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NEX24 Interview
Interview: „Schlachten wir Türken, damit Armenien entsteht!“

Historiker Prof. Dr. Haluk Selvi, Direktor des Forschungszentrums für türkisch-armenische Studien in Sakarya/Türkei über armenische Verbände und ihre Rolle im Osmanischen Reich, die tendenziöse Haltung des Westens und Geschichtsklitterung.

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Prof. Dr. Haluk Selvi ist Professor an der Universität von Sakarya und Direktor des Forschungszentrums für türkisch-armenische Beziehungen. Er studierte an der Universität von Erzurum Geschichte und promovierte anschließend zum Thema „Erzurum während des nationalen Befreiungskrieges“. Der renommierte Historiker ist zudem Verfasser zahlreicher Bücher und Artikel zur neueren türkischen Geschichte und gilt als ausgewiesener Kenner der „Armenischen Frage“.

NEX24: In Ihrem Werk mit dem Titel „Mihran Damadyan – Die Bekenntnisse eines armenischen Untergrundkämpfers“ schildern Sie eindrucksvoll die Organisationsstruktur und die Ambitionen armenischer Milizen, die in der Spätzeit des Osmanischen Reiches für etliche Gewaltakte, politische Morde und aufwieglerische Aktivitäten verantwortlich waren. Inwiefern sind die Aktionen der armenischen Milizen im Kontext der Zwangsumsiedlung der osmanischen Armenier relevant?

Prof. Selvi: Die Umsiedlung der Armenier während des Ersten Weltkriegs kann nicht alleine im Hinblick auf die Ereignisse des Jahres 1915 bewertet werden. Die Entscheidung zur Zwangsumsiedlung von 1915 war vielmehr die letzte Etappe einer langen Entwicklung, die ihren Anfang 40 Jahre zuvor genommen hatte. Den Stein ins Rollen brachten armenische Milizen, die eine massive Unterstützung aus dem Ausland erfuhren. Aus diesem Grund ist es eminent wichtig die Gründung, die Arbeitsweisen und die Ambitionen armenischer Organisationen wie der Ramgavar, Hunchak und Daschnaksutyun zu verstehen. Ohne die nötige Kenntnis über diese Verbände können die Hintergründe und die Folgen der Zwangsumsiedlung nicht nachvollzogen werden.

„Insofern lesen sich die Geständnisse Mihran Damadyans in der Tat wie ein Offenbarungseid, denn sie legen die nackten Tatsachen vor Augen, die maßgeblich waren bei der Umsetzung der Aktionen.“

Nicht ohne Grund verschweigen die noch heute aktiven armenischen Verbände, mit der massiven Unterstützung der mächtigen armenischen Diaspora, die Aktivitäten der armenischen Milizen während des Ersten Weltkriegs. Über die eigene Verantwortung wird nicht gesprochen und unablässig gegen die damalige osmanische Regierung und gegen die türkische Bevölkerung ins Feld gezogen.

Die fruchtlosen Gespräche zwischen der osmanischen Regierung und den Führungen der Daschnaksutyun und Hunchak Verbände zwischen den Jahren 1912 und 1915 und die Resolutionen der armenischen Organisationen auf ihren Parteitagen, waren letztlich die wahren Gründe für den Beschluss zur Zwangsumsiedlung.

Noch vor Kriegsausbruch positionierten sich die armenischen Komitees auf der Seite der Kriegsgegner, dem zaristischen Russland und Großbritannien, was de facto einer Kriegserklärung gegen den eigenen Staat, dem Osmanischen Reich, gleichkam. Kurzum, die Aktivitäten der armenischen Verbände, die in jeder anatolischen Stadt organisiert waren, waren der Hauptgrund für den Beschluss der osmanischen Regierung, die Armenier auszusiedeln.

NEX24: Wir möchten Sie im Übrigen für dieses sehr beachtenswerte Werk gratulieren. Es packt den Leser und taucht mit ihm in eine turbulente Zeit voller politischer wirren. Welche Quellen haben Sie denn für Ihre Forschungen herangezogen?

Prof. Selvi: Ich bin dem Manzara Verlag für die Übersetzung und Veröffentlichung meines Buches sehr dankbar. Hinter jeder Publikation, hinter jeder wissenschaftlichen Abhandlung steckt eine Geschichte. So ist es auch im Falle des Buches zu Mihran Damadyan, aus dem Sie, buchstäblich wie in einem fesselnden Kriminalroman, über das Leben und Wirken eines Milizionärs erfahren können. Ich stieß während meiner Studien zu meiner Dissertation über die ost-anatolische Stadt Erzurum in der Zeit des türkischen Unabhängigkeitskrieges (1918-1923) auf die Geständnisse des Mihran Damadyan im osmanischen Archiv des Ministerpräsidialamtes in Istanbul.

