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Islam in Deutschland
Prof. Dr. Günther zu „Säkularer Islam“: Der Islam bedarf keiner Aufklärung

"Säkular heißt - im strengen Sinne - religionsneutral. Ein säkularer Islam ist somit ein religionsneutraler Islam: genial! Eine religionsneutrale Religion, eine Religion die allen Religionen, also vor allem sich selbst, neutral gegenübersteht." Ein Kommentar.

(Symbolfoto: pixa)
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Von Prof. Dr. Hans-Christian Günther

Im Vorfeld der vierten Deutschen Islamkonferenz

Der „Neustart“ der vierten Deutschen Islamkonferenz steht heute an. Dass es ein wirklicher Neustart wird, ,,praxisnah, flexibel und themenoffen“, wer könnte es bezweifeln? Wird sie doch von einem deutschen Innenminister ausgerichtet, der für unsere deutsche Heimat so unentbehrlich ist, dass er trotz Wahldesaster und einer Petition zurückzutreten mit eiserner Überzeugung von seiner Unabkömmlichkeit am Sessel klebt.

Und wirklich, unser Innenminister ist ein Segen für die mehr oder weniger artikulierten Geräusche, die der besorgten Mehrheitsgesellschaft aus den Untiefen des deutschen Islam entgegenschallen.

Da tritt ein ganzer Vorstand eines Landesverbandes der DITIB zurück. Ein Diplom-Ingenieur mit Migrationshintergrund, der gut lateinamerikanisch tanzt (genau die richtigen Qualifikationen, um den integrierten Islam in Deutschland zu vertreten) und der gerade wegen des Cs Mitglied der CDU ist, fordert stattdessen einen deutschen Islam auf hohem wissenschaftlichen Niveau. Ergo: Salsakurse als neuer Bestandteil des Curriculums deutscher Imamausbildung.

Und wirklich, damit wäre schon eine wichtige Forderung des neuesten Coups anlässlich dieses Neuanfangs mehr als erfüllt: Ein Islam mit ,,sexueller Selbstbestimmung“. Genau das gehört nämlich zu der Kernforderung der neuesten Initiative aus dem breiten Spektrum des deutschen Islam mit Migrationshintergrund, der ausnahmsweise mal nicht von Erdogan gesteuert ist.

Säkularer Islam

Es gibt inzwischen eine brillante Idee, den deutschen Islam zur fortschrittlichsten und modernsten Religion der Welt zu machen: Es gibt die Initiative „Säkularer Islam„. Entsprungen ist sie – zumindest wesentlich – dem Hirn eines kaum seines Parteivorsitzes enthobenen, zum „Elder Statesman“ mutierten Beispiel, wie europäische Integration zu einer geistigen Weite und Überlegenheit führen kann. Sie reicht von den Höhen des Kaukasus bis in die Niederungen der schwäbischen Provinz – und das, ohne diese Weite je erwandert zu haben, nein: Per Geburtstag war sie einfach da. Und eine echt säkulare Ehe hat sie auch bis in die Ferne lateinamerikanischer, Salsa beschwingter Lebensart getragen.

Was für ein Glück, dass dieses Meisterstück gerade jetzt, wo ein ihr gewachsener Innenminister am Sessel klebt, geglückt ist. Er wird – das lehrt ein Blick in seine Biografie – sexuelle Selbstbestimmung mit C getragener Religiosität zu vereinen wissen. Mehr noch: Sein subtiles Denkvermögen, das zu so feinsinnigen Differenzierungen fähig ist wie: Der Islam gehört nicht zu Deutschland, Muslime aber schon. Er wird die volle Sinngeladenheit einer dialektischen Junktur, wie säkularer Islam, gewiss begreifen.

Säkular heißt – im strengen Sinne – religionsneutral. Ein säkularer Islam ist somit ein religionsneutraler Islam: genial! Eine religionsneutrale Religion, die damit allen Religionen, vor allem sich selbst, neutral gegenübersteht. Das ist die ultimative Religion aufgeklärten Denkens: Eine Religion, die den Einzelnen jeder Verpflichtung gegenüber einer Religion enthebt – ihr gegenüber neutral ist -, aber immer noch sich als Religion bezeichnet. Das bedeutet, irgendwie so etwas wie Gott als Wellnessmehrwert beibehält.

