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Militäroffensive in Syrien
Kommentar: Warum wollen Türkei-Kritiker die Klagen der Christen in Nordsyrien nicht hören?

Seit sich die kurdische Volksverteidigungseinheit YPG während des syrischen Bürgerkrieges in weiten Teilen Nordsyriens entlang der türkischen Grenze festgesetzt hat, sieht die Türkei darin ein eklatantes Sicherheitsrisiko. Dieses Sicherheitsrisiko führte bereits in den 90er Jahren dazu, dass die Türkei gegenüber dem syrischen Staat zum Schluss militärische Gewalt androhte. Ein Kommentar.

(Archivfoto: tccb)
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Ein Gastkommentar von Nabi Yücel

Die seit 40 Jahren anhaltenden Angriffe auf die Türkei durch die Terrororganisation PKK und ihren diversen Dreibuchstaben-Ablegern zeigen, dass die alte Weisheit über die Kriegsführung nicht mehr gelten. War es noch Guerilla-Taktik, mit der die PKK den Kampf gegen die türkische Staatsmacht führte, ist es heute ein asymmetrischer Guerillakampf, der nicht nur in die Städte getragen, sondern auch an den Außengrenzen ausgefochten wird. Dennoch beharrt die Türkei weiterhin, den Konflikt im In- wie auch Ausland als „Operation“ gegen Terrororganisationen zu bezeichnen.

Seit sich die kurdischen Volksverteidigungseinheit YPG während des syrischen Bürgerkrieges in weiten Teilen Nordsyriens entlang der türkischen Grenze festgesetzt haben, sieht die Türkei darin ein eklatantes Sicherheitsrisiko. Dieses Sicherheitsrisiko führte bereits in den 90er Jahren dazu, dass die Türkei gegenüber dem syrischen Staat zum Schluss militärische Gewalt androhte. Damals, 1998, konnte unter Vermittlung Ägyptens und Russlands der damalige Regimeführer Hafiz al-Assad (Vater von Baschar al-Assad) dazu überredet werden, mit der Türkei das Abkommen von Adana zu unterzeichnen.

Das Ergebnis war, dass die Terroranschläge in den Folgejahren rapide abnahmen, der Anführer der Terrororganisation PKK, Abdullah Öcalan, aus Syrien hinausgewiesen wurde und schlussendlich in Kenia vom türkischen Nachrichtendienst MIT gefasst und in die Türkei überführt werden konnte. Die Türkei, USA und Europa stufen die PKK wie auch ihren syrischen Ableger YPG auch gegenwärtig als Terrororganisation ein.

Im Nordirak hat die Türkei bereits in Zusammenarbeit mit der irakischen Regierung und der Kurdischen Autonomiebehörde Nordirak ein stilles Übereinkommen erzielt, die vorsieht, dass türkische Streitkräfte im Grenzgebiet zum Nordirak gegen die Terrororganisation PKK operieren und kleinere militärische Stützpunkte unterhalten können.

Aus dem Dreiländereck Irak, Iran und Türkei heraus plante und führte die PKK die meisten Terroranschläge aus. Seit 2016 nehmen die Attacken aufgrund der Modernisierung der türkischen Sicherheitskräfte und der geschlossenen Grenzen immer weiter ab. Nun ist die Türkei aber auch dem Ableger der PKK an der gesamten Südgrenze ausgesetzt; ein Fanal.

Bisher hat die Türkei während des anhaltenden syrischen Bürgerkrieges drei militärische Operationen gegen die YPG wie auch den sogenannten Islamischen Staat IS geführt. Die türkische Militäroffensive in Nordsyrien 2016/17 begann am 24. August 2016 unter dem Operationsnamen „Schutzschild Euphrat“ und endete am 29. März 2017. Die zweite türkische Militäroffensive auf Afrin begann am 20. Januar 2018 unter dem Namen „Operation Olivenzweig“ und endete nach nur knapp 2 Monaten am 18. März 2018. Die dritte und gegenwärtige türkische Militäroffensive in Nordsyrien unter dem Operationsnamen „Friedensquelle“ begann offiziell am 9. Oktober 2019 und hält seitdem offiziell noch an, auch wenn ein Deal zwischen Washington und Ankara das weitere militärische Vorgehen zumindest bis Mittwoch pausiert hat.