Mir fiel auf, dass der Name dieses Aktivisten, selbst unter den ausgewiesenen Kennern dieser Materie, gänzlich unbekannt war. Im Zuge der Übersetzung dieser Dokumente aus dem Osmanischen in das moderne Türkisch wurde mir klar, dass es sich bei Mihran Damadyan um einen bedeutenden Führer der Hunchaken handelte. Seine umfassenden Geständnisse beinhalteten zudem dermaßen brisante Details, die ich unbedingt weiter beleuchten musste.

„Seine Geständnisse belegen, dass diese Tat auf Befehl des britischen Daily News Korrespondenten in Athen, Fitzgerald, ausgeführt wurde.“

 

 

 

Natürlich hat auch mein persönliches Interesse einen nicht unerheblichen Beitrag dazu beigetragen, mich dem Thema weiterhin zu widmen. Die Aktionen der Hunchaken, der Aufstand von Sasun, die Rolle Großbritanniens bei alledem und die ersten armenischen Aufstände in Ost-Anatolien waren wichtige Stationen und Ankerpunkte in der Vita dieses Mannes. Artikel aus der zeitgenössischen europäischen Presse, osmanische Archivbestände und Abhandlungen über Armenier bilden die Quelle dieser Arbeit.

Das vorliegende Buch gibt im Lichte der Dokumente und Quellen die Ereignisse jener Zeit aus einem objektiven Blickwinkel wieder. Ich wollte nicht kommentieren, sondern als beobachtender Dritter die Geschehnisse wiedergeben. Dabei nimmt Sie Mihran mit auf eine kleine Odyssee bei der Sie mal in Italien, mal in Frankreich, mal in Syrien einen Halt einlegen. Dann folgen Sie Mihran nach Istanbul, Paris, Athen oder landen in der anatolischen Provinz im Mus. Sie lernen das Doppelleben des Grundschullehrers Mihran kennen, der in den typischen Gewändern eines Muslims armenische Dörfer überfällt, dann als armenischer Milizionär muslimische Siedlungen tyrannisiert.

Sie erfahren auch von seinen Kontakten zu Ausländern, nach deren Anweisung er offensichtlich handelt. So zettelt er im Schulterschluss mit dem Armenier Hamparsum Boyaciyan den ersten Aufstand in der anatolischen Stadt Sasun an. Seine Geständnisse belegen, dass diese Tat auf Befehl des britischen Daily News Korrespondenten in Athen, Fitzgerald, ausgeführt wurde.

Andere interessante Erkenntnisse gewinnen wir beispielsweise über Russland: Um nicht in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches verwickelt zu werden, führten die Russen stets das Argument ins Feld vor, dass sie erst dann intervenieren würden, wenn es den Armeniern Anatoliens schlecht ginge. Um das Eingreifen des Zarenreiches zu erwirken, beginnen die Übergriffe auf unschuldige Zivilisten im Osten des Osmanischen Reiches. Insofern lesen sich die Geständnisse Mihran Damadyans in der Tat wie ein Offenbarungseid, denn sie legen die nackten Tatsachen vor Augen, die maßgeblich waren bei der Planung und Durchführung der Aktionen.

NEX24: Bei der Lektüre Ihres Buches bekommt man schnell den Eindruck, dass es sich bei den armenischen Komitees um recht gut organisierte und strukturierte Verbände gehandelt haben muss. Irritierenderweise werden diese Komitees in manchen Quellen auch als „Banden“ bezeichnet. Können Sie bitte den Aufbau dieser Organisationen kurz schildern? Wie viele armenische Komitees waren im Osmanischen Reich aktiv? Bestanden zwischen ihnen ideologische Unterschiede?

Prof. Selvi: Die Gründung der ersten armenischen Organisationen im Osmanischen Reich beginnt unmittelbar nach dem Berliner Kongress von 1878. Patriarch Kirimyan, der an den Verhandlungen des Kongresses teilnahm, forderte von den beteiligten Vertretern der Großmächte die Errichtung einer föderalen Struktur, in der den Armeniern ein Bundesstaat in Ost-Anatolien zugestanden werden sollte. Er ging allerdings leer aus, denn mehr als ein Versprechen für die Durchführung von Reformen konnte er von den Delegierten der europäischen Mächte nicht abringen.