Also konkret: Wenn’s im Leben mal nicht so gut läuft, dann kann man es ja auch mal mit ’nem Gebet versuchen. Schaden kann’s nicht – ganz neutral betrachtet. Also: Selbstbestimmung, Aufklärung und im Notfall – der liebe Kuschelgott. Da sind wir tatsächlich beim Religionsverständnis der europäischen Mehrheitsgesellschaft.

Es so präzise und schlagend für den Islam zu formulieren, verdanken wir den Gehirnen der oben erwähnten Petition von Wissenschaftlern und Publizisten, die sich durch ein durch und durch gereiftes und wissenschaftlich fundiertes Islamverständnis und eine aus tiefster Seele gelebten Religiosität auszeichnen. Tatsächlich ist in dieser Liste nur eine Person, die – bislang – m. W. keinerlei Universitätsabschluss hat. Heutzutage ein wirklich bemerkenswert geringer Prozentsatz unter Expertenlisten. Der Rest scheint einen zu haben, nur – oh Gott! Keiner hat einen Abschluss in Islamwissenschaft, von wegen hat einer eine Ausbildung zum islamischen Rechtsgelehrten an irgendeiner anerkannten islamischen Hochschule.

Aber das ist es ja gerade, was man braucht, da wird, denke ich, auch unser Innenminister zustimmen: Vertreter des Islam, die nicht vom Islamismus oder radikalen Islam verdorben sind. Imame, die einfach mal Frauen sind, und sich ihr Studium des Islam wo auch immer angeeignet haben. Solch einer Kolonne von Vertretern einer religionsneutralen Religion kann man getrost die Führungsrolle bei der Einbürgerung des Islam in Deutschland geben: Das ist Islam, in dem zuerst Grundgesetz und Menschenrechte studiert werden, danach kann man dann ja mal sehen, wo das zufällig mit Quran und Sunna übereinstimmt. Irgendwas findet man bestimmt.

Und wieder: Da ist unser Innenminister mit dem großen C der ideale Mann. Er ist doch auch Heimatminister, und genau dem menschenrechts- und grundgesetzkonformen Islam, ja dem wollen doch die Grünen eine Heimat in Deutschland geben. Man sieht: Die geistige Weite grüner Gehirne reicht inzwischen bis zur CSU. Die Frage ist allerdings, ob sie bis zu den deutschen Muslimen reicht.

Die Muslime und Christen in Deutschland

Gewiss ist es – ganz im Gegensatz zu dem von den Medien verbreiteten Bild – so, dass deutsche Muslime insgesamt weit davon entfernt sind, extremistisch oder fanatisch zu sein. Ja, zu einem guten Teil sehen sie ihre Religion eher locker. Denn den Türken, der auch mal ein Bier trinkt, den dürfte man hierzulande noch häufiger finden als in der Türkei. Allerdings nimmt die Mehrzahl der Muslime ihre Religion doch immer noch ernst. Die Reduktion der Religion auf spirituelle Wellness ist und bleibt eine Errungenschaft des europäischen „Christentums“.
Und genau deshalb kann man im christlichen Theologiestudium auf Salsa- oder Grundgesetzkurse verzichten: Ob Katholiken in ihrer Theorie grundgesetzkonform sind (e.g. Frauenordination, Abtreibung, Pille danach für Vergewaltigungsopfer in katholischen – wiewohl staatlich finanzierten! – Krankenhäusern, Homosexualität u.ä.) oder der Mehrheitsgesellschaft entgegenkommen (Sterbehilfe) kann man auf sich beruhen lassen. Sie sind zu gut ins Establishment integriert, um ihre Forderung allzu lautstark zu erheben. Man drückt sie zum Teil über den Einfluss aufs politische Establishment ohnehin zu einem guten Teil hintenrum durch. Katholische Slums wie Neukölln gibt es m. W. nicht, und die paar katholischen Hooligans, die Frauen vor Abtreibungskliniken belästigen, die können unsere Medien ignorieren.

Und die Evangelen? Nun, die lassen sich, ohne mit der Wimper zu zucken, auf ihrem Kirchentag selbst Obamas Drohnenmorde schmackhaft machen. Also die sind wirklich radikal religionsneutral. Bei denen hapert es auch nicht mit sexueller Selbstbestimmung, und bei den Katholen auch nur in der Theorie: schon mal ’nen nicht voll selbstbestimmten katholischen Italiener getroffen? Und katholische Priester? Nun ja, man muss vielleicht jetzt nicht gleich alles ausdiskutieren.