Während die Türkei die derzeitige und vergangenen Operationen als Selbstverteidigung gegen eine terroristische Bedrohung und als völkerrechtskonform bezeichnet, wird der Angriff von Kritikern – meist Aktivisten die der YPG nahestehen oder andere politische Interessen verfolgen – als völkerrechtswidrig verurteilt. Die schärfsten Kritiker wollen gar, dass der amtierende türkische Staatspräsident aufgrund von mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Angriffskrieg vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen im niederländischen Den Haag zur Verantwortung gezogen wird.

Zunächst einmal ist der türkische Staatspräsident laut türkischer Verfassung nur die ausführende Exekutive bzw. die ausführende Gewalt. Die Entscheidung, eine militärische Operation oder ein Verteidigungsfall auszurufen, obliegt der Legislative, in dem Fall dem Parlament. Am 8. Oktober erteilte das türkische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit mit den Stimmen der AKP-, CHP-, MHP- und İYİ-Partei für ein weiteres Jahr ein Auslandsmandat zum Einsatz militärischer Streitkräfte. Das Parlament gab diesen Entschluss dann dem türkischen Staatspräsidenten bekannt, der das Mandat an das Militär weitergab. Wer im Fall einer utopischen Anklage vor dem IGH dann zur Verantwortung gezogen werden könnte, steht daher abschließend nicht fest.

Fest steht aber, dass die Weltgemeinschaft seit 1999 bis in die Gegenwart hinein eigentlich ständig ein Déjà-Vu-Erlebnis haben müsste, wenn es um Kriegsverbrechen bzw. Angriffskriege geht. Laut der juristischen Definition ist der Angriffskrieg das größte vorstellbare Kriegsverbrechen und der größte denkbare Verstoß gegen das Völkerrecht. Weitere Kriegsverbrechen, die von beiden Seiten der Parteien begangen werden, fallen als Kriegsschuld auf diesen Angreifer zurück bzw. sind ihm als Schuld anzurechnen.

Die USA haben in den letzten Jahrzehnten seit 1999 weltweit die meisten Angriffskriege vor unserer Nase geführt und damit die schwerstmöglichen Kriegsverbrechen und die schlimmsten Verletzungen des Völkerrechts begangen; wenn man denn die Argumentationsmuster der gegenwärtigen Kritiker aufgreift. In allen diesen Angriffskriegen war den USA und ihren Verbündeten der NATO oder der EU sehr wohl bewusst, dass der Angriff „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung hervorrufen würde. Egal wie die USA und ihre Verbündeten diese „Kollateralschäden“ auch versuchen zu erklären, es würde sich laut diesen kritischen Stimmen doch auch um vorsätzliches Töten handeln.

Die NATO und die EU wurden bislang und werden auch weiterhin von diesem US-amerikanischen Standpunkt, es handle sich um Selbstverteidigung oder eine Friedensmission, dominiert. Besonders im Irak-, Libyen-, Kosovo- und Afghanistankrieg. Auch im gegenwärtigen Jemen-Krieg wird das überaus deutlich, auch wenn es diesmal die USA nicht direkt betrifft. Indirekt betrifft es aber alle Staaten, die die Angreifer Saudi-Arabien oder VAE mit Waffen versorgen.

Daraus können wir schlussfolgern, dass die westlichen Kritiker und damit auch die Medien bei Fragen, die die geopolitischen Interessen des Hegemons USA entscheidend betreffen, einseitig im US-amerikanischen Sinn berichtet haben und auch weiterhin so berichten – und wenn es nur durch die richtige Themenauswahl und das passende Weglassen war – und in keiner Weise dem entsprach, was man von kritischem Journalismus erwarten würde. Die transatlantische Verflechtung der deutschen Medienvertreter wird hieran besonders deutlich, wenn es um die Berichterstattung über die gegenwärtige türkische Militäroperation geht.

Krieg setzt voraus, dass der Verteidigungsfall vorliegt. Nach türkischer Rechtsprechung wird der Verteidigungsfall erst dann ausgelöst, wenn das Land militärisch angegriffen wird.