Patriarch Kirimyan nahm sich die Unabhängigkeitsbewegungen auf dem Balkan zum Vorbild, in der Serben, Montenegriner, Rumänen und Bulgaren erst nach einem fünfzig Jahre andauernden bewaffneten Kampf, zahllosen Aufständen und massiver Unterstützung europäischer Mächte die Unabhängigkeit erlangten. In seinen Predigten in Van und Jerewan propagierte der Patriarch den bewaffneten Kampf als einzige Lösung und lieferte somit Segen und Anlass für die Gründung der ersten armenischen Verbände. Schnell kristallisierten sich die Provinzen Erzurum und Van zu Hot Spots armenischer Komitees und gerieten ins Visier osmanischer Gesetzeshüter, deren Vorkehrungen den Exodus der Verbände ins Ausland veranlassten.

„Antranik, der […] verantwortlich für unzählige Massenmorde war, wurde für seine Verbrechen nicht nur von den politischen Organisationen der Armenier verehrt, sondern auch mit Ovationen westlicher Regierungen überhäuft.“

Die Unterstützung, die den Komitees aus Russland und Großbritannien zuteilwurde, lieferte schließlich die nötige Motivation, um weitere Organisationen zu gründen und die bestehenden auszubauen. Zu den einflussreichsten und bis heute aktivsten armenischen Vereinigungen zählen die Hunchak (deutsch: Glocke) und Daschnaksutyun (Armenische Revolutionäre Föderation).

Beide Organisationen, die zwischen 1888 und 1890 von russischen Armeniern in Genf und Tiflis gegründet wurden, vermochten in kürzester Zeit eigene Zeitungen zu publizieren und Pamphlete zu veröffentlichen, um in Anatolien ansässige Armenier gegen ihre eigene osmanische Regierung aufzuwiegeln. Beide Vereinigungen verfolgen sozialistische Ziele und sehen den Terror als legitimes Mittel zum Zweck. Mit Gewaltakten gegen Andersdenkende unter Armeniern und gegen Türken gehört zu Ihrem Programm.

NEX24: … das waren sozusagen Aktivisten, die im Anzug und in polierten Lackschuhen unterwegs waren. Aber was waren dann diese sogenannten „armenischen Banden“?

Prof. Selvi: Neben diesen gebildeten und weitsichtigen sozialistischen Armeniern gab es unzählige armenische Milizen, die in den zerklüfteten Bergregionen Ostanatoliens den bewaffneten Kampf gegen den osmanischen Staat aufgenommen hatten und in eine Allianz mit den beiden armenischen Organisationen eingegangen waren. Die Hunchak und Daschnaksutyun Organisationen versorgten nach relativ kurzer Zeit diese armenischen Kampfverbände mit Geld, Waffen und strategisch wichtigen Informationen, damit diese unter der Leitung von berüchtigten Milizenführern wie Antranik, Dro und Hamazsb ihre Aktivitäten fortsetzen konnten.

Die Verzahnung beider Strukturen war so offensichtlich, dass sogar auf einem Kongress der Daschnaken im Jahre 1904 Antranik zum “Anführer der Kampfeinheiten in den Bergregionen” gewählt wurde. Antranik, der zwischen den Jahren 1900 und 1919 in Ost-Anatolien, auf dem Balkan und im Kaukasus verantwortlich für unzählige Massenmorde war, wurde für seine Verbrechen nicht nur von den politischen Organisationen der Armenier verehrt, sondern auch mit Ovationen westlicher Regierungen überhäuft. Mit unseren intensiven Archivrecherchen über Antranik konnten wir die unerbittliche Härte und Brutalität aufzeigen, mit der der armenische Milizenführer gegen unschuldige Zivilisten vorging. (Haluk Selvi, “Anadolu’dan Kafkasya’ya Bir Ermeni Çete Reisi: Antranik Ozanyan, VIII. Askeri Tarih Semineri, Ankara, 2001)

NEX24: Terrororganisationen benötigen beachtliche Finanzmittel, um derartige Aktionen durchzuführen. Das ist auch heute so wie vor 100 Jahren der Fall. Woher und wie bezogen die armenischen Komitees ihre Geldmittel?

Prof. Selvi: Die armenischen Kampfverbände in den Bergen stützten sich in wirtschaftlicher Hinsicht auf die armenischen Bewohner Ost-Anatoliens. Auch Russland förderte die armenischen Milizen, nachdem diese an Einfluss gewannen. Während die Milizionäre Waffen und Munition aus dem Iran und Russland bezogen, trieben sie alles Weitere gewaltsam von armenischen und muslimischen Dörfern ein.

