Holocaust-Gedenktag
    Professor Günther fordert Gedenktag für alle Opfer von Völkermorden

    "Der Angelpunkt für diese Entwicklung ist die bewusst fehlgeleitete Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Einzigartige des Holocaust war, dass jetzt mitten in Europa geschah, was früher von Europa außerhalb Europas praktiziert wurde." Ein Kommentar.

    Prof. Dr. Günther bei einem Vortag an der juristischen Fakultät der Zhongnan Universität in Changsha
    Teilen

    Von Prof. Dr. Hans-Christian Günther 

    Der Tag der Befreiung von Auschwitz, der 27.1., wurde 1996 in Deutschland zum gesetzlich verankerten Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum Gedenktag an den Holocaust. Die USA begehen ihre Remembrance Days in Anlehnung an den Gedenktag Israels am 27. Nisan, dem 7. Monat des jüdischen Kalenders, Österreich hat seit 1997 den 5. Mai, die Befreiung des KZs Mauthausen zum Gedenktag erklärt.

    Es ist gut, dass wir in Deutschland diesen Gedenktag haben, die deutsche Gedenkkultur – so fragwürdig sie ist – hat uns bislang davor bewahrt, ganz so rassistisch zu werden wie andere große und kleine europäische Länder. Es ist auch gut, dass die Vereinten Nationen einen solchen Gedenktag haben; ich befürchte freilich, das ist bei weitem nicht genug, unsere Geschichte zu bewältigen, und die Weise, wie dieser Gedenktag begangen wird ist seiner Bedeutung in keiner Weise angemessen.

    Zwar hat die Bundeskanzlerin schon am Vortag, dem 26.1. diesen Jahres, davon geredet, dass der Holocaust zeige, was Rassismus und Hass anrichten. Allerdings beschränkt sich die Politik deutscher Regierungen darauf, peinlich darauf zu achten, nur immer nett zu Juden zu sein. Und das heißt dann auch, den Rassismus, den Hass, die Gewalt Israels zu unterstützen und noch so zu tun, als ob Antisemitismus das größte Problem unserer Gesellschaft sei, wobei es eher Islamophobie und steigender Rassismus allgemein ist; in diesem Kontext steht der tatsächlich existente Antisemitismus (wo es Rassismus gibt, sind Juden immer auch betroffen), der nachweislich der rechten Szene zuzuordnen ist. Muslimischer Antisemitismus, von dem die faschistoiden Islamhasser und Israellobbyisten sprechen, ist nachweislich kaum der Rede wert.

    Das Gedenken an den Holocaust hat nur Sinn, wenn die Gräuel der Judenvernichtung als Apex des europäischen Rassismus gewürdigt werden, der sich jederzeit, in anderer Form wiederholen kann, so wie der Auschwitzüberlebende Primo Levi in einen Interview gesagt hat: ,Auschwitz kann und wiederholt sich in anderer Form immer wieder: immer dort, wo es heißt, es gibt Leute mit Rechten und solche ohne Rechte, dort IST das Lager.‘
    Weil Europa das vergisst, ertrinken immer mehr Flüchtlinge im Mittelmeer, leben Flüchtlinge in Lagern in Griechenland, wo Kinder an Selbstmord denken, ist in Italien eine Bestie der beliebteste Politiker.

    Selbst Deutschland monopolisiert das Leid der Opfer des Rassismus auf Juden. Seiner kolonialen Vergangenheit, dem Völkermord in Namibia stellt es sich nicht. Es ertrilt dagegen der Türkei Lektionen. Warum nicht Australien, das am Tag, an dem Frau Merkel über den Holocaust sprach, seinen Völkermord an 90% der Aborigines als Nationalfeiertag begeht? Und das – konsequenterweise – auch heute Flüchtlinge ins KZ sperrt, so dass jeder anständige Australier sich schämt: ein leuchtendes Vorbild für manche in Europa.

