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Kommentar: Cenk Sahin hat sein Gebet nicht dem türkischen Präsidenten gewidmet

St. Pauli-Trainer Jos Luhukay hat den Türken Cenk Sahin für das Testspiel gegen Werder Bremen nach dessen Äußerungen zur türkischen Militäroffensive in Syrien aus dem Kader gestrichen.

(Foto: Screenshot/Instagram/cenksahin67)
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Ein Gastkommentar von Nabi Yücel

Erst Fakten, dann die Moral VII.

St. Pauli! Wehrt euch!

St. Pauli-Trainer Jos Luhukay hat den Türken Cenk Sahin für das Testspiel gegen Werder Bremen nach dessen Äußerungen zur türkischen Militäroffensive in Syrien aus dem Kader gestrichen. Sahin hatte zuvor in Instagram angegeben, an der Seite der türkischen Parlamentsarmee zu stehen und für sie zu beten: „Wir sind an der Seite unseres heldenhaften Militärs und der Armeen. Unsere Gebete sind mit euch!“

Sahin kam in der Saison 2017/2018 zum Zweitligisten St. Pauli, war seither im Kader dabei. Nun, nach dem Instagram-Post und der St. Pauli-Ultras, die in einen Sturm der Entrüstung verfielen und dann den Rauswurf forderten, reagierte Jos Luhukay und nahm den Türken aus dem Kader.

Nun, eigentlich sollte Beten eine Selbstverständlichkeit sein. Die Sektenimamin Seyran Ates fordert das ja auch lautstark, dass sie in ihrem Sinne öffentlich beten darf und von „Islamisten“ und „Dschihadisten“ nicht bedrängt und mit dem Tode bedroht wird. Die armenische oder jüdische Gemeinde in der Türkei betet auch für die türkische Armee und deren Wohl. Die gesamte Türkei betet eigentlich für die türkische Armee, damit sie den „Frieden“ sichern und erhalten; das machen sie mit einer Selbstverständlichkeit, das ist wohl bis hierher nicht durchgedrungen.

Die ehemalige EKD-Vorsitzende Margot Käßmann sagte 2011 sinngemäß, beten für die Taliban sei besser als bombardieren.

Ein Ende des internationalen Militäreinsatzes in Afghanistan sei nur mit Unterstützung der Taliban möglich. Sie wurde dafür nicht gekreuzigt. Der ehemalige Verteidigungsminister de Maizière entgegnete lediglich bei einer Pressekonferenz auf dem evangelischen Kirchentag in Dresden, er halte aber auch Gebete für die radikalislamischen Taliban für sinnvoll: „Das Beten für Täter und Opfer – für Opfer gleich welcher Nation – ist gut und richtig. Insoweit ist auch ein Gebet für die Taliban nötig und sinnvoll.“

Für den ehemaligen Verteidigungsminister Guttenberg war und ist es als Katholik eine Selbstverständlichkeit, die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan in seine Gebete einzubeziehen: „Für mich als gläubiger Christ ist das eine Selbstverständlichkeit.“ Womöglich betet er gerade jetzt für die Bundeswehrsoldaten in Mali?

2013 richtete Bundeskanzlerin Angela Merkel sichtlich berührt das Vaterunser, sagte anschließend zu den deutschen Soldaten: „Wir haben derer gedacht, die hier ihr Leben lassen mussten. Dabei ist mir wieder bewusst geworden, dass Sie ihren Dienst unter großen Risiken leisten. Dafür möchte ich Ihnen heute danken.“

Nur Sahin darf oder soll nicht für eine Parlamentsarmee beten! Ich erinnere daran, dass der deutsche Klerus zusammen mit der Bundeswehr, Politikern und Personen des öffentlichen Lebens ständig und jedes Jahr irgendwelche Bittgebete öffentlich zur Schau stellt, ohne dass ein Raunen durch die Ultra-Ränge von St. Pauli zu vernehmen wäre.

Sahin hat sein Gebet nicht dem türkischen Präsidenten oder dem Verteidigungsminister gewidmet, sondern der türkischen Parlamentsarmee im sozialen Netzwerk Instagram. Die türkische Parlamentsarmee erhält sein Mandat zum Auslandseinsatz nicht vom Präsidenten, sondern vom Parlament. Das hatte das Mandat zuvor mit einer großen Mehrheit abgesegnet.

Jetzt wurde Sahin abgestraft, er ist nicht mehr im Kader. Für die Ultras von St. Pauli ist das nicht genug. Er soll hinausgeworfen werden. Soll man ihn noch teeren, ihn danach federn und vierteilen?

Das passierte nur wenige Tage nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Halle. Am Dienstag, am Tag des höchsten jüdischen Feiertags, hatte ein Angreifer eine 40-jährige Frau vor der jüdischen Synagoge erschossen, dann versucht die Eingangstür zu zerschießen und in die überfüllte Synagoge einzudringen.

Als das nicht gelang, erschoss dieser in einem nahe gelegenen Döner-Imbiss einen 20 Jahre alten Mann aus Merseburg. Auf der Flucht verletzte der Täter dann eine 40 Jahre alte Frau und deren 41 Jahre alten Mann mit Schüssen. Der Täter hat ein rechtsextremes und antisemitisches Motiv inzwischen eingeräumt.