Russische Waffen, typische Kleidungsstücke wie die russische Fellmütze und Munition wurden bei der Gefangennahme von Milizionären aus dem Umfeld von Antranik und Dro sichergestellt. In den südlicheren Regionen hingegen war die Unterstützung Großbritanniens und Frankreichs viel offensichtlicher. Aus dieser Vielzahl an armenischen Milizen stachen vor allem die Hunchaken und Daschnaken durch ihre Professionalität besonders hervor.

Wohlhabende Armenier im Inland und Kirchen schröpften diese Milizen als Finanzquellen. Wer Zahlungen verweigerte musste mit der Entführung des eigenen Nachwuchses rechnen oder damit, dass das eigene Geschäft lichterloh in Flammen aufging. Über die Verwendung der eingetriebenen Gelder kam es häufig zu Verwerfungen unter den Armeniern, was nicht selten mit internen Fehden ausgetragen wurde und tödlich endete. (Diese internen Auseinandersetzungen wurden mit Belegen aus Archivbeständen dokumentiert und in einer wissenschaftlichen Arbeit zusammengefasst: Haluk Selvi, Millet-i Sadıkada İsyan-Ermeni Komitacılarının Gizli Mektupları (1878-1923), İstanbul, 2011)

„Durch eine politische Indoktrination der armenischen Bevölkerung sollte sie in einem landesweiten Volksaufstand gegen die osmanische Obrigkeit aufgewiegelt werden – dies war das Hauptziel.“

Vor allem diese beiden Milizen, die die Saat für die sogenannte Armenische Frage streuten, finanzierten sich durch Schutzgelderpressungen, Spendenaktionen und waren sich dem Rückhalt der Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und Russlands sicher. Ihre Budgets speisten sich zudem aus dem Verkauf eigener Publikationen wie Zeitschriften und Zeitungen und aus Zuwendungen amerikanischer Missionare.

Vor allem letztere erwiesen sich als besonders umtriebig und errichteten im 19. Jahrhundert in allen anatolischen Städten Schulen und sonstige Einrichtungen speziell für die osmanischen Armenier. Sie wiesen auf die Situation der christlichen Glaubensbrüder hin und trieben so von anderen Missionseinrichtungen und Kirchen große Spenden ein. (Sehen Sie hierzu wiederum Haluk Selvi, “Terör Eylemlerine Tarihsel Bir Yaklaşım: Osmanlı Devleti’nde Ermeni Terör Eylemleri ve Yurtdışı Bağlantıları”, Uluslararası Güvenlik ve Terörizm Dergisi, Vol.21.)

NEX24: Und wie groß war der Einfluss armenischer Milizen auf die osmanischen Armenier, die ja im Osmanischen Reich gemeinhin als millet-i sadıka bezeichnet wurden, was übersetzt „treue Bürger“ bedeutet?

Prof. Selvi: Bis zur Proklamation der zweiten konstitutionellen Monarchie im Jahre 1908, der Legalisierung der armenischen Komitees wie der Hunchaken und der Daschnaken, der Begnadigung der Komiteeangehörigen und ihrem Einzug in das Parlament als Abgeordnete, galten diese als Terroristen und wurden gemeinhin von den osmanischen Armeniern auch als solche wahrgenommen.

Allerdings mussten viele Armenier aus Furcht vor diesen Verbänden den Forderungen dieser Komitees nachkommen. Durch eine politische Indoktrination der armenischen Bevölkerung sollte sie in einem landesweiten Volksaufstand gegen die osmanische Obrigkeit aufgewiegelt werden – dies war das Hauptziel. Bis ins 19. Jahrhundert waren die Armenier in den Metropolen des Reiches und auf dem Land weitgehend zufrieden mit ihrer Situation.

Sie genossen Freiheiten und hatten sich einen Wohlstand erarbeitet – Verhältnisse, die nicht einmal den Armeniern im Russischen Reich vergönnt waren. Nichtsdestotrotz gelang es den armenischen Milizen von Zeit zu Zeit armenische Reichsbürger aufzuwiegeln und sie mit der Verheißung eines unabhängigen armenischen Staates auf die Barrikaden zu bringen. Unter den kaukasischen Armeniern stießen die Komitees eher auf Ablehnung, denn diese beäugten die revolutionären Milizionäre mit Argwohn und fürchteten eine Destabilisierung ihrer Situation im Russischen Reich.

Selbst der erste armenische Ministerpräsident Ovannes Katschaznouni gestand auf einer Versammlung der Daschnaken in Bukarest die Fehler der Armenier ein und die daraus resultierenden enormen Verluste für sein Volk. Im Übrigen ist auch diese Kritik Katschaznounis als Buch veröffentlicht worden.