„Militärisch“ bedeutet in dem Fall konkret, dass eine Streitmacht oder Streitkräfte, die von einer fremden Staatsmacht als Träger mit Kriegswaffen ausgestattet wurden, gegen die Türkei mit Gewaltanwendung vorgeht. Bei vereinzelten Terroranschlägen oder Terrorangriffen wird der Verteidigungsfall nicht ausgelöst, weil keine Staatsmacht dahintersteht.

Dennoch kann nach türkischer Verfassung ein Fall ausgelöst werden; dann, wenn die Attacken die Voraussetzungen für eine innen- bzw. außenpolitische Gefahrenlage erfüllen. Nach internationalem Recht herrscht formal in diesem Fall kein Krieg. Die Konventionen des Völkerbundes und der Vereinten Nationen definieren „Krieg“ als bewaffneten Konflikt zwischen Staaten, weshalb beim Auslösen einer innen- oder außenpolitischen Gefahrenlage „Krieg“ nicht zutreffen kann.

Auf der anderen Seite hat sich die klassische Deutung von „Krieg“ maßgeblich geändert. In Zeiten, in denen Bürgerkriege zwischen regulären Armeen und irregulären Guerillakräften immer mehr Bedeutung gewinnen, wird diese ständig neu bewertet. Der Terrorismus wird zu einer globalen Strategie, „ein vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf sich der Krieg aus einer Konfrontation professioneller Militärapparate in eine Abfolge von als Zivilisten getarnten Kämpfern an Zivilisten veranstalteten Massakern verwandelt hat“, wie es Politikwissenschaftler Herfried Münkler treffend bezeichnete. Diese „Massaker“ an der türkischen Bevölkerung, aber auch die Verbrechen der YPG in Nordsyrien, haben die türkische Gesellschaft in den letzten 9 Jahren aber entscheidend geprägt. Auf die 31 Jahre zuvor gehen wir erst gar nicht ein.

1916 beschrieb der Soziologe Max Weber, wie eine Gesellschaft sich im Kriegszustand verwandelt: „Der Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl.“ Das traf auf die USA am 9. November 2011 und bei den Terroranschlägen in Frankreich, Spanien oder Großbritannien im weitesten Sinn zu. In der Türkei trifft es in diesem Sinn alltäglich zu.

Die derzeit von Kritikern angeführte Debatte gegen die Türkei ist an Absurdität daher kaum noch zu überbieten, zumal das mit einem Schlag erledigt wäre, gäbe es vergleichbare häufige Terroranschläge in deutschen Großstädten wie Istanbul, Ankara, Gaziantep oder Diyarbakir. Die derzeit heftig geführte Kritik an der türkischen Operation „Friedensquelle“ wäre ohne den Luxus des Friedens in Deutschland oder Europa längst undenkbar. Daher sollte Deutschland und Europa dankbar sein, nicht seit 40 Jahren einem Terror der PKK ausgesetzt zu sein, die seit 2011 an der südlichen Außengrenze eine neue Terrorfront eröffnet hat.

Die Liste von Terroranschlägen in der Türkei sollte sich eigentlich für europäische Verhältnisse wie eine Lektüre über Terrorismus lesen: Seit Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges starben in der Türkei im Jahr…

2011 – 21 Menschen durch Terroranschläge der PKK
2012 – 61 Menschen durch Terroranschläge der PKK
2013 – 23 Menschen durch Terroranschläge der PKK
2014 – 19 Menschen durch Terroranschläge der PKK
2015 – 69 Menschen durch Terroranschläge der PKK
2016 – 298 Menschen durch Terroranschläge der PKK
2017 – 68 Menschen durch Terroranschläge der PKK
2018 – 27 Menschen durch Terroranschläge der PKK
2019 – 28 Menschen durch Terroranschläge der PKK

Allein 2011 bis 2018 wurden bei diesen Terroranschlägen der PKK über 2.100 Menschen zum Teil schwer verletzt, erlitten psychosomatische Störungen, sind für ihr Leben gezeichnet. Insgesamt wurden in dieser Zeit 49 Terroranschläge von der PKK bzw. ihren Ablegern verübt, wobei Attacken auf militärische Grenzposten und Gendarmerie-Einheiten in dieser Liste erst ab 2015 miterfasst sind. Laut der unabhängigen NGO „Crisis Group“ wurden zwischen Juli 2015 und Oktober 2019 bei Terroranschlägen und Terrorattacken der PKK und ihren Ablegern in der Türkei insgesamt 490 Zivilisten und 1.215 türkische Sicherheitskräfte getötet.

