscheinlich das Land allein regiert und seine Macht immer weiter verfestigt. Wie die europäischen Führer das sehen, ist nicht genau ersichtlich. Dass dem aber nicht so ist, stellt ausgerechnet der ehemalige griechische Nachrichtendienstler Savas Kalenderidis fest; und bestätigt damit meine jüngste These, wonach Erdoğan nichts tut, ohne es vorher mit dem Staat abgesprochen zu haben oder einen bestimmten Korridor zu verlassen.

In der jungen Republikgeschichte führten Krisen fast immer dazu, dass der Staat und daraufhin die Menschen nach mehr Macht für die Politik riefen und die Politik diesem Ruf nachkam. Gesellschaft, Politik und Militär, sprich der Staat, sind in diesem Zusammenhang betrachtet daher in vielfältiger Weise miteinander eng verwoben. Diese Gemengelage ist der Garant der Türkei. Eine Abweichung, ein Ausschlag des Pendels, ob von außen oder innen initiiert, führt zu einem unausweichlichen Gegenausschlag. Gegenwärtig erleben wir einen großen Gegenausschlag, den die türkische Republik zu verzeichnen hat.

Das Ziel des Staates ist, die eigenen sicherheitspolitischen und territorialen Interessen zu wahren. 2013 gab es eine Zeitenwende, in der nicht mehr galt, die sicherheitspolitischen Interessen Israels und des Westens zu sichern, sondern die genuinen Interessen des Raumes, also die ureigenen Interessen der Türkei zu verfolgen.

Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass der Westen seit 2014 gegenüber Erdoğan ganz andere Saiten aufzieht, als vor diesem Datum. Bis 2013 wurde Erdoğan vom Westen geradezu hochstilisiert, als Reformer gefeiert und verherrlicht. Seit 2013 steht Erdoğan aber geradezu permanent unter Dauerfeuer der westlichen Politik und der Medien. Inzwischen ist die EU, wie Ozan Demircan vom Handelsblatt richtigerweise feststellt, „beim Thema Russland uneins, in Syrien zaghaft, in Libyen in gegnerischen Lagern – eigentlich ist Europas Außenpolitik derzeit nur bei der Türkei vereint.“

Die Türkei tritt also seit 2013 außenpolitisch wieder ganz anders auf, vor allem nach dem gescheiterten Putschversuch geradezu selbstsicher und energisch. Allein die Politik in Zusammenhang mit Libyen unterstreicht das. Man sichert sich hier die Versorgungssicherheit an Erdöl und unterstreicht das mit der Durchkreuzung der Versorgungswege nach Europa, in dem man mit der – von der UN anerkannten – libyschen Regierung einen Coup landet; damit baut man Verhandlungsspielraum aus und erhält damit die Interessen des Raumes weiterhin aufrecht. Und wer diesen vitalen Interessen opponiert, handelt schlichtweg gegen die Interessen des Raumes und muss sich mit der türkischen Militärmacht auseinandersetzen, darunter vor allem Griechenland.

Erdoğan allein wäre nicht in der Lage, diese staatlichen Interessen in nur einem Schaltjahr derart zu verrenken und zu lenken. Erdoğan ist dabei auf die Mitspieler im Parlament und Souverän des Staates sowie dem Nachrichtendienst und Militär angewiesen, die schon damals diese Planspiele mit entworfen und mit abgesegnet haben. Diese Interessen werden von der Justiz und dem Militär mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigt und die Opposition, außer der staatszersetzenden völkisch-kurdischen HDP, spielt die Rolle des „god cop, bad cop“ perfekt mit.

Angefangen von der CHP als älteste Partei der Republik, bis hin zur kleinen linksnationalen Vatan-Partei, sie alle sind Teil dieses Staates. Nur eine Partei, die völkisch-kurdische HDP, befindet sich derzeit außerhalb dieses Interessenbündnisses; mit gutem Grund. Ihre in Teilen des Personals noch immer vorherrschende Nähe zur PKK, konterkariert die Interessen des Staates zutiefst. Das sehen die Oppositionsparteien ebenso, zeigen das aber gegenüber der eigenen Wählerschaft sowie gegenüber dem Westen nicht allzu deutlich, um die Stabilität der Türkei nicht zu gefährden.