NEX24: Lobby-Historiker verbreiten über Mihran Damadyan in der westlichen Öffentlichkeit beflissen das Image eines Saubermannes. Mal ist er ein „Schriftsteller“, mal ein „Freiheitskämpfer“, dann ein „Pädagoge“. Dass dies nicht der Wahrheit entspricht, liegt auf der Hand. Unbeirrt werden Straftäter wie Tehliryan, Torlakyan, Monte Melkonyan als Helden stilisiert. Dem als „Schächter von Kars“ berüchtigten General Dro, alias Drasdamat Kanayan, und dem Attentäter Tehliryan wurden gar Denkmäler errichtet. Das zeugt von einem sehr verfälschten Geschichtsverständnis. Was wird mit dieser (falschen) Heldenverehrung bezweckt?

Prof. Selvi: Jedes Volk hat seine Helden und diese Helden wurden in den Erwartungen dieser Völker geboren. Bei den Armeniern existieren auch einige historische Gestalten als Helden. Die armenischen Helden unseres Zeitabschnitts beginnen ab den 1890er Jahren bis in unsere heutige Zeit. Antranik, Hamazsb, Dro, Armen Garo (Karekin Pastırmacıyan, Tehliryan, Melkonyan usw.). Das wesentliche Merkmal bei diesem Personenkreis besteht darin, dass es sich hierbei um bewaffnete Aktivisten handelt, die die türkische Bevölkerung grausam malträtiert haben. Sie sind es, die den Terror im Osten Anatoliens entfacht hatten und verantwortlich waren für die Benachteiligung des armenischen Volkes. Sie waren es, die behaupteten wegen den Armeniern aus Rache zur Waffe gegriffen zu haben.

„Als Kriegsverbrecher Antranik nach Kriegsende 1919 nach Paris kam, veranstaltete die französische Regierung zu seinen Ehren Festlichkeiten. Am Ende schmückten seine Brust zahlreiche Orden, die ihm vom französischen Präsidenten verliehen wurden.“

Sie waren es wiederum, die in der europäischen Öffentlichkeit wie Helden empfangen und mit Orden geehrt wurden. Sie waren es, die bei den Balkankriegen 1912 mit einer schlagkräftigen Einheit von 2.000 Mann in der bulgarischen Armee in der Gegend von Tekirdağ und Edirne Tausende von unschuldigen Zivilisten ermordeten. Antranik, der muslimische Dörfer überfiel, wurde nach dem Krieg vom bulgarischen Zar Ferdinand mit [militärischen] Orden geehrt. Letztes Jahr wurde von ihm in Plowdiw eine Statue eingeweiht. Dieser Milizenchef, der während des Ersten Weltkriegs die armenischen Freiwilligeneinheiten anführte und in der russischen Armee diente, wurde von diesen zum Generalsrang befördert.

In unseren Archivbeständen sind die Namen aufgeführt und in den Regionen Erzurum, Van und Berg-Karabach hat dieser mindestens 150.000 Zivilisten ermorden lassen. Aber in einem Hunchaken-Marsch heißt es: “Lass uns in die Türkei gehen Bruder Antranik, schlachten wir die Türken, damit Armenien entsteht.” Als Kriegsverbrecher Antranik nach Kriegsende 1919 nach Paris kam, veranstaltete die französische Regierung zu seinen Ehren Festlichkeiten.

Am Ende schmückten seine Brust zahlreiche Orden, die ihm vom französischen Präsidenten verliehen wurden. Die Begründung hierfür konnte nach seinem Tod auf dem Denkmal des Pariser Nationalfriedhofs nachgelesen werden: “Zu Ehren der im Osten für Frankreich kämpfenden und gefallenen Armenier.”

Das imperialistische Europa und Russland hatten die zunächst unbeteiligten Armenier des Ostens instrumentalisiert, dann in die Berge getrieben und schließlich 1923 fallen gelassen. Wie 1970, 1980 und 1990, benutzen diejenigen, die mit der Türkei ein Hühnchen zu rupfen haben, weiterhin die Armenier und Armenien mit den Ereignissen von 1915. Die über 1.000 Vereine der armenischen Diaspora in der Welt halten ihr Auskommen mit der “Genozid-Industrie” aufrecht. Treibe es bei den reichen Armeniern ein und gebe es aus, wenn du es brauchst…

Die Massaker, die Antranik zwischen 1892-1920 durchführte, setzten Melkonyan und Kotscharyan in Berg-Karabach und Hodschali fort. Die Sichtweise des demokratischen und modernen Europas, Russlands, der Europäischen Union, der USA und der armenischen Nationalisten gegenüber Antranik und Melkoniyan ist identisch; Sie werden zu Freiheitskämpfern und Helden stilisiert. Was ist mit den ermordeten unschuldigen Märtyrern, die Frauen, die Kinder, die alten Leute…? Wessen Schuldige oder Helden sind sie? Die Menschheit muss das hinterfragen.