In diesem Zusammenhang fängt vielleicht das Problem bereits viel früher an! Erst ist es ein Reflex, dann eine Meinung, die kommt schließlich zum Ausdruck und irgendwann wird es ein Manifest, das sogar vollzogen wird. Was der Täter in Halle am Dienstag mit Gewalt durchgesetzt hat, haben Ultras von St. Pauli heute quasi begonnen: Ausgrenzung!

Der Täter von Halle hatte sich wohl eingeredet, dass die „Juden“, „Muslime“ und „Ausländer“ ausgegrenzt, ausgeschafft gehören. Die Ultras reden sich ein, dass die türkische Armee in Nordsyrien Bockmist veranstaltet und daher aus der NATO, EU, Weltgemeinschaft, Milchstraße, Universum ausgeschlossen gehört. Verzeihung, aber ist es wirklich so schwer zu verstehen, dass die Verwicklung eines Landes in einen Kampf, in eine Auseinandersetzung mit terroristischem Hintergrund, für Menschen aus diesem Land das alles beherrschende Thema ist? Was wollt ihr machen? Maulkorb aufsetzen?

In Halle blieb es aber nicht nur bei Worten; der Täter setzte es mit Gewalt auch um und grenzte die Menschen, ihre Ideologie, Herkunft und Religion, im wahrsten Sinne des Wortes, aus seinem Leben und aus dem in seinem Kopf gebildeten Deutschland aus.

Er missachtete dabei in eklatanter Weise mehrfach das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Die Ultras hebeln derzeit überschwänglich nur Artikel 3 auf.

Die Ultras von St. Pauli sind nicht die einzigen, die meinen, jemanden aufgrund seiner gegensätzlichen Meinung, Haltung oder Stellung auszugrenzen und dabei die ja ach so selbstverständlich gewordenen Artikel des Grundgesetzes in Frage zu stellen. Es war sogar die Führung von St. Pauli, die dem die Krone aufsetzte. So etwas beginnt bereits im Kindergarten, in der Schule, im Berufsleben, im Staatsapparat und zuletzt auch in der Politik.

Politische Ausgrenzung erleben viele. Ich grenze es mal auf Deutsche mit Migrationshintergrund in den Parteien ein. Jeder der auch nur im entferntesten eine andere Meinung, Haltung oder Stellung zu einem Thema vertrat – derzeit vertritt keiner mehr etwas -, hat mit sofortiger Ausgrenzung zu rechnen. Das begann schon ziemlich früh und hat bis heute mehr als ein Dutzend von Politikern die Karriere gekostet, obwohl sie sich für alle Menschen stark gemacht, ihre Sorgen angehört, sie umzusetzen versucht haben.

Das ehemalige Mitglied des Deutschen Bundestages, Hakki Keskin, war wohl der erste, der aufgrund seiner eigenen Meinung und Haltung als Türkischstämmiger, Ausgrenzung erfuhr. Er wurde 2007 wegen seiner Haltung zur Armenier- und Berg-Karabach-Frage ausgegrenzt. Schließlich beendete er seine politische Karriere aufgrund der Anfeindungen und Ausgrenzungserfahrung..

Gegenwärtig kann sich kein türkischstämmiger Deutscher erlauben, im Beruf, in den sozialen Medien oder in der Politik auch nur Piep zu sagen, das der Mehrheitsgesellschaft nicht passt.

Sie haben Angst, ausgeschlossen, ausgegrenzt, dafür abgestraft zu werden.

Gerade eben werden jene, die sich doch dazu bekennen, türkischstämmige Passanten in Berlin, Osnabrück, Hannover oder Berlin, von demonstrierenden Sympathisanten der Gegner der türkischen Militäroffensive, angespuckt, bedroht oder tätlich angegriffen

In den nächsten Stunden oder Tagen werden wir im Live-Ticker noch weitere Übergriffe mitverfolgen können, z.B. wie Moscheen niederbrennen, Dönerbuden oder Läden angegriffen werden; selbstverständlich im Namen der Meinungsfreiheit.

Dafür sind nicht nur Politiker wie Cem Özdemir oder Sevim Dagdelen mitverantwortlich, sondern auch Kritiker wie die Sektenanführerin Seyran Ates oder Hamed Abdel-Samad sowie AfD, NPD und Linke. Sie etablieren eine politische Meinung und Haltung, die von der Mehrheitsgesellschaft nicht nur getragen, sondern verinnerlicht und ausgelebt wird. Alle, die Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben, wurden mit Labeln angefeindet, die es in sich haben.

So wurde Keskin als „Nationalist“ oder „Faschist“ beschimpft. Cenk Sahin macht gerade dieselbe Erfahrung. Will man das in sozialen Netzwerken hinterfragen, heißt es reflexartig, St. Pauli-Spieler könnten sich ja auch nicht für die „AfD“ oder „Faschismus“ bekennen. Ja, als Argument gegen einen Türken, Juden oder Muslimen die AfD- oder sogar NSU-Karte zu ziehen, ist schon eine Kunst für sich, das passt wie die Faust aufs Auge.

Bereits 2000 musste Enver Şimşek die Rechnung für die „Ausgrenzung“ bezahlen. 2018 waren Mesut Özil und Ilkay Gündogan davon betroffen. Am vergangenen Dienstag traf es die Synagoge, einen Dönerladen, eine 40-jährige Frau, einen 20 Jahre alten Mann aus Merseburg und zwei weitere Menschen. Heute ist es Cenk Sahin. Und wer ist morgen dran?


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


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