Der säkulare Staat und die Aufklärung

Nun, um zum (modernen) Islam und der Anwendung des Begriffes „säkular“ auf den Islam in Deutschland zurückzukommen! Säkular ist nicht nur auf Religion angewendet eine Absurdität, säkular ist auch dort, wo das Wort hingehört, zum Staat, eine schamlose Lüge. Wo hat es den im Bereich der christlichen Kultur denn je gegeben? Ist Deutschland säkular, also religionsneutral? Wenn es das wäre, warum sind dann neulich erst die Grünen darauf gekommen, dem Islam gleiche Rechte wie der christlichen Kirche anzubieten?

Und das auch nur, wenn Muslime haargenau so werden, wie der deutsche Staat das will. Sollten nicht in einem säkularen Staat alle Religionen ohnehin gleich sein? Und mal ganz abgesehen davon, dass Bischöfe, Priester, kirchliche Krankenhäuser staatlich finanziert sind (nicht aus Kirchensteuern): Unser Staat behauptet doch selbst, er sei auf christlich-jüdische Werte gegründet. Ist das religionsneutral?

Na ja, es gibt Leute, die sagen, Säkularisation ist eine Errungenschaft des Christentums. Nur, dass man leider erst nach dem Zweiten Weltkrieg gemerkt hat: Christliche Werte allein genügen nicht, um Juden davor zu schützen, neutral behandelt zu werden. Also schnell noch die Juden ins Boot! Na ja, wenn man genügend Muslime ermordet hat, darf der Rest vielleicht auch eines Tages rein.

Ja, der säkulare Staat ist eine Forderung der Aufklärung. Aufklärung ist tatsächlich etwas, was es stricto sensu nur im Bereich der christlichen Kultur gibt. Aufklärung heißt nach Kant: Befreiung des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit. Dabei fällt der Akzent auf die Religion. Warum? Weil die dem Menschen verbietet, sich auf seine Vernunft zu verlassen. Das ist ein Spezialproblem des Christentums: Da hat man versucht, versuchen müssen, griechische Vernunft einer mit ihr inkompatiblen Religion überzustülpen.

Der Gegensatz „Glaube – Vernunft“ prägt das christliche Religionsverständnis. Die Aufklärung war ein Versuch der Krisenbewältigung – freilich ein gründlich gescheiterter. Man setzte, verständlicherweise, die griechische, mithin europäische Vernunft absolut. Damit wurde man noch nicht einmal der Situation in Europa gerecht. Und so blieb das Kind der Aufklärung, der säkulare Staat, eine hybride Perversion, wie der von griechischer Vernunft überformte Glaube: Ein christlicher Staat – das war ja die Mehrheitsreligion -, der beanspruchte, Juden – das war die einzige nennenswerte Minderheit – anzuerkennen, sie in Wirklichkeit aber weiter diskriminierte und am Ende versuchte, sie auszurotten.

Und noch dazu: Für andere Kulturen konnte die verabsolutierte europäische Vernunft noch weniger Verständnis aufbringen als die europäische christliche Kultur: Den Völkermord an den Indianern und der indigenen Bevölkerung Australiens begingen aufgeklärte Europäer. Kant war nicht nebenbei Rassist: Nein, Aufklärung als Absolutsetzung der europäischen Vernunft ist Rassismus, der radikalste Rassismus, den es je gegeben hat.

Die Religion der Menschenrechte und des Grundgesetzes

Und da sind wir haarscharf an dem Punkt, wo unser heutiger, sich auf die Aufklärung berufender Staat, intolerant und totalitär wird. Man verabsolutiert die Werte des pseudoreligionsneutralen und pseudorationalen Staates (vernunftgesteuert heißt das im Jargon). Man übersieht dabei, dass eben die moderne europäische Vernunft, Werte nicht universell rational begründen kann. Das ist eine ihr inhärente Banalität.