NEX24: In der westlichen Öffentlichkeit ruft das Stichwort „Armenische Frage“ stets das Bild des armenischen Opfers ins Bewusstsein der Menschen. Im Westen ist die Vorstellung verbreitet, dass armenische Zivilisten mit Gewalt umgesiedelt, massakriert und sogar einem Völkermord zum Opfer gefallen sein sollen. Diese Perzeption ist nicht zuletzt der seit einhundert Jahren andauernden armenischen Lobbyarbeit geschuldet. Im Gegensatz zur westlichen Wahrnehmung steht die „Armenische Frage“, sowohl in der Türkei als auch in Aserbaidschan, als Synonym für groß angelegte Massaker an der muslimischen Zivilbevölkerung. Welche Rolle spielten bei diesen ethnischen Säuberungen die armenischen Milizen? Warum wurden diese Gewaltverbrechen an wehrlosen Muslimen verübt?

Prof. Selvi: Damit die Armenier die Unabhängigkeit erlangen konnten, bedurfte es provokativer Handlungen, um gegenseitige Massaker anzustacheln, so wie es Europa herbeigesehnt hatte. So entstanden die ersten armenischen Aktionen. Obwohl bei diesen Aktionen wesentlich mehr Türken getötet wurden, hat die europäische Öffentlichkeit die Ereignisse gerade umgekehrt bewertet und behandelt. Somit wurde das angestrebte Ziel erreicht. Um aus dem Provinzen Erzurum, Van, Bitlis, Diyarbakır, Sivas, Elazığ und Trabzon ein Armenien zu gründen, musste man dafür entsprechend die demografischen Strukturen schaffen.

Die Armenier waren in diesen Gebieten in der Minderheit. Um die entsprechenden demografischen Strukturen zu realisieren, gab es zwei Methoden: Erstens, die Türken gewaltsam zu vertreiben und zweitens, bei den vor Ort gebliebenen ein Gemetzel anzurichten. Während des Ersten Weltkriegs, als Erzurum, Erzincan, Bayburt, Trabzon und Van unter russischer Besetzung standen, wurde nahezu die Hälfte der osmanischen Bürger von den Hilfstruppen der Russen, den armenischen Milizen, nach Mittelanatolien vertrieben und weite Landstriche entleert.

Die Maßnahmen fruchteten, denn die demografischen Strukturen änderten sich allmählich zugunsten der Armenier. Als jedoch 1917 in Russland die bolschewistische Revolution ausbrach und die zaristischen Truppen den Rückzug antraten, verließen ihre armenischen Schergen mit ihnen und eine breite Blutspur durchzog Ostanatolien: Sie betrieben buchstäblich eine Politik der verbrannten Erde: Hinter ihnen lagen Ruinen, lodernde Städte, Massengräber und ein Heer an verwaisten Kindern.

NEX24: Das sind in der Tat die Szenen, die im kollektiven Bewusstsein der Menschen in der Türkei und in Aserbaidschan verankert sind. Es ist so als, ob sich die armenische Gewalt in Karabach wiederholt. Warum konnten weder die Türken in Anatolien noch in Aserbaidschan ihre eigene Opferrolle in der armenischen Frage nicht ausreichend zur Sprache bringen? Wie kann diese Schieflage in der Darstellung der Ereignisse behoben werden und welche Hausaufgaben müssen die Türken in der Diaspora machen?

Prof. Selvi: Eigentlich hat die Türkische Republik nach dem Vertrag von Lausanne es vorgezogen mit dieser Angelegenheit abzuschließen, mit einem neuen Geist in die Zukunft zu blicken. In der Absicht sich außenpolitisch mit der internationalen Staatengemeinschaft zu integrieren hat sie den Weg des Friedens gewählt. Diese Denke gehört sogar zur Staatsdoktrin und wurde im Leitsatz von Staatsgründer Atatürk “Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt” treffenderweise zusammengefasst.

Kurzum, die junge Republik wollte alle Feindseligkeiten vergessen. Nach Lausanne hat allerdings die armenische Diaspora und die Armenische Republik in einem veröffentlichten Kommuniqué an die führenden europäischen Staaten erklärt “Ihr habt uns wieder im Stich gelassen, aber wir werden an unseren Ansprüchen in Ostanatolien festhalten.