    Warum nicht den Briten, die diesen Völkermord und zahlreiche andere begangen haben, warum nicht den Amerikanern und Kanadiern für ihren Völkermord an den Indianern, warum nicht den Spaniern? Wie wäre es, wenn der Bundestag den Völkermord an den Aborigines oder den Indianern anerkennen würde?
    Und wenn die Amerikaner einen Gedenktag für ihre glorreiche Befreiung Europas von den judenmordenden Nazis begehen, warum gedenken Amerikaner, Kanadier nicht der Tatsache, dass sie verfolgten Juden Asyl verweigerten?

    Österreich hat sich verdientstlicherweise seiner Verantwortung gestellt, Komplize der Nazis, nicht Opfer gewesen zu sein. Wann tut Italien das? Wann wird den Italienern klar, das Italien Juden in die Vernichtungslager transportiert hat? Dass italienische Truppen dieselben abscheulichen Verbrechen auf dem Balkan begangen hat wie Deutschland? Dass man wehrlose Äthiopier vergast hat, weil italienische Soldaten noch nicht einmal primitiv bewaffnete Afrikaner besiegen können? Wann verliert der Ort Badoglio seinen Namen? Bisher gibt es den Gedenktag von der Befreiung vom Faschismus. So denken Italiener immer noch, sie waren schon immer Antifaschisten, wo sie doch noch heute Faschisten und Rassisten sind. Sie haben nämlich den Faschismus erfunden.

    Ein Holocaustgedenktag täte auch den Ungarn gut: sie könnten sich darauf besinnen, dass das faschistische Horthyregime von Anfang an antisemitisch war und später Handlanger des Holocaust. Dann würde vielleicht auffallen, dass das Orbanregime vielleicht besser Petöfistatuen niederreißen und Horthydenkmäler aufstellen ließe. Lukacs hat man schon beseitigt und durch den heiligen Stephanus ersetzt.

    Vor allem aber ist es eine unerträgliche Schieflage, dass es international, soweit ich weiß, nur einen Gedenktag an Naziopfer gibt. Die Briten und Franzosen haben sich ihrer kolonialen Vergangenheit bis heute nicht gestellt. Ihre Verbrechen spannen Jahrhunderte und gingen und gehen nach dem zweiten Weltkrieg bis heute weiter. Skandalös ist es auch, dass es einen Holocaustgedenktag der UNO gibt, aber auch von Seiten der UNO keinen für die Aborigines, die Indianer, die von den Briten ermordeten Iren, Inder, Afrikaner, von den Franzosen ermordeten Algerier, von den Amerikanern ermordeten Indianern, versklavten Afrikanern, ermordeten Vietnamesen etc. etc. Angesichts unserer blutigen und nie aufgearbeiteten Geschichte kämen wir, wie man sieht, aus den Gedenktagen nicht mehr heraus, wenn wir ehrlich wären.

    Weil wir es nicht sind, wurde und wird das Morden weltweit nach dem Holocaust fortgesetzt. Die UNO, die internationale Staatengemeinschaft sieht dem auch heute zu: den Völkermord Israels an den Palästinensern, Chinas an den Uighuren, der Saudis und des Westens im Jemen, Myanmars an den Rohingyas. Mehr als nette Worte gibt es nicht. Denn es ist immer noch so: nur weißes und inzwischen auch jüdisches Leben zählt, anderes nicht.

    Nun wird gewiss mancher den Einwand machen: Völker- und Massenmord ist nicht mehr eine Spezialität der weißen Rasse. Gerade die Beispiele, die ich eben genannt habe, betreffen Israel, China, Saudi Arabien, Myanmar. Es gibt andere in Afrika. Es ist eine Verhöhnung jüdischen Leids, dass Juden den Kolonialismus übernommen haben und heute die Opfer des Holocaust dazu missbrauchen, sich wie die Nazis zu gebärden. Auch in der Dritten Welt ist der Massenmord heute ein Erbe des Kolonialismus. Die postkolonialen Systeme sind Systeme der alten kolonialen Eliten, die den längst obsoleten europäischen Chauvinismus in an Europa sich orientierenden Staaten übernahmen.