Die „westlichen“ Menschenrechte sind noch nicht einmal für die westliche Gesellschaft beweisbar, für andere Kulturen mit anderen Konzepten des Denkens – die weder rational im europäischen Sinne noch irrational, sondern einfach anders sind -, sind sie es noch weniger. Das heißt überhaupt nicht, dass Menschenrechte irrelevant sind, irrelevant sind ihre westlichen theoretische Grundlagen und deren Arroganz: Sieht man sich die Menschenrechtserklärungen anderer Kulturen an, sieht man unschwer, dass weitgehend Einigkeit herrscht. Wo sie nicht herrscht, gebieten Toleranz und gesunder Menschenverstand, Differenzen zu akzeptieren und zu diskutieren.

Ebenso ist das Grundgesetz keineswegs schlecht oder irrelevant. Es ist gerade deshalb so wichtig und auch eine tragende Grundlage unseres Staates, dem sich konform zu verhalten, jeder Religion leicht fällt, weil das Grundgesetz eben genau das garantiert, was seine heutigen islamophoben Apologeten nicht sehen: Das Grundgesetz garantiert, dass gerade auch derjenige seine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung leben darf, der nicht mit allen Werten des Grundgesetzes übereinstimmt, solange er auf Gewalt verzichtet und die Gesetze einhält.

Die Rede davon, auch Muslime müssten sich an das Grundgesetz „halten“, offenbart eine grundlegende Unkenntnis dessen, was eine Verfassung eines freiheitlichen Staates ist: Die Werte der Verfassung binden den Staat. Sie räumen dem Bürger Rechte ein, die der Staat nicht verletzen darf. Selbstverständlich gehen diese Werte auch in das Strafrecht und das Bürgerliche Gesetzbuch ein. Diese Gesetze zu befolgen, ist Pflicht jeden Bürgers, es ist eben nicht seine Pflicht, an alle Werte des Grundgesetzes zu glauben. Das Grundgesetz ist keine Religion. Das ist es, was unsere Verfassung dazu geeignet macht, unseren pluralistischen Staat zu tragen. Deutsche Muslime, ihre Verbände haben sich immer zu diesem Grundgesetz bekannt. Kein Muslim hat damit ein Problem. Das Prekariat vom Neukölln repräsentiert nicht den Islam.

Aufklärung im Islam?

In der Aufklärung hat das perverse Modell der gescheiterten Verschmelzung der griechischen Vernunft und der christlichen Religion die Notbremse gezogen, und ist damit gründlich gescheitert. Aufklärung, entstanden aus den spezifischen Bedingungen der Antithese „Glaube – Vernunft“ , ist für andere Kulturen und Religionen irrelevant. Was Vernunft bzw. Denken bedeutet, ist hingegen in jeder Kultur allererst zu verstehen und dann mit dem europäischen Konzept der Vernunft in einen sinnvollen Dialog zu bringen.

Der Islam ist eine Schwesterreligion des Christentums. Hier das Verbindende und Trennende zu sehen, ist nicht schwer. Der Islam bedarf keiner Aufklärung, da es dort einen Gegensatz „Glaube – Vernunft“ nicht gibt. Der Islam fordert die Entwicklung des „kindlichen“ Glaubens durch unermüdliches Lernen zum „wissenden Glauben“. Die Vernunft ist letzter Maßstab des Glaubens. Sie kann das sein, weil sie eine andere Vernunft ist als die westliche.

Die westliche Vernunft ist die zweifelnde, die skeptische Vernunft. Die islamische Vernunft ist die in der Offenbarung Gottes gegründete „glaubende“ Vernunft. Vernunft und Freiheit des Menschen sind allein bezogen auf die göttliche Offenbarung. Sie sind Ausfluss des göttlichen Willens, dem Menschen im in seiner Freiheit angelegten Kampf zwischen Gut und Böse, den Weg zum Guten zu weisen. Vernunft ist erkennende Annahme der Offenbarung und des göttlichen Willens. Als solche ist Vernunft im Islam ohnehin Richtschnur des Glaubens. Aufklärung ist in einer solchen Religion ein sinnentleerter Begriff.

Ich möchte und kann das hier nicht weiter ausführen. Denn ich bin kein islamischer Rechtsgelehrter. Des unverschämten Dilettantismus derer, die glauben ohne geeignete Ausbildung anderen ihr Islamverständnis aufdrücken zu wollen, werde ich mich enthalten.