„Ferner hielt der Westen, der die [armenische] Angelegenheit initiierte und konstruierte, das armenische Narrativ für immer glaubwürdig.“

Wir werden als Einheit arbeiten und die neuen Generationen mit diesem Bewusstsein erziehen und die Ereignisse von 1915 nicht in Vergessenheit geraten lassen. Als in den 1970er Jahren die Anschlagsserie der armenischen Terrororganisation ASALA gegen die Bürger der Türkischen Republik und deren Einrichtungen begannen, gab es in der Türkei ein Umdenken und man begann über das Thema zu forschen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Armenier Tausende von Büchern und Artikeln veröffentlicht und an jedem 24. April waren sie in den Städten in Europa und den USA in der Öffentlichkeit sehr effizient. Für die in der Diaspora lebenden fast vier Millionen Armenier ist die „Genozid-Psyche“ ein Existenzgrund, um nicht aufgelöst zu werden. Wenn dieser kleinste, identitätsstiftende gemeinsamer Nenner verschwinde, so ihre Ansicht, würden auch die Armenier in den Gesellschaften, in denen sie lebten, sich auflösen und sich assimilieren.

Ferner hielt der Westen, der die [armenische] Angelegenheit initiierte und konstruierte, das armenische Narrativ für immer glaubwürdig. Den Sachverhalt des Genozids haben zwischen 1890-1915 die für Europa und die USA als heilig geltenden Missionare sowie die als Führungspersönlichkeiten geltenden Diplomaten und Staatslenker aufgebaut. Aus diesem Grund wurden die Armenier in Europa und den USA schon immer als das Opfervolk angesehen.

Doch das sollte kein Hindernis darstellen, um die Wahrheit über die Ereignisse von 1915 vorzutragen. In den letzten 20 Jahren wurden zu diesem Thema sehr viele Dissertationen geschrieben und Bücher dazu veröffentlicht. Diese Arbeiten müssen der Weltöffentlichkeit zugängig gemacht werden.

In den letzten Jahren haben die beiden Staaten, die Türkei und Aserbaidschan, ihre Arbeiten in der Diaspora forciert. Der wichtigste Grund warum sie in dieser Frage bisher zurückgeblieben sind, besteht darin, dass sie im Besitze eines Staates sind und auf internationaler Ebene sich nicht mit anderen Völkern auseinandersetzen wollen. Jetzt haben sie viel Arbeit vor sich. Nach dem Vorbild der Griechen, der Armenier und der Juden sollten auch die Angehörigen der türkischen Diaspora Verbände gründen, und Aufklärungsarbeit in eigener Sache betreiben.

Wir befinden uns in einem Informationszeitalter und die Menschen haben verschiedene Möglichkeiten, um sich zu informieren. Wenn die Türken über sich nicht selbst erzählen, werden ihre Widersacher, wie vorher auch, sie weiter herabwürdigen und mit falschen Verdächtigungen fortfahren.

NEX24: Herr Professor Selvi, die armenische Diaspora bzw. ihre Lobbygruppierungen und die von ihnen bezahlten Historiker üben mit aller Macht Druck auf nationale Parlamente aus und versuchen so die Geschehnisse des Jahres 1915 zu politisieren. So beugte sich der Bundestag 2016 dem Einfluss der armenischen Lobbygruppierungen und bezeichnete in einem Bundestagsbeschluss die armenischen Verluste als Völkermord. Dem schloss sich letztes Jahr auch der US-Senat an. Wie bewerten sie als Wissenschaftler diese Entwicklung, in der sich Lobbygruppierungen und Politiker diesem Thema annehmen?

Prof. Selvi: Um ihre historischen Bestrebungen zu verwirklichen, versuchen griechische und armenische Lobbyorganisationen die Ereignisse zwischen 1915-1923 als ein gegen sie begangenen Genozid darzustellen. Um diesen Plan umzusetzen, müssen gewisse Etappen durchlaufen werden. Zunächst erkennen die politischen Institutionen der europäischen Staaten und der USA diese Ereignisse als Genozid an und diese Staaten üben dann gegenüber der Türkei politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druck aus, und sorgen dafür, dass sie [die Türkei] den vermeintlichen Völkermord anerkennt.

Nachdem die Türkei die Ereignisse als Genozid anerkannt hat, soll sie zur Zahlung von Schmerzensgeld an die Nachkommen der angeblich getöteten und zu Reparationszahlungen an die zuständigen Staaten verurteilt werden. Diese Verurteilung würde auf der anderen Seite ein Eingeständnis über die demografische Mehrheit der Armenier und Griechen in Ostanatolien und im Schwarzmeergebiet bedeuten. Im Endeffekt würde für die Gebietsansprüche eine rechtliche Grundlage geschaffen.