Deshalb konnten die HDP-Abgeordneten geradezu ohne wahrnehmbare Herzschmerzen erst parlamentarisch und dann juristisch abgesetzt werden; deshalb werden auch so viele HDP-Bürgermeister von ihren Ämtern juristisch enthoben, ohne dass die Oppositionsparteien großartig dagegen rebelliert oder die Gesellschaft darauf sensibilisiert hätten. Deshalb werden auch derart viele sogenannte „Journalisten“ verhaftet, die in der Regel Aktivisten sind und ihre ureigenen Interessen für die HDP wie PKK verfolgen.

Das hat wohl inzwischen auch der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, selbst begriffen. Er hat Ende dieser Woche deutlich gemacht, dass die Volksallianz nicht mit der HDP rechnen dürfe, sprich, dem Bündnis CHP und der IYI als Opposition zur AKP/MHP-Regierung.

Die größte Oppositionspartei CHP gab bislang vor, dem sogenannten „Treiben“ der AKP machtlos gegenüberzustehen; aber das ist nur die halbe Wahrheit. In Wahrheit hätte die CHP bereits vielfältige Möglichkeiten gehabt, diesem „Treiben“ ein Ende zu setzen; sei es das Gesetz zur Immunitätsaufhebung strikt abzulehnen oder die eigene Wählerschaft zu mobilisieren. Was passierte aber? Die CHP gab den Rahmen vor und winkte das Gesetz sogar willig durch. Bis heute hat die Parteiführung keine Anstalten gehegt, der HDP solidarisch zur Seite zu stehen, außer die HDP für ihre eigenen politischen Interessen zu benutzen. Es gibt noch unzählige weitere Beispiele, wo die Oppositionspartei CHP eine ganz andere Entscheidung traf, als man es als Beobachter vermutet hätte. Diese Aha-Effekte erlebt man bei der CHP immer öfter, was meine Meinung hierzu immer mehr unterstreicht.

Es ist daher ein Irrglaube, davon auszugehen, der Vorsitzende der Partei CHP sei unfähig, zwischen falsch und richtig zu unterscheiden, die amtierende Regierung in ihrem Tun nicht maßregeln zu können. Der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, könnte sich der amtierenden Regierungspartei AKP sehr wohl in den Weg zu stellen, tut es aber nicht. Ich gehe sogar weiter und denke gar, dass der Gezi-Protest nur ein Vorwand war und die CHP das mitgestaltet hat, um genau die Reaktionen auszulösen, die die Menschen dazu veranlasste, nach mehr Macht für die Politik zu schreien.

Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass Kemal Kılıçdaroğlu in der türkischen Politik seit Jahrzehnten mitmischt und damit ein alter Hase und mit allen Wassern gewaschen ist. Er ist im Umkehrschluss ebenso Garant des türkischen Staates wie der Oppositionspolitiker der MHP Devlet Bahceli, der mit Erdoğan die Regierungsgeschäfte bewältigt.

Alle diese Politiker, ausgenommen der HDP, spielen ihre „god cop, bad cop“-Rollen perfekt, um dem Primat der Politik gerecht zu werden. Sie verteidigen und erhalten somit die Dogmen des Republikgründers Atatürk, die die Existenz der Türkei sichern.

Und das alles bestätigt jetzt ausgerechnet der griechische Ex-Agent, Schriftsteller, Polit-Analyst und Kolumnist Savvas Kalenteridis mit diesen Worten: „Es gibt einen Unterschied. In Griechenland haben wir das auf den Premierminister ausgerichtete System, das heißt, der Premierminister entscheidet, während es in der Türkei das staatlich zentrierte System gibt, das heißt, die staatlichen Institutionen entscheiden und dann wird es denjenigen auferlegt, die jedes Mal regieren, um es umzusetzen. Erdogan kann nicht einmal tun, was er tun will, das heißt, die Türkei wird sich in diesen Linien bewegen, die gezogen wurden.“


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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