Allerdings für das, was ich zum Christentum, Europa und Aufklärung gesagt habe, bin ich – in aller Bescheidenheit – der Experte und lasse mir keine Lehren erteilen. Zum Islam dagegen bin ich mehr als willig und erpicht, mich von denjenigen weiter belehren zu lassen, die die Qualifikation dazu besitzen. Ich habe das Glück, solche Personen zu kennen und ich werde auch in Zukunft andere kennenlernen. Ich habe erlebt, dass es da auch im Chor des etablierten Islam eine Vielzahl von Stimmen gibt, eine uniforme Deutungshoheit sehe ich nicht. Jeder, der den Islam kennt, könnte solch eine Ansicht auch nur als Absurdität ansehen.

Was tun?

Nun, ich habe eines unterschlagen: Den „liberalen“ Islam, den gab es schon längst, auch vor dem schwäbischen neuesten Einfall. Der war auch schon immer dabei. So reagierte eine ihrer Hauptvertreterinnen auch einigermaßen verschnupft, als ihr da mit dem säkularen Islam noch eine neue Strömung vor die Nase gesetzt wurde, die behauptete, zum ersten Mal zu tun, was etwa der Liberal-Islamische Bund (LIB) schon immer zu tun beanspruchte.

Die Anwendung des Begriffes „liberal“ auf religiöse Bewegungen, hat eine lange Tradition; selbst im Islam geht das bis ins 19. Jh. zurück. Sie findet ihre Entsprechung natürlich im Judentum und Christentum. Wenn der Begriff somit auch sanktioniert ist, unglücklich ist er trotzdem. Man spricht auch eher von Reformjudentum, dadurch wird ziemlich unmittelbar klar, worum es geht. Die Bewegung im 19. Jh. Methoden der historisch-kritischen Textexegese auf die Heilige Schrift anzuwenden, ist mit liberal völlig unzutreffend bezeichnet.
Noch katastrophaler ist es von moderatem vs. radikalem Islam zu sprechen. Entradikalisierung ist geradezu ein Zauberwort: Inhalt und Erfolg gleich null. Es mag einen moderaten und radikalen Sozialismus geben: moderat bedeutet, man nimmt nur einen Teil, den Teil des Sozialismus an, den man für opportun erachtet. Es kann nie einen moderaten Islam oder ein moderates Christentum geben. Islam oder Christentum fordern totale, d. h. radikale Unterordnung unter den göttlichen Willen.
Diese selbstverständliche Radikalität hat freilich nichts mit Fanatismus oder Extremismus zu tun; Gottes Wille ist Frieden und Harmonie, nur: Er ist nicht Bequemlichkeit und Beliebigkeit. Er fordert den Einzelnen radikal und ganz. Die Offenbarung des göttlichen Willens freilich kann niemals eindeutig sein; denn seine Offenbarung ist die Offenbarung einer zeitlosen Wahrheit an den an Zeit und Ort gebundenen Menschen in dessen unvollkommener, den unvollkommenen Fähigkeiten des Menschen entsprechenden Sprache.
Der Gehorsam gegenüber der göttlichen Offenbarung ist damit zuallererst ein Anspruch an den Menschen, diese Offenbarung hier und jetzt immer wieder zum Menschen sprechen zu lassen. Dieser Anspruch richtet sich im letzten an jeden Einzelnen: Er allein muss sich und sein Verständnis am Ende vor Gott rechtfertigen und keinem anderen. Dennoch erfährt er auf dem Weg zu seinem Verständnis Hilfe von denen, die ihr Leben dem Verständnis der göttlichen Offenbarung gewidmet haben.
Ich denke, die Mehrzahl der Muslime kann diejenigen, die dazu befugt sind, leicht selbst von den Rattenfängern unterscheiden, die nicht wissen, dass ihr Fliegengehirn nicht ausreicht, die Welt zu verbessern. Nur auf eines möchte ich verweisen: Es gibt – jenseits der Wichte, die sich als der moderne Islam aufspielen – durchaus ernsthafte und wichtige islamische Reformtheologen: Es gab und gibt sie auch in Nordafrika oder dem Iran. Imam Khoumeini war ein großer Reformtheologe, der gerade auch der – angeblich säkularen – islamischen Philosophie des Arabischen Mittelalters, etwa dem „Rationalisten“ Ibn Rushd wieder einen wichtigen Platz gegeben hat.
Soeben hat ein großer tunesischer Islamwissenschaftler, Abdelmajid Charfi, zum ersten Mal eine textkritische Neuausgabe des Heiligen Quran vorgelegt, wo eben das für den Quran geleistet wird, was kritisch-historische Philologie für die Bibel leistet. Es ist ein Werk jahrelanger, geduldiger Arbeit. Ebenso ist es der in Arbeit befindliche historische Kommentar zum Quran von Frau Prof. Neuwirth aus Berlin. Das sind Werke, die auf Jahrzehnte das Verständnis des Quran befruchten werden und Bestand haben werden. Sie dürften mehr Sprengstoff enthalten als das Gequassel der halbgebildeten Aufklärer. Also nichts für quasselnde Islamkonferenzen!
Aber natürlich gibt es in Europa, auch in Deutschland, ernsthafte islamische Reformtheologen, die viel zur Situation des Islam in der europäischen Gesellschaft zu sagen haben. In Deutschland etwa Herr Karimi, oder in Europa Tariq Ramadan. Nur, der wird zu keiner Islamkonferenz eingeladen. Er wird in einem politischen Prozess in Untersuchungshaft fast zu Tode gefoltert, während andere desselben Verbrechens Angeklagte auf freiem Fuß sind, bis man seine Gesundheit und seinen Ruf soweit ruiniert hat, dass man den immer offenkundiger als Farce inszenierten Prozess wohl bald beenden kann. Aliquid sempre haeret (Irgendetwas bleibt immer hängen): eine oft praktizierte Methode.