In der Tat haben bis heute weder Armenien noch Griechenland ihre Gebietsansprüche gegenüber der Türkei aufgegeben. Da allerdings die Beweise über die Ereignisse zwischen 1915-1923 zum angeblichen Genozid fehlen, wird versucht über Schulbücher, den Gesellschaften darüber das Bewusstsein zu vermitteln und über politische Institutionen die Türkei zu verurteilen. Wenn beide Staaten Beweise für ihre Anschuldigungen zum armenischen und pontischen Genozid hätten, müssten sie vor internationalen Gerichten Klage einreichen. Da sie aber diesen Weg nicht beschreiten können, versuchen sie es über die Parlamente und über die Überzeugung der Bevölkerung.

„Die türkischen Archive sind für alle geöffnet. Allerdings sind die armenischen Archive noch immer nicht für Forscher frei zugänglich. Die Archivdokumente belegen, dass es sich bei den Ereignissen von 1915 um keinen Genozid handelt. Die Welt sieht sozusagen darüber hinweg.“

NEX24: Wird denn auf diese Art und Weise die Geschichte nicht instrumentalisiert, um ein gewisses politisches Ziel zu erreichen?

Prof. Selvi: Was Armenier und Griechen bewerkstelligen ist weltweit beispiellos. Die Armenier, die zwischen 1890-1923 aus unterschiedlichen Gründen Anatolien verlassen haben, lebten mit den Türken in unmittelbarer Nachbarschaft und sie kannten sich wirklich gut. Sie wussten nur allzu gut, wie besonnen ihre türkischen Landsleute waren.

Aber die dritte Generation der armenischen Jugend in der Diaspora verknüpft mit einem “Türken” etwas sehr Negatives. Das ist der Propagandaarbeit der Daschnaken und Hunchaken an diesem Volk geschuldet. Solange ihnen, den Armeniern, niemand beisteht, würden sie weiter leiden. Geschichtsklitterung bringt den Völkern keine Freude, sondern stellt eher eine Belastung dar und ist mit Frustrationen verbunden.

NEX24: Recep Tayyip Erdogan forderte während seiner Amtszeit als Ministerpräsident der Türkei die Berufung einer vor Armeniern und Türken paritätisch besetzten Historikerkommission. Warum verweigert die armenische Seite die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte?

Prof. Selvi: Derartige Versuche hat es in den letzten 20 Jahren mehrfach gegeben. Die türkische Seite sowie Historiker und Politiker der armenischen Seite kamen zusammen, um über historische Ereignisse und insbesondere über die Vorfälle von 1915 zu sprechen. Der letzte Versuch zwischen Türken und Armeniern eine Friedensbande zu knüpfen und die Absicht die gemeinsame Vergangenheit aufzuarbeiten, wurde seitens der armenischen Komitees, die aus dem Genozid-Kommerz ihre Existenzberechtigung ableiten und von europäischen Politikern zunichtegemacht.

Die Föderation für Gerechtigkeit und Demokratie, die die in Europa lebenden Armenier bei den Institutionen der EU öffentlich repräsentiert, hat die zwischen Türken und Armeniern in Paris gegründete Türkisch-Armenische Organisation für Zusammenarbeit (FRAT) verurteilt und wiederholte, der Weg des Dialogs führe über die Anerkennung des Genozids von 1915 durch die Türkei.

Nach türkischer Auffassung sollten geschichtliche Ereignisse Historikern überlassen werden, was auch heute noch seine Gültigkeit hat. Dass armenische Historiker sich an einen Tisch setzen, war schon außergewöhnlich. Aber nach der dritten Zusammenkunft zogen sich die armenischen Historiker von den Gesprächen zurück, da auf sie ein sehr großer Druck ausgeübt wurde.

Die Diaspora-Organisationen befürchteten, dass alle ihre Bemühungen der letzten 100 Jahre für die Katz sein könnten. Nach ihrer Auffassung ist der Sachverhalt des “Armenischen Völkermords” in Frage gestellt worden, der durch die Weltöffentlichkeit akzeptiert wurde. Türkische und armenische Historiker diskutierten, ob das der Wahrheit entsprach und das war inakzeptabel.

Wegen dieser Herangehensweise stellen sich die Armenier entschieden gegen eine Diskussion von Historikern. Die türkischen Archive sind für alle geöffnet. Allerdings sind die armenischen Archive noch immer nicht für Forscher frei zugänglich. Die Archivdokumente belegen, dass es sich bei den Ereignissen von 1915 um keinen Genozid handelt. Die Welt sieht sozusagen darüber hinweg.

Das Interview führten Ferhat Avşar und Kemal Bölge

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