(Screenshot(Crisisgroup)

Jetzt wo diese Zahlen bekannt sind, es aber Vergleichbares nicht einmal ansatzweise in Deutschland oder Europa gibt, lehnen sich Kritiker aber dennoch sehr weit aus dem Fenster hinaus. Der Appell an die Türkei verfliegt daher, da die Gesellschaft in der Türkei die Bekämpfung der Terrororganisation PKK und ihren Ablegern im In- wie Ausland gefordert hat und das Parlament dieser Forderung nachkam.

Es ist in der Türkei kaum einem verständlich zu vermitteln, weshalb einer längst verinnerlichten Terrororganisation im grenznahen Gebiet eine Autonomie zugesprochen werden soll, wenn diese auch weiterhin zivilisatorische Errungenschaften wie Wasserversorgung, Autobahn, Linienbus oder Schulen in die Luft sprengen, Lehrer und Lehrerinnen, Bauarbeiter und Ingenieure aus dem Hinterhalt ermorden oder Kinder und Jugendliche entführen und zu Kämpferinnen dressieren.

Wenn sich die Kritiker der türkischen Militäroperation so weit hinauslehnen, weshalb hören oder wollen sie dann die Klagen der einheimischen Bevölkerung in Nordsyrien nicht wahrnehmen und übergehen sie geflissentlich? Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges erfasste u.a. die in Berlin ansässige NGO „KurdWatch„, die Menschenrechtsverbrechen des politischen syrischen Flügels der PKK, der PYD, ihrer Miliz YPG, dann der SDF in Nordsyrien bis September 2016. Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International wie auch Human Right Watch berichteten über die YPG bzw. SDF breit und tief über Vertreibungen, ethnische Säuberung sowie Mord und Totschlag an Oppositionellen.

Gegenwärtig melden sich aramäische wie assyrische Minderheiten in Nordsyrien wie auch in den USA, Schweden sowie Österreich in sozialen Netzwerken zu Wort und wollen erhört werden, doch nur im deutschsprachigen Onlinendienst Tagesspiegel wurde darüber ausführlich berichtet. In Zeitungen wurde darüber nur Lokal die negative Sicht dieser christlichen Minderheiten über die YPG bzw. SDF erneut zur Aussprache gebracht; eine Breitenwirkung erzielten diese Meldungen daher nicht.

(Screenshot/Afdonbladet)

Auch in der Politik scheint man sich über die Lage dieser christlichen Minderheit im sogenannten „Rojava“ kaum auszukennen und wenn bekannt geworden, wird es geflissentlich übergangen.

Nur der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu betonte jüngst ausdrücklich in der US-amerikanischen Zeitung New York Times, in welcher prekären Lage sich die christlichen Minderheiten in Nordsyrien unter der Herrschaft der YPG befinden würden.

Die christlichen Minderheiten der Aramäer und Assyrer bedankten sich für diese kurze Erwähnung in der New York Times. Eigentlich ein Schlag ins Gesicht derer, die sich den Menschenrechten verpflichtet haben und derzeit eine Terrororganisation verherrlichen.

(Screensjhot)

Mit Sotschi-Memorandum haben Syrien und Russland Legalität der türkischen Offensive unterstrichen.

Noch ein Schlag ins Gesicht derer, die jetzt vor vollendeten Tatsachen stehen! Die militärische Offensive der Türkei auf syrischem Territorium ist nicht völkerrechtswidrig, da er in Einklang mit dem Abkommen von Adana mit der damaligen syrischen Regierung immer noch besteht.

Mit dem Sotschi-Memorandum vom Dienstag, hat nicht nur die Türkei, sondern auch Syrien sowie Russland das Abkommen bestätigt und damit die Legalität der Operation unterstrichen.


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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