Was ist das Fazit für Muslime in Europa?

Muslim, „radikaler“ Muslim in Europa, in der Welt heute zu sein, ist schwer. Muslime werden diffamiert, gequält und ermordet. Dennoch wird derjenige, der sich redlich bemüht, seine Religion, so gut er kann und es weiß, zu leben versucht, besser mit seinem Leben zurechtkommen, als wenn er es nicht täte.

Islamkonferenzen kommen und gehen, Leute kleben am Sessel, Schwätzer quasseln. Das sind Vogelschisse der Geschichte. Am besten man ignoriert sie. Es mag manchem Leser aufgefallen sein, dass ich keine der beteiligten Personen beim Namen genannt habe. Mit den Namen von sog. Islamkritikern, in Wahrheit Islamdiffamierern, beschmutze ich meinen Mund nicht. Genau das empfehle ich Muslimen: einfach ignorieren! Am wenigsten: sich zu Beschimpfungen herablassen! Damit delegitimiert man sich, gibt den Schwätzern eine Pseudolegitimation. Schon mein Artikel hier ist jedes Wort zu viel. Wenn er andere davon abhält, noch mehr Worte zu machen, hat er wenigstens etwas Sinnvolles erreicht!


Dieser Kommentar gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht zwingenderweise den Standpunkt von nex24 dar.


Prof. Dr. Hans-Christian Günther

Geb. am 28.4.1957 in Müllheim / Baden

Professor für klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität. Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung und Verantwortung

Seit 2004 Tätigkeit im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen mit zahlreichen Veröffentlichungen.

Zahlreiche Publikationen und Gastprofessoren. Lange Aufenthalte in der VR China. Im Bereich der Altertumswissenschaft besonderer Schwerpunkt auf der politischen Dichtung der Augusteer und allgemein der Reflexion antiker Autoren auf ihre gesellschaftliche Stellung und Verantwortung Seit 2004 Tätigkeit im Bereich des Dialogs der Religionen und Kulturen mit zahlreichen Veröffentlichungen.

Ausgebildet in Freiburg und Oxford. Stipendiat der DFG und der Alexander von Humboldt -Stiftung. Gerhard Hess Preis der DFG.

Zahlreiche Publikationen (ca. 40 Bücher, u.a. Brill’s Companion to Propertius, Brill’s Companion to Horace) im Bereich der antiken Philosophie und Literatur, der Byzantinistik, Neogräzistik, modernen Literatur und Philosophie, Ethik und Politik. Zahlreiche Versübersetzungen aus dem Lateinischen, Italienischen, Neugriechischen, Georgischen, Japanischen und Chinesischen.

Lehrt regelmäßig in Italien, zahlreiche Gastaufenthalte in der Schweiz, Polen, Georgien, Indonesien, Iran, Seoul, Tokyo und vielen chinesischen Universitäten. Herausgeber mehrerer Buchreihen, im wissenschaftlichen Beirat zahlreicher wissenschaftlichen Zeitschriften.