    Zum Teil kamen noch die willkürlichen, keiner natürlich gewachsenen Staatlichkeit entsprechenden Grenzen dazu. Der Massenmord Chinas geht – nicht auf den Marxismus – auf die stalinistische Entartung des Marxismus zurück. Dass das chinesische Regime etwas mit traditionellen chinesischen Werten oder gar Konfuzius zu tun habe, ist eine perfide Propaganda, die kein Chinese, sondern allenfalls verblödete, von China gekaufte Sinologen glauben. Die Ideologie der kommunistischen Partei ist marxistisch-leninistisch. Massenmord und Gleichschaltung haben mit Konfuzius so wenig zu tun wie die amerikanischen Vernichtungsfeldzüge mit der Bergpredigt.

    Ebenso war der Kolonialismus der japanischen Militärs nur die Anwendung des europäischen auf Asien: Asien den Asiaten hieß: Ersatz des europäischen Kolonialismus in Asien durch asiatischen.
    Summa summarum: die Menschheit hat nicht nur nichts aus ihrer blutigen Vergangenheit gelernt (wer würde das auch ernsthaft erwarten), sie setzt die Verbrechen der Vergangenheit in immer größerem Stil fort. Und zwar überall: der Westen setzt schamlos die Verbrechen des Kolonialismus fort, Israel pervertierte jüdische Identität zum Spiegel der Nazis, China versucht, den Westen an Perfidie zu überbieten, Muslime zerfleischen sich gegenseitig und verraten ihre Schwestern und Brüder an China, an den Westen, ja sogar an Israel.

    Der Angelpunkt für diese Entwicklung ist eben die bewusst fehlgeleitete Erinnerungskultur nach dem zweiten Weltkrieg. Das Einzigartige des Holocaust war, dass jetzt mitten in Europa geschah, was früher von Europa außerhalb Europas praktiziert wurde. Dies hätte Europa die Augen für den Wahnsinn des Rassismus und seine verbrecherische Vergangenheit öffnen müssen. Stattdessen hat man den Zionisten erlaubt, das Leid der Opfer des Rassismus zu monopolisieren und zum Anlass für einen verspäteten Kolonialismus zu instrumentalisieren.

    Das kam ja auch den Interessen der immer noch kolonialen Sieger entgegen (auch die Sowjetunion, entschiedener Sponsor der Gründung Israels, war ein kolonialer Flächenstaat): man konnte weitermachen wie bisher. Und so macht man auch heute so weiter. Und neue Akteure sind dazugekommen. Die Welt heute ist unmenschlicher und verbrecherischer denn je. Die Heuchelei, die Verlogenheit und Bequemlichkeit aller mächtigen Akteure ist widerwärtiger denn je. Die Welt war nie ein besonders einladender Platz. Schlimmer als heute war sie nie.


    Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


    Prof. Dr. Hans-Christian Günther

    Geb. am 28.4.1957 in Müllheim / Baden

    Professor für klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität. Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung und Verantwortung

    Seit 2004 Tätigkeit im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen mit zahlreichen Veröffentlichungen.

    Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung und Verantwortung Seit 2004 Tätigkeit im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen mit zahlreichen Veröffentlichungen.

    Ausgebildet in Freiburg und Oxford. Stipendiat der DFG und der Alexander von Humboldt -Stiftung. Gerhard Hess Preis der DFG.

    Zahlreiche Publikationen (ca. 40 Bücher, u.a. Brill’s Companion to Propertius, Brill’s Companion to Horace) im Bereich der antiken Philosophie und Literatur, der Byzantinistik, Neogräzistik, modernen Literatur und Philosophie, Ethik und Politik. Zahlreiche Versübersetzungen aus dem Lateinischen, Italienischen, Neugriechischen, Georgischen, Japanischen und Chinesischen.

    Lehrt regelmäßig in Italien, zahlreiche Gastaufenthalte in der Schweiz, Polen, Georgien, Indonesien, Iran, Seoul, Tokyo und vielen chinesischen Universitäten. Herausgeber mehrerer Buchreihen, im wissenschaftlichen Beirat zahlreicher wissenschaftlichen Zeitschriften.